Shot (3)

Lissa

Ich setzte mich wieder zu Tasha und Christian an den Tisch.
„Hab ich was verpasst?", fragte ich.
„Nur wie mein Bruder dir auf den Arsch gestarrt hat", meinte Tasha trocken. „Also nein, nichts neues."
Sie grinste ihren Bruder an, der einfach lachte. Ihm war so etwas nicht peinlich, war es noch nie gewesen.
„Alles klar?", fragte er nach.
Ich nickte und setzte mich wieder an den Tisch.
„Mason meinte Eddie hätte noch vier Plätze frei. Sie wollen mir heute Nachmittag Bescheid geben."
„Du bist zu gut für diese Welt", lächelte Christian mich an.
Er strich mir eine Strähne von der Stirn. Mein Gott, ich kannte ihn schon so lange und war seit über einem Jahr mit ihm zusammen, und dennoch fühlte ich mich wie frisch verliebt.
Ich konnte nicht anders, als die kurze Distanz zwischen uns zu überbrücken und küsste ihn. Er lächelte an meinen Lippen und ich grinste zurück.
„Hallo? Schwester anwesend!", meldete sich Tasha zu Wort.
„Sorry", murmelte ich und löste mich von ihrem Bruder.
„Du kannst auch gehen", grinste Christian dagegen.
Tasha öffnete ihren Mund, um etwas – vermutlich sarkastisches – zu erwidern, aber die Klingeln übertönte sie.
„Zu langsam", lachte Christian und erhob sich.
Er reichte mir seine Hand und verschränkte unsere Finger ineinander, als ich ebenfalls stand. Wie immer hatte er sein typisches Grinsen aufgesetzt und dieses bestimmte Glitzern in den Augen.
„Komm schon", zog er leicht an meiner Hand.
„Bis später, Tasha", winkte ich ihr zu.
Sie grummelte irgendetwas, dass ich nicht verstand und war dann auf dem Weg zu den Musikräumen. Sie hatte jetzt Musik II, ich hingegen hatte Kunst gewählt. Und obwohl Christian so gut malen konnte wie ein Kleinkind, hatte er ebenfalls Kunst gewählt.
Allein bei dem Gedanken lächelte ich.
„Wieso so fröhlich?", fragte er lachend und küsste meine Schläfe.
„Darf ich nicht auch mal fröhlich sein, ohne Grund?", fragte ich ihn. „Ich habe dich, ich habe Tasha, was will ich mehr?"
Sofort breitete sich ein echtes Lächeln auf seinen Lippen aus. Er blieb abrupt stehen und somit auch ich, nur damit er mein Gesicht in seine Hände nehmen konnte, um mich zu küssen. Ich würde nie müde werden von seinen Küssen, Gott, ich konnte es selbst nicht fassen was für einen Einfluss Christian auf mich hatte. Schon jetzt konnte ich mir mein Leben nicht mehr ohne ihn vorstellen.
„Ich liebe dich", hauchte Christian.
„Ich liebe dich mehr", erwiderte ich.
Und ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass das stimmte. Christian liebte mich, daran zweifelte ich nicht, aber ich war mir eben so sicher, dass seine Liebe für mich nicht so tief war wie meine für ihn. Ich würde sterben für diesen Jungen, ich konnte nicht mehr ohne ihn. Ich glaube ich wäre nicht in der Lage irgendjemanden nach Christian auch nur anzusehen. Christian würde es vermutlich schaffen nach einigen Jahren über mich hinwegzukommen.
Urplötzlich wurden Christian und ich aus unser glücklichen Blase gerissen. Ein lauter Knall hallte durch die Flure! Ein Schuss! Ehe ich es mich versah knallte mein Rücken zu Boden und Christian landete auf mir mit weiten Augen.
„Scheiße!", zischte Christian. „Lissa, oh Gott alles okay? Geht es dir gut?"
Seien kristallklaren Augen fuhren über meinen Körper und suchten nach einer Verletzung, aber mir fehlte nichts. Er … Er hatte mich aus der Schussbahn gestoßen und sich selbst in Gefahr gebracht!
„A- Alles okay", stotterte ich, denn mir wurde die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst.

Hier hatte jemanden geschossen! Mit einer echten Waffe!
„Gut, komm. Schnell!"
Christian rappelte sich auf und ergriff meine Hand, keine Ahnung wohin er mich zog, aber er zerrte an meiner Hand und wir landeten in einem Klassenraum zusammen mit acht weiteren Schülern und einem Lehrer, den ich nicht kannte.
Christian und ein paar andere Jungen entdeckten, dass man die Tür nicht verschließen konnte, also rückten sie Tische, Stühle, Schränke, Bücher, einfach alles was sie finden konnten vor die Tür, um sie zu verbarrikadieren.
„Liss", flüsterte Christian.
Alle anderen Mädchen im Raum hatten sich an die Wand gesetzt, die Beine angezogen und ihre Gesichter gesenkt halten. Alle saßen wir so da, es war wohl eine Art Reflex, keine Ahnung. Aber als Christian mich anspricht schnellt mein Kopf hoch und ich sehen ihn mit Tränen in den Augen an.
„Baby, mach bitte die Jalousien zu", bat mich Christian so leise wie möglich, während er und die anderen weiter Tische rückten.
Das Problem an dem Klassenraum in dem wir waren war, dass er eine Fensterfront zum Innenhof hatte, indem normalerweise zur Mittagszeit gegessen wurde an schönen Tagen. Und sollte wer auch immer uns hier drinnen sehen, wer weiß was dann passieren würde.
In diesem Moment dachte ich nicht viel nach, Christian sagte mir was ich tun sollte, ich tat es ohne weiter darüber nachzudenken. Nachdem wir in etwas mehr Dunkelheit saßen und die Tür verbarrikadiert war, setzten sich alle gemeinsam hin, den Rücken zur Wand, die Beine angezogen.
Aber als einer der Jungen, der vorher noch Tische verschoben hatte, sich setzten wollte, entdeckte ich einen roten Fleck in seinem Shirt.
„Du bist getroffen", plapperte ich aus.
Ich war in dem Moment auch nicht clever genug nur zu flüstern, ich sagte es in voller Lautstärke, vielleicht sogar noch lauter durch den Schock einen Jungen mit einer Schussverletzung zu sehen. Sofort packte Chris eine Hand über meinen Mund und sah mich mit großen Augen an.
Der angeschossene Junge – ich kannte seinen Namen nicht – sah mich ebenfalls an, wandte den Blick aber schnell ab und ließ sich so leise er es konnte auf dem Boden nieder. Er stöhnte – verständlicherweise – blieb aber erstaunlich leise dabei. Wir alle warteten nach meinen Ausbruch auf etwas von draußen. Schritte, einen weiteren Schuss, jemand der etwas rief, irgendetwas, aber es kam nicht.
Christian ließ die Hand von meinem Mund. Ich ergriff die Chance und rutschte weg von Christian, hin zu dem angeschossenen Jungen. Christian versuchte mich am Handgelenk zurück zu halten, mit einem einfachen Kopfschütteln, ließ aber wieder von mir ab, sobald er meinen Blick sah. Ich konnte dem Jungen helfen, nicht viel unter diesen Umständen, aber wenigstens etwas und wenn ich helfen konnte, dann musste ich helfen!
Als ich vor dem Jungen kniete, blickte er mich etwas skeptisch an. Wortlos bedeutete ich ihm sich hinzulegen und mir seine Wunde zu zeigen. Er schüttelte den Kopf, worauf hin ich ihn an funkelte. Allerdings mit mäßigem Erfolg.
„Lass dir helfen, Alter", flüsterte Christian. „Du könntest verbluten, wenn du sie nicht lässt. Wer weiß wann du hier wieder raus kommst."
„Er hat recht", wisperte der Lehrer und nickte mir aufmunternd zu.
Mit einem Nicken bedankte ich mich für die Zuversicht. Allerdings fragte ich mich warum er nichts tat, immerhin hatten Lehrer doch eine Erste Hilfe Ausbildung, richtig?
Der Junge legte sich also stöhnen und ächzend hin. Erneut herrschte betretendes Schweigen und wir warteten auf ein Anzeichen das der Schütze noch in unserer Nähe war, aber wir hörten wieder nichts, also sprach ich zwar leise, aber so, dass mich zumindest alle im Raum hörten.
„Dein Name?", fragte ich.
Ich musste mich ablenken, wenn ich daran dachte, dass da draußen jemand mit einer Waffe unser aller Leben bedrohte, würde ich weinend in Christians Armen liegen. Also dachte ich so wenig darüber nach und beobachtete den Jungen. Währenddessen hob ich sein Shirt an, so vorsichtig wie möglich. Es war ein wenig festgeklebt an der blutigen Wunde, und ich versuchte dem Verletzten so wenig wie möglich weh zu tun. Er zuckte dennoch einige Male zusammen.
„Jesse", ächzte er. „Jesse Zeklos."
„Okay Jesse", begann ich. „Ein Stück von deinem Shirt klebt in deiner Wunde, dass muss ich da raus holen. Es wird wehtun und du musst versuchen so leise wie möglich zu sein, okay?"
Jesse biss die Zähne zusammen und sein Kiefer verkrampfte sich, aber er nickte.
„Ich brauche etwas auf das er beißen kann, damit sein Schrei gedämpft wird", meinte ich an die anderen im Raum."
„Nimm meine Krawatte", meinte der Lehrer.
Er nahm sie vom Hals und reichte sie Jesse.
„Ich werde schreien?", fragte er mich.
„Mit ziemlicher Sicherheit", nickte ich. „Ja, tut mir Leid."
Aber Jesse nahm es hin, er nickte lediglich einmal und schien sich innerlich darauf vorzubereiten. Das Mädchen neben ihm – Clara – nahm seine Hand. Die beiden sahen sich einen Moment an, Jesse verwundert und fragend, dass Mädchen schüchtern mit einem kleinen Lächeln.
„Danke", meinte er an sie gewandt.
Dann sah er mich an und gab mir das Zeichen. Wie bei einem Pflaster riss ich ihm einmal schnell das verbliebene Stückchen Stoff aus der Wunde. Wie ich voraus gesagt hatte schrie er, zum Glück hatte er die Krawatte im Mund und Claras Hand. Clara sah nicht gerade glücklich aus, aber sie ertrug den Druck und drückte Jesses Hand ebenso stark zurück. Ein paar Mädchen quietschten erschrocken, aber auf sie durfte ich nicht achten. Ich hatte nun eine blutende Wunde vor mir, die ich neu aufgerissen hatte und versorgen musste.
„Wie kann ich helfen?", erklang Christians Stimme plötzlich neben mir.
Er lächelte ein wenig, hatte aber einen ernsten Blick. Dankbar ihn an meiner Seite zu wissen lächelte ich zurück und machte mich an die Arbeit.


-o-o-o- Nothing Out Of The Ordinary -o-o-o-


Rose

Langeweile. Es ist mehr als unpassend so etwas wie Langeweile in so einer Situation zu empfinden, aber Fakt war nun mal, es war langweilig in einer Art und Weise. Dimitri und ich unterhielten uns nicht weiter, wir saßen einfach nur da und schwiegen uns an. Es gab nichts mit dem wir uns beschäftigen konnten, nichts womit wir uns auch nur getraut hätten uns zu beschäftigen, was irgendeine Art von Laut hätte machen können. Wir saßen hier seit geschlagenen 39 Minuten. Das klingt nicht nach sonderlich viel, aber wenn man vor Angst auf dem Boden hockt, sich nicht bewegen kann, kaum ein Geräusch machen kann, dann sind 39 Minuten verdammt lang.
Das schlimmste waren die Gedanken, die einem dabei kamen. Ich fragte mich wer dahinter steckte, wer der Schütze war und hier herum feuerte. Irgendwann stellte ich Theorien auf, legte in meinem Kopf eine Art Liste an, wer am Wahrscheinlichsten oder Unwahrscheinlichsten war.
Dann begann ich mich zu wundern, was wer auch immer in diesem Moment tat, wo er oder sie war, was er oder sie vorhatte. Gab es ein Ziel? Galt dieser Amoklauf nur einer bestimmten Person oder wollte da jemand einfach so viele Menschen wie möglich töten? Wollte er jemanden oder uns alle bestrafen? Wenn ja, wofür? Ging das ganze die Lehrer oder gegen Schüler? War es ein Schüler oder gar eine Lehrer? Vielleicht sogar ein ehemaliger Schüler oder jemand der keine Verbindung zu dieser schule hatte?
An sich wollte ich über keines dieser Dinge nachdenken, aber ich konnte meine Gedanken nicht daran hindern in diese Richtungen zu wandern.
Würde ich heute sterben? Würden meine Freunde sterben? Waren sie vielleicht schon tot? Hatte ich meinen Eltern heute früh gesagt, dass ich sie liebte? Hatte ich -?
„Sie wissen es", meinte Dimitri plötzlich.
Ich zuckte zusammen, als seine Stimme die Stille und meine Gedankengänge durchbrach. Überrascht sah ich zu Dimitri, der auf sein Smartphone blickte.
„Wer?", fragte ich.
„Alle", erwiderte er und hielt mir sein Smartphone hin.
Er hatte ein Seite geöffnet und dort waren die Nachrichten von heute zu sehen, ganz oben der Amoklauf an unserer Schule. Es gab sogar einen Link zu einer Live-Schaltung auf Kanal 7.
„Ist das gut?", fragte ich unsicher.
Keine Ahnung, ob ich das mich selbst oder Dimitri fragte, aber Dimitri antwortete dennoch.
„Schaden kann es uns nicht, denke ich", antwortete er. „Sobald ein Schuss in der Schule fällt, muss dem Schützen eigentlich klar sein, dass jeder Schüler mit seinem Handy sofort die Polizei rufen kann, oder nicht?"
Dimitri zuckte die Schultern und tippte weiter auf seinem Smartphone herum.
„Ich denke nicht, dass der Schütze deshalb in Panik gerät oder wild um sich feuern wird, aber was weiß ich schon? Vielleicht kommen wir in einer Stunde hier raus, vielleicht auch erst in ein paar Tagen. Wer weiß ob die Polizei die Schule stürmt, oder sie mit dem Schützen verhandeln und er schon längst Geiseln genommen hat. Ich nicht."
Seufzend sah ich auf den Fußboden vor mir. Dimitri hatte recht, aber was sollte ich dazu noch sagen? Wir stapften doch alle im Dunkeln, selbst wenn wir wüssten wer der Schütze ist, würde uns das helfen? Nein, denn wir wüssten dennoch nicht, was sein Ziel wäre.
„Sie haben keine Verdächtigen", seufzte Dimitri und steckte sein Smartphone wieder in seine Hosentasche. „Nicht mal eine Theorie."
„Hast du das erwartet?", fragte ich verwundert.
Dimitri sah zu mir herüber und musterte mich mit seinem Blick.
„Keine Ahnung", sagte er schließlich.
„Hast du eine Theorie?", fragte ich ihn.
Ich wusste bereits, dass es so war, ich konnte es in seinem Blick sehen. Er hatte irgend wen in Vermutung, und er schien sich seiner Sache auch ziemlich sicher zu sein. Er nickte.
„Du glaubst wirklich, du weißt wer das ist? Wie kannst du -?"
Urplötzlich weiteten sich Dimitris Augen und er krabbelte zu mir herüber in einer unsagbaren Geschwindigkeit. Was zur Hölle tat er da. Seine weiten Augen trafen meinen Blick und seine Hand lag auf einmal über meinem Mund. Er legte den Zeigefinger seiner anderen Hand auf seine Lippen und bedeutete mir still zu sein. Verwirrt blickte ich ihn an, was sollte das jetzt?
Ich versuchte gegen seine Hand zu reden, aber er funkelte mich wütend an und drückte die Hand fester auf meinen Mund. Und dann verstand ich wieso, denn ein Klopfen war an unserer Tür und hallte durch den Raum.