You ask, are all my dreams fulfilled?

Als Rilla sich nach einem langen, ehrlichen Gespräch von ihrem Vater verabschiedete, schob die Abendsonne bereits ihre roten Strahlen über den Horizont. Sie wartete am Gartentor, bis Gilbert hinter der Wegbiegung verschwunden war, ging dann langsam, nachdenklich zurück zur Haustür.

Im Haus war es still und dämmrig. Rilla versuchte ihr Glück mit dem Lichtschalter, aber sie hatten offenbar immer noch keinen Strom. Gilbert hatte erwähnt, dass auf halbem Weg nach Glen die Stromleitung, die Four Winds versorgte, durch den Sturm gerissen war. Es würde wohl noch ein paar Tage dauern, bis man dazu kam, sie zu reparieren.

Also griff Rilla sich eine der Kerosinlampen von der Anrichte und machte sich daran, sie anzuzünden. Sie war darin nie sehr geschickt gewesen und es brauchte vier abgebrochene Streichhölzer und zwei angesengte Finger, bis sie endlich ein Licht erzeugt hatte. Sie trug die Lampe vor sich her ins Wohnzimmer und war nicht wirklich überrascht, Ken dort schlafend auf dem Sofa vorzufinden.

Die letzte Nacht war schon für sie kurz gewesen, da wollte sie gar nicht wissen, wie wenig er geschlafen hatte. Er mochte noch so sehr versichern, dass es eine gute Nacht gewesen war, die dunklen Schatten unter seinen Augen straften der Worte Lügen. Auch Jem musste eine sehr unruhige Nacht verbracht haben, wie Gilbert ihr erzählt hatte, also war das vielleicht etwas, das alle Rückkehrer gemeinsam hatten.

Vorsichtig stellte Rilla die Lampe auf dem Beistelltisch ab und setzte sich auf die Sofakante neben Ken. Er schlief insgesamt weniger als sie, ging nach ihr zu Bett und wachte im Morgengrauen auf, wobei sie nicht wusste, ob das in seiner Natur lag oder die Armee es ihm eingetrichtert hatte. Sie hatte ihn daher erst einmal schlafend gesehen, in dieser einen Nacht, in dem sie ihn aus seinem Alptraum geweckt hatte. Wie damals war sie auch jetzt wieder überrascht davon, wie jung er im Schlaf aussah. Verrückt, zu denken, dass sie ihm das Kommando über tausend Männer gegeben hatten, obwohl er doch jetzt noch den Zwanzig näher war als den Dreißig.

Sie betrachtete ihn mehrere Minuten, versuchte, sein Gesicht in ihr Gedächtnis einzubrennen, so wie er jetzt war. Irgendwann streckte sie eine Hand aus, berührte vorsichtig sein Gesicht, zog die Konturen und Linien nach, die es prägten. Seine Augenlider flatterten, öffneten sich schließlich, aber obwohl sie befürchtet hatte, er würde sie erschrecken, blieb er ganz ruhig. Vielleicht hatte auch er gemerkt, dass nur sie es war, die ihn beobachtete.

„Na, hast du mit Gilbert gesprochen?", fragte er statt einer Begrüßung, die Stimme noch kratzig vom Schlaf.

Rilla nickte. „Da du mich ja im Stich gelassen hast, blieb mir kaum etwas anderes übrig", schalt sie ihn, aber es lag keine Entschiedenheit hinter ihren Worten. Überhaupt fühlte sie sich merkwürdig schwerelos, fast losgelöst von den Dingen, seit dem Gespräch mit ihrem Vater – oder genauer, seit er endlich das so sehr ersehnte Angebot gemacht hatte.

„Tut mir Leid", erwiderte Ken, klang aber ebenfalls nicht so, als ob er es wirklich meinte. Er machte eine Bewegung, als wolle er nach ihrer Hand greifen, aber Rilla zog sie im letzten Moment aus seiner Reichweite, faltete beide Hände im Schoß. Wenn er es bemerkte, so kommentierte er es nicht. Stattdessen stemmte er sich hoch, so dass er mit dem Rücken gegen die Armlehne zum Sitzen kam.

Kurz suchte Ken nach Worten, bevor er fortfuhr: „Ich weiß, dass du nicht mit Gilbert reden wolltest. Und nichts liegt mir ferner, als dir meine Meinung aufdrücken zu wollen. Aber ich finde, wenn du mit ihm brechen willst, solltest du zumindest vorher alle Informationen haben. Und dafür war es nötig, dass du ihm die Chance gibst, sich zu erklären. Du kannst jetzt immer noch entscheiden, ihm nicht zu verzeihen, aber jetzt weißt du zumindest, was ihn dazu bewegt hat, zu tun, was er getan hat."

Rilla nickte abwesend, aber ihre Gedanken waren anderswo. Sie wollte nicht über das Gespräch mit Gilbert reden – jetzt noch nicht. Es gab andere Dinge, die sie vorher wissen musste.

„Du möchtest nicht darüber reden, oder?", erkannte Ken, aber er sagte es ohne Vorwurf, „na gut, dann reden wir über etwas anderes: Ich habe über deine Idee nachgedacht. Mit der Politik."

Fragend hob Rilla eine Augenbraue, um ihm zu bedeuten, dass sie ihm zuhörte und er weitersprechen sollte. Ken tat wie sie ihm hieß: „Ich glaube… du könntest da tatsächlich auf etwas gestoßen sein. Keine Ahnung, ob ich ein guter Politiker wäre, aber ich würde es zumindest gerne versuchen."

„Natürlich wärst du gut", entgegnete Rilla, die Stimme tonlos. Dabei meinte sie es durchaus ernst. Ken würde einen exzellenten Politiker abgeben – er war charmant und redegewandt genug, um Wähler von sich zu überzeugen und trotzdem so klug und einfühlsam, um nach der Wahl gute Arbeit leisten zu können. Wer, wenn nicht er, war zum Politiker bestimmt?

Ken nickte kurz, um ihre Zustimmung anzuerkennen. Dann fuhr er fort: „Aber du weißt auch, was das heißt, oder? Ich liebe dieses Fleckchen Erde – das ist mir in den vergangenen Wochen klarer geworden denn je. Ich weiß, dass alle glauben, wir wären wegen dir hier geblieben, aber ich habe diese Ruhe vielleicht noch mehr gebraucht als du. Toronto ist meine Heimat, aber ich hätte es vermutlich noch nicht ertragen. Aber so schön dieser Ort ist – man kann von hier nicht die Welt verändern."

„Du willst zurückgehen. Nach Toronto", stellte Rilla fest. Es überraschte sie nicht. Sie fürchtete diese Nachricht seit Wochen, eigentlich seit Jahren. Toronto war ihr ein ferner, nicht näher definierbarer Schrecken. Sie wusste nicht, ob sie dort würde leben können.

„Auf die Dauer wird es Ottawa sein müssen oder möglicherweise irgendwann sogar London", gab Ken achselzuckend zurück, „aber für den Anfang ist Toronto so gut wie jede andere Stadt. Also ja, Toronto."

Er musterte sie kurz, fügte dann hinzu: „Du musst das gewusst haben. Es war immer klar, dass wir nicht ewig hierbleiben können. Wir verstecken uns, Rilla, aber das geht immer nur eine so lange Zeit."

„Ich wusste, dass du über kurz oder lang zurückgehen würdest", bestätigte sie, der Tonfall fast emotionslos. Das Flackern in seinen Augen, als er den Singular ihrer Aussage bemerkte, entging ihr nicht.

„Es ist kein so schrecklicher Ort wie du es dir vorstellst. Es ist… es ist mehr, in jeder Hinsicht. Lauter, dichter, voller. Aber es hat auch seine guten Seiten. Die Stille hier draußen kann wunderbar sein, aber es ist auch manchmal einsam. In Toronto kann man viel mehr unternehmen, mehr Menschen treffen, hat mehr Möglichkeiten. Du wirst sehen, es wird dir gefallen", setzte Ken hinzu. Er verengte die Augen und betrachtete sie nachdenklich.

Rilla wendete den Blick ab. „Ja, vielleicht", wich sie aus.

Sie bemerkte, dass er noch etwas sagen wollte, vielleicht die Frage, was mit ihr los war, aber darauf wollte – konnte – sie nicht antworten, deswegen beeilte sie sich, ihm Zuvor zu kommen.

„Ken", begann sie also, ohne auf das vorherige Thema weiter einzugehen, „wo denkst du, wären wir heute, wenn der Krieg nie geschehen wäre?" Sie hatte langsam gesprochen, bedächtig und sehr ernst.

Er begriff sofort, dass ihr diese etwas merkwürdige Frage offenbar wichtig war, denn bevor er antwortete, dachte er einige Sekunden nach, eine Falte zwischen den Augenbrauen eingegraben. „Ich glaube, du wärst mit Carl verheiratet. Er hätte sich nicht ewig Zeit gelassen, dich zu gewinnen", entgegnete er dann, „und ich wäre vermutlich noch weitere fünf oder zehn Jahre Junggeselle und würde dann ein Mädchen aus Toronto heiraten. Vielleicht würde ich manchmal hierhin zurückkommen und dich ansehen und bedauern, dass ausgerechnet Carl Meredith mir zuvor gekommen ist."

Das letzte war mit einem Grinsen gesagt, wohl um die Atmosphäre aufzulockern, die plötzlich sehr dicht geworden war, aber Rilla erwiderte es nicht. Sie saß nur da, sehr gerade, die Hände fest verschränkt, den Blick nachdenklich. „Das hieße, wir wären nicht unbedingt für einander bestimmt gewesen", stellte sie dann fest.

Ken zuckte mit den Schultern. „Oder vielleicht heißt es genau das. Und alles, was passiert ist, musste passieren, weil wir sonst nicht zusammen gekommen wären", wandte er ein.

„Wären wir nicht", gab Rilla zurück und wusste selbst nicht, ob es Frage oder Feststellung war.

Seufzend richtete Ken sich noch weiter auf, zog die Beine an und schwang sie an ihr vorbei vom Sofa, so dass sie nun nebeneinander saßen. Er hatte die merkwürdige Stimmung, in der sie sich befand, offenbar aufgegriffen und bereitete sich auf ein ernsthaftes Gespräch vor.

„Ich weiß nicht, was gewesen wäre, Rilla", bemerkte er dann, „niemand weiß das. Vielleicht hätten wir auch so geheiratet, ohne den Krieg, ohne unsere Nacht in Quebec. Vielleicht wären wir im hohen Alter gestorben, ohne jemals eine einzige längere Unterhaltung miteinander geführt zu haben. Das kann ich dir nicht sagen. Aber – es ist gekommen, wie es gekommen ist. Wieso ist es dir so wichtig, zu wissen, was hätte passieren können?"

Aufmerksam sah er sie an, aber Rilla drehte sich von ihm weg, damit er ihr Gesicht nicht sehen und daraus etwas erkennen konnte, von dem sie nicht wollte, dass er es sah.

„Was ist so schwer daran zu verstehen, dass ich gerne erfahren möchte, ob wir mehr gemeinsamen haben als einen großen Fehler?", fragte sie heftig.

Auf Kens Stirn erschien eine steile Falte. Er verstand offenbar nicht, was ihr Verhalten ausgelöst hatte. „Herr im Himmel, worüber hast du mit deinem Vater geredet?", murmelte er ungehalten.

„Das ist meine Sache", fauchte Rilla zurück, warf ihm über die Schulter einen kurzen Blick zu. Als sie sah, dass er sie beobachtete, drehte sie sich schnell wieder weg.

„Wenn es der Grund ist, warum wir uns streiten, würde ich schon denken, dass es auch meine Sache ist", erwiderte Ken, jetzt um Ruhe bemüht, „ich verstehe dich nämlich nicht."

Frustriert stieß Rilla einen Atemzug aus. „Ich…", begann sie, aber ihr fehlten die Worte. Hilflos brach sie ab.

Ken beugte sich vor, griff sie an den Schultern und drehte sie vorsichtig zu sich um. „Was ist los?", fragte er, eindringlich, aber nicht unfreundlich.

Unruhig huschten Rillas Augen hin und her, aber er wartete regungslos ab, bis sie ihn schließlich doch ansah. „Wenn du zurückgehen und die Nacht in Quebec ungeschehen machen könntest – würdest du?", fragte sie, die Stimme jetzt sehr leise, fast brüchig.

Seine Hände fielen von ihren Schultern und er ließ sich zurück gegen die Sofalehne sinken. „Gott, Rilla…", murmelte er und rieb sich mit den Händen durch das Gesicht. Als er wieder hochsah, bemerkte er ihrem Blick, unsicher, aber stetig.

„Was soll ich dazu sagen?", fragte Ken, ein wenig hilflos, „wenn wir uns damals nicht getroffen hätten, wäre alles anders gekommen. Und durch das, was wir getan haben, haben wir einer ganzen Reihe Menschen Sorge und Schmerz bereitet, hauptsächlich einander. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich nicht bereue, was geschehen ist. Aber das heißt doch nicht, dass dadurch alles, was wir jetzt haben, in Frage gestellt ist."

„Würdest du es aufgeben? Wenn du könntest?", hakte Rilla sofort nach. Ihr vorheriger Ausbruch war jetzt äußerlich einer kühlen, fast emotionslosen Ruhe gewichen. In ihrem Inneren aber brodelte es.

Ken zuckte mit den Schultern. „Die Frage stellt sich nicht. Ich würde dich nicht im Stich lassen. Das habe ich dir versprochen und das halte ich", antwortete er.

„Wie nobel", entgegnete Rilla, nicht ohne einen gewissen Zynismus, „aber danach habe ich nicht gefragt. Wenn du jetzt sofort aus dieser Tür gehen und all das hier hinter dir lassen könntest, ohne Konsequenzen, ohne Verpflichtungen, ohne schlechtes Gewissen – würdest du?"

Lange sah Ken sie an. Studierte ihr Gesicht, sah hinab auf seinen Ring an ihrer Hand, den sie unbewusst um den Finger zu drehen begonnen hatte. Dann, langsam, aber entschieden, schüttelte er den Kopf. „Nein", erwiderte er mit fester Stimme.

Rilla spürte plötzlich ein Gefühl der Enge in der Brust. Sie wollte etwas sagen, musste aber feststellen, dass sie nicht konnte. Sämtliche Worte hatten sie mit einem Mal verlassen.

„Ich werde nicht so tun, als hätte ich mich in Quebec unsterblich in dich verliebt", fuhr Kenn stattdessen fort, „ich glaube, ich habe die Idee von dir geliebt. Du warst – bist, so unberührt vom Übel dieser Welt. Ein – ein Licht, wenn du so willst. Etwas, zu dem ich zurückkommen konnte. Und das Versprechen, das dieser Krieg nicht die ganze Welt verdorben hat."

„Ein Symbol", flüsterte Rilla, deren Stimme zu mehr nicht fähig war.

Ken nickte. „Ja, ein Symbol. Etwas, an das ich mich festhalten konnte, wenn nichts mehr Sinn gemacht hat", stimmte er zu, „ich kannte dich doch kaum – ich kannte die Frau nicht, die sich hinter der Idee verbarg. Ich habe damals nicht dich geliebt, höchstens das, wofür du in meinen Augen standst. Frieden, Heimat… eine Zukunft."

„Und jetzt?", brachte Rilla hervor. Sie hatte einen Kloß im Hals, der ihr das Sprechen fast unmöglich war.

„In den letzten Wochen durfte ich dich kennen lernen. Dich, mit deinen Eigenheiten und Macken und Träumen und Wünschen und all den Dingen, die dich menschlich machen. Du hast eine Art, die Welt zu sehen, die mich immer wieder verblüfft. Du bist einer der nachtragendsten Menschen, die ich kenne, aber gleichzeitig du bist auch unfraglich loyal. Erinnerst du dich an gestern? Ich habe gesagt, ich muss an meinem Problem mit Donner arbeiten und du hast erwidert, dass wir das tun werden. So bist du. Und es ist verdammt noch mal nicht immer einfach mit dir, aber ich vermute, mit mir auch nicht. Und, seien wir ehrlich – wie langweilig wäre einfach?", er endete mit einem kleinen, fragenden Lächeln.

Rilla jedoch blieb ernst. „Das heißt – es ist nicht mehr nur die Idee? Das Symbol?", vergewisserte sie sich.

Bevor er antwortete, beugte Ken sich wieder vor, nahm ihre kalten Hände in seine. Er lächelte jetzt. „Fragst du mich, ob ich dich liebe?", wollte er wissen, „ist es das?"

Schweigend zuckte Rilla mit den Schultern, nickte dann ganz leicht. Es war ihr selbst nicht klar gewesen, bis er es ausgesprochen hatte, aber vermutlich hatte er Recht. Vermutlich fragte sie ihn genau danach.

„Ja, ich liebe dich. Dich, genau so wie du bist", antwortete er und es klang wie ein Versprechen. Er ließ eine ihrer Hände los, strich ich eine Haarsträhne aus der Stirn und lehnte sich dann vor, um sie zu küssen.

Rilla wich ihm aus.

Stirnrunzelnd zog Ken sich zurück. Verwirrung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und ja, auch Schmerz. „Was ist los?", fragte er erneut, „wenn das wegen Toronto ist – wir finden da eine Lösung. Du schaust es dir an und wenn du dort nicht leben kannst, dann kommen wir zurück. Ich kann hier auch arbeiten. Es wird eben in kleinerem Rahmen werden, aber vielleicht ist das ohnehin realistischer. Zur Not werde ich eben Fischer. Ich mag das Meer, wenn es nicht gerade stürmt und…"

„Es ist nicht wegen Toronto", unterbrach Rilla ihn tonlos. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie wagte nicht, sich zu rühren.

„Was ist es dann?", wollte Ken wissen. Sie hasste den Ausdruck auf seinem Gesicht, aber sie musste ihm die Wahrheit sagen.

„Mein Vater hat mir angeboten, unsere Ehe doch annullieren zu lassen", gestand sie leise.

Ken wurde vollkommen still.

„Wow", flüsterte er, „das ist… wow. Das ist natürlich etwas. Gott."

Rilla hob an, etwas zu sagen, aber er brachte sie mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen. „In Ordnung. Ich verstehe das. Das ist das, was du von Anfang an gewollt hast. Du musst keine Angst haben, ich werde dir da nicht im Weg stehen", versicherte er rasch, „ich habe dir gesagt, dass ich bereue, was passiert ist, aber nur, weil ich bereue, wie es passiert ist. Ich würde die Zeit in Quebec gerne ungeschehen machen, um es besser machen zu können – aber nicht, um an uns beiden etwas zu ändern."

„Ken…", begann Rilla, aber er unterbrach sie sofort.

„Nein, lass mich ausreden", bat er, „ich liebe dich und das ist für niemanden eine größere Offenbarung als für mich selbst. Aber ich werde dich nicht festhalten. Und ich mache dir auch keine Szene. Wir werden das ganz zivilisiert zu Ende bringen. Du musst auch keine Sorge haben, dass ich immer wieder auftauchen werde, wie ein böser Geist aus der Vergangenheit. Du kannst ein ganz neues Leben beginnen. Du bist frei."

Und dafür, dass sie sich genau das seit Jahren wünschte, ließ das Wort einen schalen Geschmack in Rillas Mund zurück. Erneut hob sie an, etwas zu sagen, aber wieder war er schneller als sie.

„Darf ich sagen, dass ich trotzdem dankbar bin für die Wochen, die wir zusammen hatten? Sie werden es vermutlich schwerer machen, später, aber ich bin froh, dass wir sie hatten", fuhr er fort, „als ich zurückgekommen bin, war ich nur noch ein Schatten. Du hast mir geholfen, wieder einen Wert in dieser Welt zu sehen. Dafür allein gilt dir jeder Dank, den ich geben kann. Aber du musst dich nicht verpflichtet fühlen…"

„Ken!", warf Rilla erneut ein, jetzt entschiedener, aber er schien sie gar nicht zu hören. Also lehnte sie sich nach vorne, nahm sein Gesicht in beide Hände und hielt seinen Blick. Er verstummte.

„Ich habe nein gesagt", erklärte sie dann, ruhig, fest.

„Nein", wiederholte Ken leise. Er blinzelte, schien einen Moment zu brauchen, um die Wendung zu verarbeiten.

Rilla hatte dadurch die Möglichkeit, ihrerseits das Wort zu ergreifen: „Ich habe Dad gesagt, dass ich keine Annullierung möchte, aber dass wir diese Entscheidung gemeinsam treffen müssen. Nicht, dass er mir da zugestimmt hat, aber darum geht es nicht. Ich musste wissen, was du darüber denkst. Denn du hättest mich nie verlassen, aus dem gleichen Grund, aus dem du mich überhaupt geheiratet hättest. So nobel! Deswegen musste ich wissen, was du wirklich empfindest – damit ich im Zweifelsfall hätte entscheiden können."

„Das heißt", vergewisserte Ken sich langsam, „wenn ich gesagt hätte, ich würde gehen, wenn ich könnte… dann hättest du Gilbert die Ehe annullieren lassen? Trotz der Konsequenzen, die das für dich gehabt hätte? Und obwohl… obwohl du es nicht gewollt hättest?"

„Du hättest mich gehen lassen", erwiderte Rilla leise, „und ebenso hätte ich dich auch nicht festgehalten."

Ken nickte, offenbar sprachlos. Also beugte Rilla sich zu ihm vor, schloss die letzten Zentimeter zwischen ihnen und küsste ihn ganz sachte. Nur Augenblicke später schlossen sich seine Arme fest um sie, eine fast unwillkürliche Handlung.

Sie zog sich zurück, aber nur so weit, dass ihre Stirn noch seine berührte. Ihre Hände wanderten von seinem Gesicht in seinen Nacken und sie wickelten sich in seine Haare. Ihr Daumen strich ihm über den Nacken und sie spürte, wie sich die feinen Härchen dort aufstellten.

„Also ist es jetzt so – wir bleiben verheiratet?", hakte Ken noch einmal nach. In seinen Augen blitze es und auch Rilla lachte leise.

„Ich nehme das mal als verspäteten Antrag", informierte sie ihn amüsiert, „und ja, wir bleiben verheiratet. Was das Beste daran ist – dieses Mal ist es unsere Entscheidung. Keine Fehler, kein Krieg, keine Konventionen. Dieses Mal ist es einfach nur, weil wir es wollen."

Ken nickte. „Dem kann ich nur zustimmen", murmelte er gegen ihre Lippen und als er dieses Mal sie küsste, war es mit etwas mehr Nachdruck.

Es dauerte jedoch nur Sekunden, bis Rilla sich wieder zurückzog. Sie wand sich aus seinen Armen, stand vom Sofa auf und blieb neben ihm stehen. Ken folgte ihr mit seinem Blick, blieb aber sitzen.

„Was machst du?", wollte er wissen und als sie seinen verwirrten, leicht argwöhnischen Gesichtsausdruck sah, lachte sie, auch wenn es etwas nervös geriet.

„Nun, ich muss doch sichergehen, dass du es dir morgen nicht anders überlegst" erklärte sie ihn. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie spürte keinen Zweifel.

„Ich würde nicht…", begann Ken, verstummte dann aber abrupt. Sie konnte sehen, wie der fragende Ausdruck in seinem Gesicht der Erkenntnis wich.

Sie schwiegen jetzt, aber es brauchte ein keine Worte mehr.

Rilla streckte eine Hand nach ihm aus – und Ken folgte ihr.

- Fin. -


Der Titel ist dem Lied „Replica" der Band Sonata Arctica entnommen.


Wir haben tatsächlich das Ende erreicht. Diese ist meine bisher mit großem Abstand längste Geschichte und ich muss sagen, es fühlt sich etwas komisch an, sie zu beenden. Aber ich glaube, wenn es ein Ende geben muss, dann ist hier ein guter Punkt.

Ich hoffe, es hat euch gefallen und ihr habt gerne mitgelesen. Besonders dankbar bin ich wie üblich allen denjenigen, die sich die Mühe gemacht haben, eine Rückmeldung für mich zu hinterlassen. Wenn ich konnte, habe ich euch dies bestimmt schon in Nachrichten mitgeteilt, aber ich wollte auch denen, die ich nicht persönlich kontaktieren kann – hallo an dieser Stelle an meinen namenlosen Gast und an Lilly, Namenspatin meiner Katze =) – meinen Dank aussprechen. Ein Review für einen Schreiberling ist wie der Applaus im Theater – man würde nicht aufhören, nur weil es ausbleibt, aber es macht die Arbeit umso lohnenswerter.

Damit möchte ich diese Geschichte hier nun endgültig zu Ende führen, aber ich vermute, ich werde nicht allzu lange schweigen. Zeit habe ich zwar wie üblich keine, dafür aber zwei ziemlich verlockende Ideen und aktuell ein enges Verhältnis zu Muse. Insofern sage ich einfach mal, bis bald, wenn ihr möchtet.