Öffne dein Herz
Kapitel 1
Die Schlacht um Hogwarts war zu Ende. Alle Verletzten waren versorgt, so gut es möglich war. Die Aufräumarbeiten waren voll im Gange.
Harry und Hermine standen einsam und verloren im Büro des Schulleiters. Sie hatten gemeinsam all diese schrecklichen Dinge erlebt, dem Tod ins Auge geblickt und Voldemort fallen sehen. Jeder hatte Freunde oder Angehörige verloren und hilflos mit ansehen müssen, wie die Festung Hogwarts zu Schutt und Asche zerfiel.
Genau deswegen hatte Harry die Entscheidung getroffen, hier her zu kommen. Das Büro des Schulleiters war immer einer der seltsamsten Orte von Hogwarts gewesen. Es war ihm wie ein Zuhause gewesen und auch gleichzeitig der Ort, an dem er so viele schmerzhafte Erfahrungen durchmachen musste.
Am liebsten hätte er allem den Rücken gekehrt und ein neues, ein normales Leben begonnen. Doch er hatte keine Wahl, denn er wusste, dass ihn seine Vergangenheit niemals loslassen würde. Er wusste Dinge, die niemand sonst wusste. Und er verstand, dass er sie an andere weiter geben musste, wenn er die Fehler wieder gut machen wollte, die begangen wurden.
Genau deshalb war er hier, denn hier stand das Denkarium, genauso, wie er es zurückgelassen hatte, als er die letzten Erinnerungen des wohl zwiespältigsten Mannes gesehen hatte, den er je kannte. Es war das Vermächtnis seines Professors Severus Snape.
Harry atmete tief ein. Der Staub des Zerfalls und das Blut der Gefallenen klebte noch an seinen Händen. „Es ist an der Zeit, allen zu zeigen, was wirklich geschehen ist", sagte er ernst.
Dann griff er in seine Jackentasche und zog eine kleine, gläserne Phiole hervor, in der es silbern schimmerte.
Hermine sah ihn an. Sie wusste, dass der Inhalt der Phiole sehr kostbar war, denn wenn sie durch die Freundschaft zu Harry eines hinzu gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass man mit den Erinnerungen anderer nicht leichtfertig umgehen durfte.
„Von wem ist sie?", fragte sie, das Gefäß nicht aus den Augen lassend. Sie konnte es nur erahnen.
„Snape", sagte er und blinzelte sie an. „Und es gibt noch mehr davon."
„Du hast Professor Snapes Erinnerung immer noch bei dir?", fragte sie ungläubig.
„Ja." Seine Stimme klang fest, er wirkte wesentlich reifer in letzter Zeit.
Vielleicht hatten ihn die Erlebnisse in den letzten Monaten abstumpfen lassen, vielleicht hatte er aber auch einfach gelernt, wie ein Erwachsener zu handeln.
„Harry!" Hermine war mit einem Mal sehr aufgeregt.
Sie wusste von ihm nur, dass Snape sein Leben für das Wohl anderer geopfert hatte. Er hatte es ihr erzählt, weil er das Bedürfnis verspürt hatte, die Last auf seinen Schultern mit jemandem zu teilen.
„Ist dir bewusst, was das bedeutet? Wir können so viel damit bewirken ..."
„Hermine, beruhig dich wieder." Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. „Du hast recht. Das ist der Grund, warum ich sie dir zeigen möchte."
Trotz ihrer Aufregung war sie skeptisch. Die Erinnerungen anderer Menschen waren etwas sehr Persönliches. Nach allem, was sie bisher von Harry erfahren hatte, war Snapes Vergangenheit ein großes Rätsel, das gelöst werden wollte.
„Dürfen wir das denn?", fragte sie vorsichtig. Harry war es gewohnt, in das Denkarium zu blicken, für sie war es Neuland.
„Ich möchte, dass du bei mir bist, Hermine. Bitte. Wir haben zusammen so viel durchgemacht. Dies ist die letzte Sache, die ich tun muss, damit die Welt erfährt, was für ein Mensch er wirklich war."
Hermine versuchte zu lächeln und drückte seine Hand. „In Ordnung, Harry."
Er warf ihr einen letzten Blick zu. „Bist du bereit?"
Sie nickte. Doch sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde.
Sie wusste nicht, dass dieser Moment alles für sie verändern würde, dass sie bald nicht mehr dieselbe sein würde, denn sie würde beginnen, Professor Snapes Verhalten zu verstehen. Mehr noch, sie würde beginnen, für ihn zu fühlen...
Harry hielt immer noch ihre Hand fest. Zusammen gingen sie zum Denkarium hinüber.
Er öffnete die Phiole, hielt sie über den Rand des Beckens und ließ den silbrig schimmernden Inhalt hinein fließen. Dann tauchten sie gemeinsam in Professor Snapes Gedankenwelt ein.
Ein grünlich schimmerndes Licht umhüllte Hermine, alles sah verschwommen aus, sie blickte zur Seite und sah Harrys Gestalt neben sich, der ihr aufmunternd zunickte.
Hermine blinzelte und endlich klärte sich die Sicht. Sie befanden sich in Dumbledores Büro. Das Denkarium stand auf dem Schreibtisch, eine Flüssigkeit wirbelte darin herum.
„Du warst mein Spion", hörte sie Dumbledores Stimme sagen. Hermine ging näher auf ihn zu, konnte es nicht glauben, ihn so leibhaftig vor sich zu sehen. „Du hast Voldemort in die Irre geführt und so viele Menschen vor einem grausamen Schicksal bewahrt." Er seufzte. Sein Gesicht wirkte sorgenvoll. „Du musst es tun, Severus. Du musst mich töten."
Hermine zuckte erschrocken zusammen. Was? Snape Dumbledore töten? Und das auf seinen eigenen Wunsch hin? Es war ein unglaublicher Schock für sie, doch sie bekam keine Zeit, sich weiter mit dieser Nachricht auseinander zu setzen.
„Schulleiter", sagte eine tiefe Stimme. Es war unverkennbar Snape.
Hermine fuhr herum, erst jetzt konnte sie ihn sehen, wie er mit dem Körper gegen eine Säule gelehnt war, als hätte er nicht länger die Kraft, auf seinen eigenen Beinen zu stehen.
Ein kalter Schauder lief ihr bei seinem Anblick den Rücken entlang.
Sie blickte in sein fahles Gesicht und obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, trat sie verängstigt einen Schritt zurück.
Jetzt kam Snape auf sie zu, bis sein Oberkörper nur noch wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war. Hermine konnte ihr Herz kräftiger schlagen fühlen, als normal. Ihre Hände zitterten, sie wagte kaum zu atmen. Sein in schwarz gekleideter Oberkörper, die engen Knöpfe, die sich bei jedem Atemzug hoben und senkten, sie konnte jedes Detail vor ihren Augen sehen.
Dann hob sie den Kopf und blickte in seine tiefschwarzen, sonst so unergründlichen Augen, die jetzt voller Schmerz waren.
Er stand so nah vor ihr, dass sie sich einbildete, seinen Duft zu riechen. Diesmal jedoch jagte er ihr keine Angst mehr ein, wie er es während des Unterrichts oft getan hatte.
Es war ein anderes Gefühl, das sich in ihr regte, es war Mitleid.
Hermine hatte ihn sterben sehen. Nicht einmal ihm, der sie in der Schule gedemütigt und hart bestraft hatte, hatte sie einen solchen Tod gewünscht.
Snape war eingehüllt in seine schwarze Kleidung, über seinen Schultern lag der endlos lange Umhang, der ihn bei manchen Bewegungen seiner Arme so aussehen ließ, wie eine Fledermaus. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht und wirkten noch ungepflegter als gewöhnlich. Unter seinen Augen lagen tiefe, von Schmerz zerfressene Furchen.
„Schon wieder, Severus?", fragte Dumbledore. Er wirkte so verändert, als er zu Snape sprach. Wo war all seine Güte hin, die er sonst immer ausgestrahlt hatte? Merkte er denn nicht, dass der Mann vor ihm litt?
„Ich bin nicht Ihr Spielzeug, Albus", sagte Snape. Er sah unheimlich wütend und verletzt zugleich aus. „Wie oft habe ich nur das getan, was Sie von mir verlangten? Aber diesmal, … diesmal gehen Sie eindeutig zu weit! Ich soll Sie töten, damit die Welt ihren Helden bekommt und ich als der Bösewicht zurück bleibe?"
Über Dumbledores Gesicht lag sogar in diesem Moment ein leichtes Lächeln. „Seit wann stört es dich, der Bösewicht zu sein, Severus?"
Hermine stand vor Entsetzen der Mund offen. Das hatte er nicht gesagt! Nicht Dumbledore!
Sie blickte zu Snape, der verzweifelt die Hände rang. Sag doch was! Eine Stimme in ihrem Kopf wollte, dass diese Grausamkeit ein Ende nahm.
„Das ist etwas gänzlich anderes", entgegnete Snape schlicht.
Endlich! Hermine wagte wieder zu atmen.
„Die Schüler müssen lernen, Respekt zu haben. Mehr verlange ich nicht."
„Und was ist mit dem stundenlangen Nachsitzen, Severus?" Dumbledore sah ihn streng an. Hermine wünschte sich, er würde damit aufhören. „Respekt verdient man sich durch seine Taten, nicht dadurch, dass man anderen Angst einjagt."
Snape sah zu Boden. Traurigkeit lag in seinem Gesicht. „Und deshalb verlangen Sie von mir, Sie zu töten", sagte er langsam. „Damit ich mehr Respekt vor Ihnen habe?" Erst jetzt hob er wieder den Blick und sah Dumbledore an. Flehend. Hermine konnte spüren, dass sein Körper bebte.
„Nein, Severus." Hermine rollte angewidert mit den Augen. Dumbledore hatte eindeutig einen Hang dazu, Snapes Namen für seine dramatischen Auftritte zu benutzen. „Ich verlange das von dir, weil du der Einzige bist, der das tun kann ..."
Hermine hatte genug. Sie wollte hier weg! Sie konnte nicht länger ertragen, wie Dumbledore auf Snape einredete und ihn quälte. Ein letztes Mal blickte sie in das fahle Gesicht des Mannes mit den eigenartigen schwarzen Haaren.
Er sah so anders aus, so wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Sein trauriger Blick, seine verzweifelten Versuche, Dumbledore davon abzuhalten, ihn zu seinem Mörder zu machen, riefen eigenartige Gefühle in ihr hervor, von denen sie nie zuvor zu träumen gewagt hätte.
Sie versuchte, nach seinem Gesicht zu greifen, wollte verstehen, was mit ihr geschehen war, aber es war ihr nicht möglich, denn die Erinnerung verblasste.
Schockiert stand sie neben Harry und starrte auf die Schlieren in der Schale vor ihren Augen.
„Unglaublich, nicht wahr?", fragte er sanft.
Hermine nickte. Es fiel ihr ungewöhnlich schwer, ihre Worte wieder zu finden. „Warum hast du ausgerechnet diese Erinnerung ausgesucht?", wollte sie wissen.
Harry zuckte mit den Schultern. „Ich wollte dir einfach nur zeigen, wie er wirklich war."
„Wer? Dumbledore?" Hermine war aufgebracht. Sie konnte nicht glauben, dass ihr alter Schulleiter so etwas von Snape verlangt hatte. „Ich habe ihn gesehen, Harry. Er kannte kein Erbarmen. Das war nicht derselbe Dumbledore, den ich in meiner Erinnerung hatte. Er war ein Monster!" Sie schluchzte.
Harry nahm sie in den Arm und sie kuschelte sich an seine Schulter. „Ich weiß, Hermine, aber so unglaublich das jetzt klingen mag, ich bin mir nicht sicher, ob wir es geschafft hätten, so lange durchzuhalten, wenn er Snape nicht benutzt hätte."
„Du sagst es! Benutzt ist genau das richtige Wort ..." Sie hatte Tränen in den Augen, die sich langsam ihren Weg über ihre Wangen bahnten.
„Er hat Snape vertraut."
Sie schüttelte ihre zerzauste Mähne. „Snape hat ihm vertraut, Harry. Und Dumbledore hat ihn ausgeliefert."
„Denkst du wirklich, dass es ihm so leicht gefallen ist?"
Sie antwortete nicht, war zu durcheinander.
„Sie waren beide nicht die, für die wir sie gehalten haben", stellte Harry fest.
Hermine schüttelte den Kopf. „Snape hat sein Leben Dumbledore verschrieben. Er hatte einen Grund für alles, was er getan hat. Und damit hat er uns alle gerettet."
Harry atmete geräuschvoll ein. „Das ist noch längst nicht alles, Hermine. Es gibt da noch weitere Erinnerungen, die viel tiefer in seine Vergangenheit zurück reichen."
Sie schluckte. „Ich denke nicht, dass ich jetzt noch mehr davon verkraften kann, Harry." Sie fürchtete sich davor, noch einmal in das Denkarium einzutauchen. Der Gedanke an Snapes schmerzverzerrtes Gesicht ließ sie frösteln.
„Aber du musst es wissen", sagte Harry bestimmt. „Snape hat es aus Liebe getan. Er hat sein ganzes Leben lang ausschließlich meine Mutter geliebt."
„Was?", Hermine riss sich von seiner Schulter los. „Lily? Er hat Lily Potter geliebt?"