Teil 1/7 — Tage 1 bis 14

Erster Tag

Er erwacht gegen Mittag. Hinter ihm liegen zwei Monate Koma von ungeklärter Ursache. Im Laufe dieser Zeit wechselte sein Status von einem weiteren namenlosen Opfer des letzten Terrorangriffs zu beinahe einem festen Inventar des Krankenhauses: einem gemeinsamen Eigentum der Ärzte und der Krankenschwestern. Zu ihrem Lieblingsrätsel, einer Knobelaufgabe, einem Thema für die Pausen von der Arbeit an den gewöhnlichen Fällen.

Als er endlich erwacht, hat er von all dem noch keine Ahnung. Er ist die perfekte Ahnungslosigkeit. Eine tabula rasa, ein unbeschriebenes, leeres Blatt.

Er öffnet die Augen und beobachtet eine Weile lang dunkle und helle Flecke, die in einem seltsamen Tanz an der Decke aneinander vorbeihuschen. Er scheint völlig gedankenfrei zu sein. Still und ruhig. Reglos. In einigen Stunden wird ihm ein Spiegel zum Bett gebracht und er wird erstaunt darin sein Abbild anstarren und versuchen, das eigene Ich zu erkennen mitten im blassen Gesicht, den grauen Augen und dem zerzausten, verblichenen, flachsfarbenen Haar. Ihm wird der Gedanke kommen, er sähe komisch aus, mit den zu scharfen Gesichtszügen und der ungewöhnlichen Blässe. Als ob er nur aus verwaschenen Farben bestünde — und dass ihm das eigene Gesicht völlig fremd erscheint.

Es wird ihm gesagt, dass niemand weiß, wie er heißt.

Es wird ihm auch gesagt, dass die Erinnerung eines Tages wiederkommt.

XXX

Harry war fünfzehn, als ihn der Wahnsinn zum ersten Mal einholte.

Es war jedoch nicht sein letzter Wahnsinn.

Die Ursache war nichtig und trivial, der Grund unverständlich und die Reaktion abstrakt sowie überraschend. So viel Grübelei, so viele schlaflose Nächte, und doch blieb das Ergebnis immer gleich. Als er zum ersten Mal beim Klang der Stimme von Draco Malfoy erschauerte, musste er vor der Macht der vorliegenden Tatsachen kapitulieren. Keine andere Erklärung konnte überzeugend genug sein. Es müsste der Wahnsinn sein. Sonst kam nichts in Frage. Der pure, entfesselte Wahnsinn.

Der Wahnsinn kehrte erneut zurück, als Harry siebenundzwanzig war. Diesmal war es ein ganz anderer Wahnsinn als jener, den er damals in den Gängen von Hogwarts gefunden hatte, aber die Welt um ihn herum veränderte sich genauso unumkehrbar wie in den alten Zeiten. Harry verlor seinen Verstand genauso schnell wie damals und genauso wie damals fand er kein Mittel dagegen.

Zwischen dem ersten und dem zweiten Wahnsinn beging Harry noch einige wirklich dumme Taten. Ihre Konsequenzen sollten ihn noch jahrelang verfolgen.

Dritter Tag

Die meisten Leute, die mit Harry Potter arbeiten, lernen es schnell, ihn wie ein rohes Ei zu behandeln. Harry Potter ist keine zur Tobsucht neigende Person, nein, es geht um etwas Anderes: man sieht auf den ersten Blick, dass er unheimlich erschöpft ist. Die Menschen meiden ihn nicht vor Angst, sondern aus Höflichkeit. Harry Potter ist einer der größten Schätze ihrer Welt. Er ist der Junge, der Überlebte, der Auserwählte und der Bezwinger von Du Weißt Schon Wem. Er ist von unschätzbarem Wert. Vielmehr noch: er ist unersetzbar.

Als Folge dessen existiert Harry Potter in einer Art Vakuum, getrennt von den anderen Leuten durch eine dünne Schicht des Nichts. Hin und wieder erwähnt jemand, dass Harry Potter einmal ein fröhlicher, lebhafter Junge gewesen war, doch kaum jemand schenkt diesem Gerücht Glauben. Harry Potter ist Harry Potter. Ein ernsthafter, manchmal sogar ein etwas düsterer Mann, dessen einzige Gesellschaft seine Mitarbeiter oder vielleicht noch die Leibwache ist.

Dann aber veröffentlichen Alice Salvini und Michael Amrani ihre berühmte Biografie Des Jungen, der Überlebte — ein Buch, prall gefüllt mit Bildern aus besseren Zeiten. Die Helden des gewonnenen Krieges, die Schatten der Toten und die Geister der Tapferen, alles auferstanden in einer Pracht von Farben. Eine lange Zeit spricht niemand von etwas anderem als dem Werk. Niemand macht eine Bemerkung darüber, dass den Jungen auf den Bildern und den siegreichen Mann eine riesige Kluft trennt. Alle wissen, dass der Krieg die Menschen verändert. Und es schickt sich nicht, solche Dinge laut zu erwähnen.

Den Menschen fällt es leichter, an den Quatsch zu glauben, der durch die Schmierblätter verbreitet wird: an das Märchen vom wunderbaren Leben des großen Siegers. Es ist einfacher, seinen nächsten Schritt abzuwarten, indem man diskutiert, was für ein Haus er kaufen und wo er wohnen wird, mit wem er sich trifft oder was er zu einer weiteren Gala anzieht. Und ob er endlich heiraten wird.

Harry Potter macht das Verbreiten von Klatsch und Tratsch jedoch schwer, denn er meidet sorgfältig die Öffentlichkeit und beschäftigt sich nach wie vor mit den offenen Kriegsfragen. Ein Teil der Todesser konnte flüchten, ein anderer Teil starb an Ort und Stelle. Das Dunkle Mal verschwand zusammen mit seinem Schöpfer und nun musste man die Schuldigen auf eine vielmehr aufwendigere, wenn auch primitivere Weise zu erkennen versuchen. Man musste Leichen und Verletzte identifizieren, sie mit Vornamen, Nachnamen und manchmal auch dem Todesdatum versehen. Es spielte sich so zusammen, dass Harry Potter einer von den Wenigen war, die das direkte Treffen von Angesicht zu Angesicht mit dem Feind überlebten, darum auch wurde er von den Auroren jedes Mal um Hilfe gebeten, wenn alle anderen Mittel versagten.

Und so kommt es, dass man hin und wieder Aurorentruppen zu Gesicht bekommt, wie sie die Gänge von Krankenhäusern und Gefängnissen durchqueren. Manchmal kann man darunter auch einen von ihnen abgeschirmten jungen Mann erspähen. Und immer noch kann man über die spektakulären Aktionen nachlesen, die mit der Fassung eines weiteren Kriegsverbrechers enden. Die Öffentlichkeit befürwortet es einstimmig. Schließlich muss jemand nach dem Krieg aufräumen.

Es ist ein später Nachmittag, der Tag ist kühl und neblig. Harry Potter ist siebenundzwanzig, fast achtundzwanzig, als er sich dem Krankenhausbett nähert, dort stehenbleibt und auf die schlafende Gestalt hinunterblickt. Eine ganze Weile steht er einfach reglos da.

»Das ist er nicht«, sagt er endlich.

Der Krieg ist zu Ende. Voldemort ist tot.

Draco Malfoy steht nach wie vor an der Spitze aller Listen der meistgesuchten Verbrecher.

XXX

Draco Malfoy hat hübsche Hände und Harry ertappt sich dabei, wie er sie zu aufmerksam und zu lange ansieht, während ihm sein Geist Metaphern vorspielt: schneebedeckte Baumzweige, biegsame Äste einer Weide, blühende Lilien und Mozartmusik. Es kann nicht normal sein, wiederholt er sich in Gedanken. Doch es ändert gar nichts.

Malfoys Augenfarbe wechselt, je nachdem, wo er gerade steht, im Licht oder im Schatten, je nach Jahreszeit und je nach Farbton seiner Kleider. Plötzlich entdeckt Harry, wie vielfältig das Farbspektrum von Grau sein kann. Malfoys Augen wirken hellgrau vor dem Hintergrund dunkler Farben. In der Sonne werden sie wie in einen milchigen Nebel eingehüllt, als ob sie nicht einem Menschen, sondern einem Chamäleon gehören würden. Mit dem Himmel oder Schnee als Hintergrund glänzen Malfoys Augen beinahe wie Silber.

Harry entdeckt plötzlich seine Vorliebe für Grau und sucht wie besessen alle Läden nach den richtigen Farbnuancen ab. Als das Farbfieder endlich nach ein paar Wochen wieder nachlässt, trifft Harry zufällig Draco in einem der Gänge und konstatiert, dass Malfoys Augen im Licht des Lumos einen goldigen Glanz bekommen. Die Besessenheit kehrt zurück und Harry gibt sich ihr fast kampflos hin. Widerstand ist zwecklos.

Fünfter Tag

Die Krankenschwestern kommen gerne in das Zimmer 45.

Zunächst taten sie es gerne, weil ein schlafender Patient immer weniger Aufwand bereitet als einer, der andauernd meckert, schreit und jammert. Jetzt, nachdem der geheimnisvolle Kranke bereits erwachte, mögen sie die Besuche bei ihm, weil der Mann aus dem Zimmer 45 sie fast immer mit einem Lächeln begrüßt. Und wer hat es schon nicht gerne, wenn er so für sein bloßes Erscheinen belohnt wird.

Der „Fünfundvierziger" ist eine Mischung aus einem verlorenen Kind und einem Märchenprinzen, eine hübsch verpackte und doch leicht perverse Kombination der Frauenphantasien. Die Krankenschwestern kümmern sich instinktiv um ihn, schauen in seinem Zimmer vorbei und prüfen oft nach, ob es ihm gut geht. Sie verzeihen ihm selbst die Momente, in denen er unerwartet und ohne jegliche Vorwarnung jähzornig wird. Solche Vorfälle sind glücklicherweise von kurzer Dauer und ihre Folgen sind eher unspektakulär. Der „Fünfundvierziger" ist schwach wie ein frisch geschlüpftes Küken. Seine Wutanfälle enden nach wenigen Minuten und danach ist der Mann noch freundlicher als zuvor, als ob er sich für seinen Ausbruch entschuldigen wollte.

Und es kommt noch eine Sache hinzu. Es gibt ein Rätsel. Ein Geheimnis. Die Krankenschwestern beobachten gerne den Patienten und suchen in seinem Verhalten nach Spuren von versteckten Hinweisen. Dann setzen sie sich irgendwo bei einem Kaffee im Kreis und spinnen fantastische Geschichten zusammen. Es gibt so viele Möglichkeiten, und der junge, abgemagerte, blonde Mann mit aristokratischen Gesichtszügen könnte zu einer Unmenge Stories passen.

Nur die Oberschwester brennt nicht darauf, im Zimmer 45 vorbeizuschauen. Sie mag es nicht, dem Patienten in die Augen zu sehen. Dieser Junge ist wie ein schwarzes Loch, denkt sie sich manchmal, eine große, schwer zu füllende Leere. Ein gefräßiges Nichts, das gestopft sein will. Außerdem ist die Oberschwester der Meinung, dass Namen wie „Fünfundvierziger" unangemessen und unakzeptabel seien, daher auch nennt sie den Patienten „Billy". Seine Haarfarbe erinnert sie an Billy Idol, den sie einst vergötterte. Der Name greift nicht. Die restlichen Krankenschwestern halten ihn für zu banal.

Als sich letztendlich im Krankenhaus jemand meldet, die die Identität ihres Lieblingsrätsels bestätigen könnte, wird die Oberschwester plötzlich für ein Orakel erklärt.

Wer hätte es erwartet, dass „William" die richtige Lösung sein wird.

XXX

Harry wusste, dass er der bester Sucher in Hogwarts war und dass ihm niemand auf diesem Gebiet das Wasser reichen konnte, trotzdem verschaffte ihm der Anblick von Draco Malfoy, fliegend auf einem Besen, ständig ein wildes Herzflattern. Ab und zu nahm er seinen Tarnumhang und beobachtete Trainingsstunden der Slytherins, oder genauer gesagt nur ihren Mannschaftskapitän, seine elastischen Bewegungen, die sparsamen Manöver und die saubere Linie seiner Silhouette. Dracos fließende Flugart erfüllte ihn mit Begeisterung, auch wenn er selbst die ganze Luftakrobatik genauso präzise wiederholen könnte. So etwas war doch jeglicher Logik entbehrt und Harry fühle sich immer tiefer darin bestätigt, den Verstand verloren zu haben. Er gewöhnte sich sogar langsam an diesen Gedanken.

Mühevoll hortete er Details und Bilder, als ob er sie für später aufheben wollte — vielleicht für die Zeit, wenn der Wahnsinn nachlässt. Er sammelte sie beim Quidditchtraining, bei dem gemeinsamen Unterricht, in den Gängen des Schlosses und beim Frühstück, buchstäblich überall. Ohne zu wissen, was er damit eigentlich erreichen möchte.

Sechster Tag

Adrian Bahlov ist einer der jüngsten Mitarbeiter im Ministerium. Aus diesem Grund auch befindet er sich ganz am Ende der bürokratischen Nahrungskette. Er bekommt keine Prämien, hat keinen Dienstbesen und darf sich nicht mal von den ministerialen Vorräten an Flohpulver bedienen. Absolut jeder kann sich die Freiheit erlauben, seine intellektuellen Fähigkeiten in Frage zu stellen oder ihn ohne Unterbrechung dies oder jenes besorgen zu lassen — er dagegen muss ständig freundlich lächeln und auf den Tag warten, an dem er sich endlich bewahren kann. Dabei ist es ganz unklar, ob ein solcher Tag überhaupt jemals kommt. Früh am Morgen ist er immer der erste im Büro und abends der letzte, so dass er seine gesamte Freizeit, die ihm noch übrig bleibt, praktisch verschläft.

Ja, Adrian Bahlov ist ein vielbeschäftigter und nicht sehr glücklicher Mann. Ehrlich gesagt, erwartet er auch nicht viel vom Leben und womöglich gerade deshalb fühlt er sich so überrumpelt von diesem Besuch am Abend.

Es geht auf dreiundzwanzig Uhr zu. Im Büro herrscht Stille und Adrian ist gerade dabei, den Arbeitstag zu beenden, als die Tür aufgeht und Harry Potter an der Schwelle erscheint. Eine Sekunde lang kommt es Adrian vor, als ob die Erde erbebt, doch er stellt sogleich fest, dass man die Schuld dafür seinen eigenen zitternden Beinen zuweisen müsste. Er versteckt die Aufregung, indem er sich wieder hinsetzt. Dann bittet er den Besucher mit einer Handbewegung hinein.

Potter kommt hinein. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie noch so spät aufsuche.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, antwortet Adrian eifrig und bemüht sich, nicht an all die Geschichten zu denken, die unter den Ministeriumsmitarbeitern über diesen Menschen kursieren. Kaum zu glauben, dass der Bezwinger Du Weißt Schon Wen höchstpersönlich an seinem Schreibtisch sitzt. »Ich hatte eh noch was zu tun. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Das, was ich Ihnen gleich sagen werde, ist eine Angelegenheit von höchster Bedeutung. Ich brauche daher Ihr Versprechen, dass es nur unter uns beiden bleibt«. Adrians Herz beginnt vor Freude und Stolz zu hüpfen. »Ich suche Sie absichtlich zu dieser unüblichen Stunde auf, weil ich nicht will, dass es zu den falschen Ohren kommt. Ich beobachte Sie seit einiger Zeit und ich hoffe, Ihnen vertrauen zu können.«

Adrian schluckt heftig und nimmt ein Paar tiefe Atemzüge. Harry Potter, dieser Harry Potter, ist der Meinung, dass er, Adrian Bahlov, ihm helfen könnte.

»Selbstverständlich können Sie mir vertrauen. Ich tue alles, damit die Angelegenheit ein Geheimnis bleibt.«

»Vielen Dank«, antwortet Harry Potter lächelnd und winkt mit dem Zauberstab. Von irgendwoher schwebt eine gewöhnliche Pappmappe herbei. Er legt sie auf den Tisch. »Ich nehme an, dass zu Ihren Aufgaben unter anderem auch das Ausstellen von Muggelausweisen gehört, für diejenigen von uns, die aus irgendwelchen Gründen in der Muggelwelt leben möchten.«

Adrian nickt bestätigend und öffnet die Mappe. Darin findet er Unterlagen für einen Personalausweis auf den Namen James Evans. Den Papieren liegt ein Passbild seines Gegenübers bei sowie ein ähnlicher Stapel mit einer Fotografie eines ihm unbekannten blonden Mannes.

»Ich darf Ihnen nicht allzu viel verraten.« Harry Potters Stimme klingt rechtfertigend. »Aber Sie müssen wissen, dass es sich hier um eine geheime Mission handelt. Leider gibt es einen Verdacht, dass sich unter den Auroren… Spione befinden. Daher will ich es nicht riskieren, bei dieser Sache über offizielle Kanäle zu gehen. Die Angelegenheit ist zu ernst, verstehen Sie?«

»Natürlich«, antwortet Adrian, der kaum etwas davon begreift, es aber um nichts in der Welt zugeben würde. »Ich kann es erledigen, doch wenn ich besonders vorsichtig vorgehen sollte, dann brauche ich schon einige Tage dafür.«

»Wie viele?«

»Drei oder vier.«

Harry Potter überlegt kurz. »Ich glaube nicht, dass drei oder vier Tage viel ausmachen werden«, meint er, bevor er aufsteht und Adrians Hand drückt. »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, sagt er noch im Weggehen und Adrian fühlt sich noch mehr vom Stolz erfüllt.

Vier Tage später erhält Harry Potter zwei beinahe legale Muggelausweise. Kurz darauf wird Adrian Bahlov befördert und in die Botschaft nach Kalkutta versetzt, wovon er immer heimlich träumte. Alle beide sind mit dem Ergebnis der kurzen Zusammenarbeit zufrieden.

XXX

Ganz plötzlich, ohne jeglichen Grund und ohne Vorwarnung, wurde sich Harry seiner Körperlichkeit sehr bewusst. Noch nie hatte ihn der eigene Körper dermaßen gestört, nie hatte er früher den Eindruck, als hätten seine eigenen Arme und Beine ihm nicht gehorchen wollen. Früher stolperte er nie so oft über zufällige Gegenstände und nie fühlte er sich so plump und ungeschickt. „Ich bin wahrlich ein perfekter Kandidat für den Weltretter", dachte er im Stillen, wenn er sich wieder einmal gedankenverloren in die eigenen Füße verhedderte.

Ein paar Wochen nach seinem fünfzehnten Geburtstag fiel es Harry auf, dass er Vorwände sucht, um in Malfoys Nähe zu kommen. Er verfolgte seine Schritte und Bewegungen mit den Augen und merkte sich zufällig gehörte Gesprächsfetzen. Er suchte nach Ausreden, um in den Gängen an ihm vorbeizukommen und wie zufällig seinen Arm zu streifen. Er drückte die Hände zu Fäusten zusammen, um sie von weiter reichenden Eskapaden abzuhalten, doch der eigene Körper verriet ihn ganz gemein, indem er heiß und angespannt wurde und nach etwas verlangte, was ihm anscheinend nur Malfoy geben könnte.

Harry verfluchte insgeheim die wilde Sturheit, mit der sein Körper sämtliche ungünstigen Umstände und Tatsachen ignorierte. Noch nie war Malfoy so gemein, grausam und gefährlich. Noch nie hatte er eine so klare Unterstützung von oben bekommen wie jetzt, nachdem ihn Umbridge gewähren ließ. Harry konnte sich wahrhaftig keinen schlechteren Zeitpunkt für die Entdeckung seiner Faszination für Malfoy aussuchen, doch er konnte nichts dagegen bewirken. Was er auch tat, es änderte rein gar nichts. Anscheinend hatte er endgültig den Verstand verloren.

Neunter Tag (1)

Der Mann steht schon seit einigen Minuten im Gang, als die die Oberschwester endlich seine Gegenwart bemerkt. Er ist etwa dreißig Jahre alt und sieht aus wie jemand, der über längere Zeit über die Kräfte hinaus gearbeitet hatte. »Ja, bitte? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Der Mann zögert einen Augenblick und schaut sich unsicher um.

»Guten Tag«, sagt er schließlich und punktet damit sofort in den Augen der Oberschwester. Die Höflichkeit heißt sie immer willkommen. »Ich habe gehört, dass… also… ich suche einen… Freund von mir. Er ist im Februar verschwunden, am sechsten.« Die Oberschwester erkennt auf Anhieb die Bedeutung von diesem Datum. »Niemand kann mir etwas über ihm sagen, also dachte ich mir, wenn ich selbst mit seinem Bild die Krankenhäuser absuche, dann vielleicht… Die Polizei hat letztens so viel zu tun, dass ich…«

Der Mann unterbricht seinen Redefluss und zuckt die Achseln in einer recht ratlosen Geste. Die Oberschwester sieht ihn mitfühlend an. In der letzten Zeit kommen viele Menschen mit ähnlichen Problemen hierher. Dieses Jahr ist zwar viel ruhiger als das vergangene, doch die Serie der „Anschläge" im Februar hatte sie alle zurück in Bereitschaft gestellt und füllte die Krankenhäuser mit verwirrten Verletzten und die Leichenschauhäuser mit Toten, die von niemandem identifiziert werden konnten. Wieder einmal stellt sich heraus, dass man für eine solche Katastrophe nie genug vorbereitet ist. Die Behörden kommen mit dem Papierkram nicht hinterher und die Familien der Verschollenen begeben sich selbst auf die Suche nach ihren Angehörigen. Alle kennen die Realität und das, womit man rechnen muss. Und obwohl seit dem Tod der Königin bereits sechs Jahre vergangen sind, scheint jeder neue Anschlag, jeder ungeklärte Vorfall die Gesellschaft aufs Neue zu überrumpeln. Anscheinend kann man sich doch nicht an alles gewöhnen.

De Oberschwester seufzt in Gedanken und formt ihre Lippen zu einem professionellen Lächeln. Heute wird sie wohl diesem jungen Mann das nächste Stückchen Hoffnung wegnehmen müssen.

»Lassen Sie mich das Bild sehen, vielleicht habe ich ihn hier irgendwo zu Gesicht bekommen.«

Das Foto ist ein wenig verschwommen und anscheinend schon etwas älter. Der darauf abgebildete blonde Junge hat seltsame Kleidung an, eine Art dunklen Umhang.

Der Mann lächelt leicht verlegen. »Es ist vom Halloween. Der Rest der Bilder wurde zerstört zusammen mit der Wohnung.«

Die Oberschwester nickt ohne Überzeugung und kneift die Augen zusammen. Nach einer Weile hebt sie den Kopf und schenkt dem unbekannten Mann ein breites Lächeln. »Es sieht ganz danach aus, als ob ich eine gute Nachricht für Sie hätte, Mister…?«

»Evans. James Evans.«

»Ich habe gute Nachrichten für Sie, Mister Evans. Ihr Freund ist wohlauf.«

XXX

Die Bestätigung für die Theorie mit dem Wahnsinn kam ebenfalls plötzlich, und zwar einige Monate nach dem Auftreten der ersten Symptome. Sie überraschte Harry eines Nachts in einem der Korridore von Hogwarts, unweit des Eingangs zu den Räumen der Hufflepuffs. Harry konnte sich weder daran erinnern, was er dort suchte noch wie er dorthin fand. Eine Erinnerung an Worte und Absichten fiel ihm genauso schwierig, aber eine Sache wird er bis an sein Lebensende nicht vergessen können, wenngleich er sie unzählige Male aus dem Gedächtnis zu löschen versuchen wird.

Harry wird sich für immer erinnern können, wie er plötzlich und grundlos im dunklen Gang Malfoy küsste. Er wird sich an das Staunen, die etwas raue Oberfläche der Lippen, den Rhythmus des Atems, den beschleunigten Herzschlag und die harte Wand hinter seinem Rücken erinnern können. Er wird sich an seinen Gedanken erinnern können, wie anders dieser Kuss war als die ungeschickten Versuche zwischen ihm und Cho. Er wird sich vor allem an die paar Sekunden erinnern, in denen auch Malfoy anscheinend verrückt wurde. Er wird sich erinnern, wie es war, wenn der eigene Wahnsinn einen anderen Wahnsinn traf und wenn man zu zweit den Kopf verlor. Er wird sich an den flüchtigen Gedanken erinnern, der all das mit einem Flug zur Sonne verglich.

Obwohl er es nie zugeben wird.

Neunter Tag (2)

Es sieht ein wenig wie ein Stillleben aus, auch wenn es sogar zwei lebendige Figuren auf der Bühne gibt. Man müsste jedoch ganz genau hinschauen, um überhaupt eine Bewegung bemerken zu können.

»Hallo«, sagt schließlich der blonde Mann und erschauert beim Klang der eigenen rauen Stimme. Er trägt so viel Unsicherheit in sich, dass man sie selbst in der Art, wie er die Hände zusammenfaltet, deutlich erkennt.

»Hallo«, antwortet der schwarzhaarige Mann und reißt sich endlich von dem Türrahmen los, das Zimmer betretend. Im Hintergrund bemüht sich eine kurz geschorene Krankenschwester, nicht aufzufallen und gleichzeitig doch etwas von dem Wortwechsel mitzubekommen. Keiner der beiden Männer nimmt Notiz von ihr. Sie schauen sich gegenseitig mit größter Intensität an. Als ob der Spruch „jemanden mit den Augen zu verschlingen" von ihnen tatsächlich buchstäblich verstanden wäre und sie einen unbeschreiblichen Hunger aufeinander verspürten.

Der blonde Mann bricht als erster das Schweigen. »Verzeihung«, sagt er und senkt den Blick. »Entschuldige, dass ich dich so anstarre.« Er schaut kurz von seinem Bett hoch, doch das Gesichtsausdruck seines Gastes verändert sich kein bisschen. »Es ist so verdammt seltsam… Man hat mir gesagt, du würdest mich kennen und…«, der blonde Mann verstummt kurz und quetscht mit den Händen ein Stück des Bettüberwurfs. Seine Finger bewegen sich chaotisch und nervös. »Es ist etwas erschreckend, so gar nichts über sich selbst zu wissen…« Er lacht auf. Kurz, zu kurz, um gut zu klingen. Eine weitere nervöse Grimasse. »Du denkst dir sicherlich, ich wäre verrückt, aber… Du kommst hier rein und du weißt… du weißt diese vielen Dinge… Du weißt, was ich mag, wo ich immer hingehe, was ich lese, ob ich eine Familie habe… Du weißt, wer ich bin… Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, aber du weißt es und…«

Sein Wortschwall wird jäh unterbrochen, als ob es eine Geschichte erzählte, die ihr Ende verloren hatte. Der dunkelhaarige Mann kommt auf das Bett zu und setzt sich an seine Kante. Dann streckt er langsam die Hände und lockert sanft die Finger, die sich in der Decke festkrallen.

Der blonde Mann hebt den Kopf und zum ersten Mal bemerkt er grüne Augen, die ihn hinter den Brillengläsern anschauen. Es sind wohl die schönsten Augen, die er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Er ist sich sicher, dass er schon früher so gedacht haben musste. Er musste so gedacht haben. Selbst, wenn er im Laufe seines Lebens in Tausende von anderen, nun vergessenen Augen gesehen hatte.

»Alles wird gut«, sagt der dunkelhaarige Mann. Sein Lächeln wirkt unsicher, als ob er es selten täte. »Ich werde dir alles, was du vergessen hast, erzählen.«

XXX

Einige Tage später fand Draco Malfoy Harry irgendwo in einer anderen Dunkelheit und in einem anderen Gang und alles endete so, wie es hätte beim ersten Mal enden sollen, also mit einem heftigen Streit. Harry wusste nicht mehr genau, worum es ging und welche Worte zwischen ihnen fielen, aber eins war im klar: es war ein authentischer, stürmischer Streit. Er wusste auch, dass der Krach nicht viel brachte. Alles fing mit dem Geschrei an und endete mit einem Kuss, und Harry Potter musste zum zweiten Mal in seinem Leben die Schande der Rettung durch die Flucht erfahren.

Die sich dann aber nicht als die endgültige Lösung erwies. Eine Zeitlang ging Harry Malfoy aus dem Weg, wie er nur konnte. Er wählte andere Etagen, andere Stunden, andere Anlässe. Und obwohl ihm die Karte des Herumtreibers einige Vorteile verschaffte, manches konnte er nicht vermeiden. Im Zaubertrankunterricht versuchte Harry Potter, sich ganz auf Snapes Aufgaben zu konzentrieren, und doch erwischte er sich die ganze Zeit selbst dabei, Malfoy anzustarren. Er wartete auf seinen nächsten Zug. Die Sünde wurde begangen, nun müsste man wohl die Sühne abwarten. Draco Malfoy war ihm überlegen, denn er hatte einen Ass im Ärmel, mit dem er alles gewinnen und die Runde für sich entscheiden konnte. Es verging ein Tag, dann der zweite und der dritte. Malfoy mied den Blickkontakt und es passierte absolut nichts.

Harry gewann schon wieder beinahe sein ganzes inneres Gleichgewicht, als der Wahnsinn mit doppelter Wucht zurückschlug. Es regnete in Strömen und Harry beobachtete, wie Draco Malfoy blindlings über den Sportplatz auf die Schule zu rannte. Er war nicht im Stande, sich von der Stelle zu rühren. Malfoy schien kaum was sehen zu können, denn er lief aufs Geratewohl, die Hände schützend über dem Kopf zusammengeschlagen. Eine Kollision war unvermeidbar und Harry öffnete weit die Arme, als ob er eine Schlussszene aus einem romantischen Film nachspielen wollte.

Danach gab es immer das Gleiche. Einige Tage lang gingen sie in den Gängen gleichgültig aneinander vorbei, einige Tage lang spielten sie sich gegenseitig Hass vor. Dann kam ein zufälliges Treffen im Dunkeln, der etwas Entgegengesetztes brachte, das weiterhin keinen großen Sinn hatte und ganz sicher nicht vernünftig war. Der Wahnsinn nahm einen Rhythmus und eine Leichtigkeit von wiederkehrenden Motiven an. Die Rettung durch Flucht kam immer seltener vor und die Begegnungen gewannen immer größere Bedeutung. Die Hände wagten sich von Mal zu Mal immer tiefer vor und der Körper übernahm eine immer wachsende Kontrolle über die Situation.

Irgendwann, inmitten von all dem dachte Harry, dass sich Alice so fühlen musste, als sie in den Kaninchenbau gefallen war. Tiefer, tiefer, tiefer… immer tiefer. Der Fall, der ganz bestimmt kommt, wird ganz sicher schmerzhaft sein.

Elfter Tag

»Also, nun fühle ich nur noch einige Formulare aus und schon dürfen die Herren gehen. Der Name Ihres Freundes, bitte?«

»William Black.«

»William?«

Der Mann lächelt leicht mit fröhlicher Genugtuung, wie ein selbstzufriedenes Kind.

»Wie Prinz William, der Earl of Strathearn.«

Die Oberschwester schaut ihn an mit dem Blick einer Frau, die zwei Söhne großgezogen hat und sehr wohl den Anklang von kindischen Blödeleien erkennen kann. Sie ist sich fast sicher, dass sich der Patient aus dem Zimmer 45 in einem seiner Lebensabschnitte des Spitznamens „das Prinzlein" rühmen durfte.

»Ein interessanter Zufall«, meint sie. »Wir haben nicht gewusst, wie wir ihn nennen sollen, und so habe ich ihn Billy genannt. Nach Billy Idol.« Das Gesicht des Mannes reagiert mit vollkommener Leere und die Oberschwester kommt sich plötzlich sehr alt vor. »Nicht so wichtig«, fügt sie hinzu und setzt das Ausfüllen des Formulars fort. »Das Geburtsdatum?«

»Fünfter Juni 1980.«

»Führerscheinnummer?«

»Er hat keinen.«

Die Oberschwester hebt verwundert eine Augenbraue, kommentiert es aber nicht weiter. Es mag sein, dass man ihn überallhin in einer Limousine chauffiert hatte. Was kann sie letztendlich über diesen Mann wissen?

»Die Telefonnummer? Die Anschrift?«

Der Mann seufzt. »Wir sind gerade dabei, umzuziehen, verstehen Sie?«

Die Oberschwester gibt unter der Kraft der flehenden Blicke nach. Es ist ja gar nicht so ungewöhnlich zu dieser Zeit. Im Februar wurden größere Teile einiger Londoner Bezirke zerstört und der Wiederaufbau dauerte immer noch an. »Dann vielleicht eine Anschrift von irgendwelchen Bekannten? So, dass man Sie im Notfall erreichen könnte?«

»Grimmauldplatz 12.«

Die Adresse kommt der Oberschwester sehr merkwürdig vor. »London?«

»Ja, London.«

»Na gut«, meint sie schließlich und heftet den Papierstapel zusammen. »Bitte noch hier unterzeichnen.« Der Mann befolgt gehorsam die Aufforderung. »Sie haben zwar bereits mit Doktor Howards gesprochen, aber vielleicht haben Sie noch weitere Fragen?«

Der Mann schweigt eine Weile, unsicher darüber, ob er überhaupt nach irgendetwas fragen wollte. »Wie hoch sind die Chancen, dass sein Gedächtnis wiederkommt? Ihrer Meinung nach?«, fragt er dann. »Doktor Howards meinte, es wäre durchaus möglich, dass es niemals passiert. Gibt es etwas, womit ich ihm helfen könnte?«

»Sie helfen ihm am besten, wenn Sie in seiner Nähe bleiben«, antwortet die Oberschwester sanft. »Es wird ein wenig dauern, bis er wieder selbstständig wird. Und was das Gedächtnis anbetrifft, dann am besten können die vertrauten Dinge helfen. Orte, Gesichter, Beschäftigungen. Sie sollen die Schauplätze besuchen, die er gemocht und die Menschen, die er gern hatte, genauso wie die, die er nicht leiden konnte. Sie können sein Lieblingsspiel spielen oder denselben Sport treiben wie früher. Die Vergangenheit wiederholen. So wenig wie möglich daran verändern. Denselben Kaffee trinken und dieselbe Marmelade auf das Toastbrot streichen. Und so weiter.«

Der Mann scheint jedes ihrer Worte zu verschlingen und nickt ab und zu mit fest entschiedenem Gesicht. Sie ist sich ganz sicher, dass er mit der Herausforderung klarkommt.

XXX

Am besten lief es, wenn sie sich gar nicht mehr sahen. Wenn sich ihre Blicke nicht im Raum des Großen Saals über den Köpfen der anderen Schüler trafen oder wenn sie durch dicke Mauern, unzählige Etagen und Wände getrennt wurden.

Dann konnte Harry so tun, als ob er es unter Kontrolle hätte. Er konnte sich auf das Nötige konzentrieren oder mit Ron und Hermine so sprechen, als ob nichts wäre. Er konnte Hausaufgaben machen und über die todlangweiligen Texte in den Schulbüchern meckern. Er konnte in der letzten Minute Essays im Gemeinschaftsraum schreiben, mit Ron und einem Teller heimlich aus der Küche stibitzten Nusskeksen als Gesellschaft. Er konnte Cho anschauen und gar nichts dabei fühlen, gleichzeitig daran denkend, wie wunderbar es war, manchmal gar nichts fühlen zu müssen. Er konnte auch die Begeisterung darüber in etwas mehr verwandeln und versuchen ein Märchen für die Menschen auszudenken, die Sicherheit für Glück hielten.

Am besten war es, wenn sie sich gar nicht mehr anfassten, wenn es keinen beschleunigten Atem, keine zufällige Handberührung oder keinen beunruhigenden Hautkontakt mehr gab.

Dann musste man sich nicht so anstrengen. Man konnte so tun, als ob man nicht von hellblonden Haaren träumen würde. Man konnte Cho küssen und sich selbst zu überzeugen versuchen, dass es war, was zählte. Man konnte dieses Theater weiter spielen und sich einreden, dass Snapes vielsagender Blick nicht das betraf, was Harry so verzweifelt verheimlichen wollte.

Dann aber trafen sie irgendwann schließlich aufeinander und gaben von vorne dem Sog hin, als ob Zeit und Raum keine Bedeutung hätten. Harry schaute Draco in die Augen und sagte, »Ich wünschte, du wärest tot.« Draco lächelte bitter und antwortete, »Gleichfalls.«

Es änderte sich absolut nicht das Geringste.

Zwölfter Tag

Der Augenblick, in dem es heißt, das Krankenhaus zu verlassen, kommt viel zu schnell.

Der Mann, genannt William Black, bringt sorgfältig das Bett in Ordnung. Er rückt die Decke und den Überwurf immer wieder zurecht, ständig unzufrieden mit dem Ergebnis. James Evans steht an der Tür und beobachtet ihn aufmerksam.

Plötzlich lässt William den Überwurf fallen und setzt sich schwungvoll auf das Bett. »Wo wohne ich eigentlich?«, fragt er, James zugewandt. In seiner Stimme schwebt Herausforderung mit.

»Wir haben zusammen in einer Zweizimmerwohnung gelebt, in einem der Stadthäuser, die nach der Explosion in West End eingestürzt sind«, antwortet James ruhig.

»Wo wohnst du denn jetzt?«, bohrt William unnachgiebig weiter und notiert im Gedächtnis, dass James weder einen Straßennamen noch eine Hausnummer genannt hatte. Er möchte also vorsichtig sein. Die Tatsache, dass er dem fremden Mann so gerne trauen würde, heißt noch nicht, dass er es wirklich sollte.

»Ein wenig in einem Hotel, ein wenig bei Bekannten, und ein wenig in…« James wird für einen kurzen Moment still, um dann gleich wieder das Thema mit etwas mehr Energie aufzugreifen. »Es ist nämlich so, dass wir aus der Stad ziehen wollten, irgendwohin in einen kleineren Ort. Irgendwohin ins Grüne. Ab und zu ist einer von uns auf der Suche nach einem Haus unterwegs gewesen. Als es mit deinem Unfall passiert ist, war ich gerade an der Küste. Deshalb auch hat es einige Zeit gedauert, bis ich gemerkt habe, dass dir etwas zugestoßen ist.«

William, der sich selbst immer noch nicht wirklich wie ein William vorkommt, kneift die Augen zusammen und legt den Kopf zur Seite. »Irgendwo an der Küste?«

»In Bournemouth«, bestätigt James.

»Und weiter?«

»Ich habe ein ziemlich nettes Haus gefunden. Auch wenn es nur ein Reihenhaus ist und obwohl man drin ganz sicher malern müsste, da es voll von ekelhaften Blumentapeten ist.« James starrt seine Hände an. »Doch das Haus hat großes Potential. Im Augenblick fasse ich da noch nichts an. Dir sollte es schließlich auch gefallen.«

Es kommt keine Antwort.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Ob etwas nicht in Ordnung sei? William schüttelt den Kopf. Andererseits, ist denn auch überhaupt irgendwas in Ordnung? »Ich weiß nicht recht, ob es einen Sinn hat«, sagt er nach einer Weile.

»Wie bitte?«

»Ob es Sinn hat, mich nach der Meinung zu fragen.«

James verlässt die Fensterbank und setzt sich zu ihm aufs Bett. Nicht zu nah. Nie zu nah. James ist vorsichtig. Das muss auch eine Bedeutung haben, doch William weiß zu wenig, um klar sagen zu können, was es genau ist.

»Warum macht das für dich keinen Sinn?«

»James…«

»James, was?«

William gibt einen tiefen Seufzer von sich. »Ich weiß doch selber nicht, was ich mag. Habe keine Ahnung, was mir gefällt.« Er breitet ratlos die Hände aus. »Ich weiß nicht mal, was meine Lieblingsfarbe ist.«

James lächelt plötzlich.

»Es trifft sich also gut, dass ich Hilfsmaterial mitgebracht habe«, sagt er, steht auf und greift nach der Tasche, mit der er gekommen ist. Er holt eine dunkle Mappe heraus und kommt zurück zum Bett.

»Was ist es?«

»Es sind Farben«, antwortet James zufrieden. Die geöffnete Mappe entpuppt sich als ein Farb- und Musterkatalog. James blättert darin und hält bei einer der ersten Seiten an. »Für den Anfang eine vereinfachte und verkürzte Version.«

»Was soll ich damit machen?«

»Es dir ansehen und feststellen, was annehmbar ist und was nicht.«

William beißt sich auf die Lippe und schaut sich höchstkonzentriert die Farben an. »Gelb fällt weg. Lila ist nicht wirklich gut. Braun auch nicht.« Die falschen Farben aufzuzählen scheint ihm ziemlich leicht zu fallen. »Orange nicht. Rot ebenfalls nicht.«

Nach dem letzten Satz fällt er ins Schweigen, jedoch ohne den Blick von der vorliegenden Farbpalette zu lassen.

»Also sind Blau- und Grüntöne in Ordnung?«

»Ich glaube schon«, sagt William und zuckt mit den Schultern. »Eher grün als blau.«

»Und schwarz?«

»Schwarz ist okay. Aber nicht für die Wände«, merkt er an.

James schenkt ihm ein ironisches Lächeln. »Verstehe, keine schwarzen Wände. Und was sagst du zu grau?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht so leicht silbrig?«

»Grün, schwarz und silbergrau«, sagt James und lächelt in sich hinein, als ob es etwas Wichtiges bedeuten würde.

»Und rosa«, fügt William nach einer Weile hinzu, obwohl James nichts mehr von ihm zu erwarten scheint.

»Rosa?«

James wirkt dermaßen schockiert, dass William ganz deutlich spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt. »Es scheint so«, meint er und überlegt, ob seine Wangen jetzt selbst genauso rosa aussehen wie der erwähnte Farbton. Er hofft, es ist nicht der Fall. Das wäre zu demütigend. Er muss nicht seine gesamte Kindheit in Erinnerung haben, um zu wissen, dass rosa keine passende Farbe für Jungs ist.

Als er dann aber den Kopf hebt, gibt es in James' Augen keinen Spott. Stattdessen sieht man in ihnen etwas beinahe Trauriges. »Nun, gerade das hätte ich nicht vermutet«, sagt er dann und lächelt William zu.

XXX

Als Sirius starb, ging etwas in Harry zugrunde. Es riss nur ein wenig, nicht endgültig, und trotzdem fühlte sich Harry so, als ob man ihm etwas entrissen hätte, ein Stückchen von ihm wegnahm und ins Ungewisse schickte, weit weg hinter den nebligen Horizont.

Eine Zeitlang tobte Harry vor Wut. Er schrie und verzweifelte, und dieses Etwas in ihm drin, sein eigenes kleines schwarzes Loch wuchs unaufhörlich und unerbittlich, als ob es ihn verschlingen und bis zum Letzten verdauen wollte, bis nicht mal ein Krümel von ihm übrig blieb.

Hermine sagte, dass Harry sich damit abfinden würde. Sie sagte ihm auch, dass die Zeit alle Wunden heile. Alle wiederholten den Satz wie einen Zauberspruch, von dem es Harry besser gehen sollte. Viele Tage lang besserte sich nichts und Harry begann zu denken, dass es wohl kein Ende nehmen wird und die Zeit gar nichts zu ändern vermag.

Eines Abends traf er dann Draco Malfoy. Er sah ihn leidenschaftslos an und schien nichts zu fühlen. Endlich, dachte er, endlich bin ich wieder heil, wieder ich selbst. Die Rückkehr aus dem Land des Wahnsinns freute ihn aber nicht so, wie sie sollte. Harry mochte es gerne dabei bewenden, jedoch kurz, bevor sie auseinander gingen, erwischte Harry Malfoys Blick und alles fing wieder von vorne an.

Es gab etwas Seltsames in Dracos Augen. Harry verstand plötzlich, dass auch mit Malfoy etwas nicht stimmte und dass auch er eine Leere in sich trug, einen Riss, etwas, was ihn langsam und unaufhörlich zu Staub zermalmte. Und so kam es, dass Harry die Hände ausstreckte, mit Unsicherheit, als ob er etwas zum ersten Mal berühren würde. Er dachte dabei, auch wenn es ihm selbst töricht erschien, dass vielleicht seine eigene Leere und das Gerissene, das Spuren in Malfoys Augen hinterlassen hatte, irgendwie zueinander passten. Vielleicht versteckte sich das, was man ihm wegnahm, ausgerechnet hier, in Malfoy. Vielleicht brauchte man nur die Hände danach zu strecken.

Mitten im Weg begegneten ihm andere Hände.

Etwas hat sich verändert, dachte Harry, noch unsicher, ob es Tatsache oder eine weitere Einbildung sei.

Dreizehnter Tag

In Bournemouth kommen sie zwei Tage später an, gegen Abend. Zwischen dem Beginn und dem Ende der Reise gibt es viele Gleise und mehrere Stationen. William ermüdet schnell und verträgt schlecht die Anwesenheit von fremden Menschen, daher warten sie die Stunden des Berufsverkehrs ab in kleineren Orten, in leeren, stillen Gaststätten und im Grünen auf Bänken mit absplitternden Anstrich. James sagt kaum etwas, William wiederum konzentriert sich darauf, die eigenen Bewegungen und Emotionen zu beherrschen, somit bilden sie ein ziemlich schweigsames Duo. Manchmal schaut sich jemand nach ihnen um, als ob er sie aufhalten wollte. Oder es kommt William nur so vor.

William. William Black. Black William. William Black. William? Bill? Billy?

Der Name hört sich nicht richtig an, egal, von welcher Seite er auch ihn auch rannimmt.

An einer der Stationen kauft ihm James ein Notizheft mit einem Stift, ohne zu fragen, wozu ihn William überhaupt braucht. William fühlt sich nicht ganz wohl damit, dass jemand für ihn bezahlt, doch er tut so, als ob es ihn nicht stört. James tut wiederum so, als ob er nicht neugierig wäre, was William mit dem Heft vorhat.

William. William Black. Ganz bestimmt kein Billy.

Das Heft füllt sich mit gerader, sauberer Handschrift, die etwas beunruhigend Weibliches an sich hat. William wechselt die Schriftart, damit sie weniger geneigt erscheint, doch die Veränderung ist kaum wahrnehmbar. Sein eigener Name sieht wie ein Stück von einem fremden Leben aus.

Gelegentlich späht William über den Rand des Heftes zu James hinüber, der aus dem Zugfenster in die vorbeirauschende Landschaft schaut. Er sieht sich sein starres Gesicht an, in dem sich dunkle Augenringen leicht abzeichnen und überlegt, was sich dahinter verbergen mag, von dem er noch nichts wissen kann. Er ist überzeugt, dass hier etwas nicht stimmt. Immer wieder kommt ihm der Gedanke, den Mund aufmachen zu müssen und dieselben, ständig aufs Neue aufkommenden Fragen zu stellen. Wer bin ich? Wer bist du? Woher kennen wir uns? Warum glaube ich, dass du lügst? Dann aber dreht sich James zu ihm um und sie sehen sich lange in die Augen. Sämtliche Fragen gehen im Grün der Irisringe unter. William schüttelt sie ab und wendet sich wieder dem Füllen der Heftblätter mit seinem Namen und Vornamen zu.

William Black. William Black.

Eines Tages wird er ganz sicher sein Zuhause und seine Erinnerungen darin finden.

XXX

Es vergingen einige Tage und mehrere Treffen, bei denen keiner von ihnen etwas sagte oder nur ganz wenige Worte von sich gab. Beide wurden sanfter in Angesicht ihrer kleinen und großen Niederlagen, beide dem Inneren zugewandt, geschlossen in den eigenen Welten, die sich stets um sie selbst drehten. Sie sahen die Dinge immer noch völlig anders und schauten in die entgegengesetzten Richtungen, aber wenn die Spannungen nachließen und nichts mehr außer der Ruhe blieb, war die Tatsache schwieriger zu erkennen und Harry redete sich ein, dass dies der Anfang vom Ende sei und keine kurze Unterbrechung. Er versuchte sich einzubilden, dies wäre die richtige Veränderung ihres Verhältnisses und was auch immer später kommen mochte, alles würde ganz anders werden. Er versuchte sich selbst zu überzeugen, dass es sowieso keine Rückkehr mehr in die Vergangenheit gab.

Alles wurde still, ruhig und einfach. Harry Potter schloss die Augen, verbarg das Gesicht an einer fremden Schulter und vergaß für eine Weile die ganze große Welt um ihn herum.

Vierzehnter Tag

Sie kommen hinein. James hält am Teppichrand an. »Und, was meinst du?«

Die ungeduldige Spannung steht ihm im Gesicht geschrieben und auch wenn William noch kaum Zeit hatte, um geheime Botschaften von seinem Gesicht ablesen zu lernen, weiß er, dass James sich seiner Reaktion nicht ganz sicher sei. Und dass er hofft, sie wird positiv ausfallen.

»Ich kann hier ein ziemliches Potential erkennen«, sagt er endlich, obwohl es ihn einige Mühe kostet.

»Echt?« James lächelt leicht und kann es immer noch nicht wirklich glauben, während William sich die größte Mühe gibt, nicht zu genau in die Ecken zu schauen.

Das Haus ist ein typischer Zweifamilienbau aus rotem Backstein. Eins von denen, die man praktisch in jedem englischen Vorort antreffen kann. Die Krönung der Durchschnittlichkeit mit vernachlässigtem, wenn auch recht großen Garten.

Dafür ist das Innere des Hauses eine Katastrophe. Es gibt Tapeten mit ausladendem, feinen Blumenmuster, Teppiche, die so tun, als ob sie edel wären und schwerfälliges Mobiliar aus der kitschigsten Phase der viktorianischen Zeit. Und überall Kleinkram, als Schmuck gedachtes Klimbim und sonstige undefinierbare Elemente, die es zur Aufgabe haben, den Raum angenehmer fürs Auge zu gestalten, die aber einen genau umgekehrten Effekt erzielen.

William seufzt tief, nachdem er sich vergewisserte, dass James nicht zu ihm hinschaut. Das Potential gibt es tatsächlich, doch um zu ihm zu gelangen, müsste man zuerst das Haus in die kleinsten Einzelteile zerlegen.

Wenigstens habe ich was zu tun, denkt er und überlegt, was man zuerst aus dem Haus entsorgen sollte. Seine Gedanken füllen sich sogleich mit Farben, Fakturen und Formen. Hin und wieder spricht er eine Idee laut aus, und James sieht zu, ihm aus dem Weg zu gehen und gelegentliches bestätigendes Gemurmel verlauten zu lassen.

Diese plötzlich aufgetauchte Aufgabe scheint Wunder zu bewirken. William wird mit jedem Moment immer gelassener. Mag sein, dass er sich nicht erinnern kann, was er vor einem Jahr tat oder wo er zum ersten Mal auf James traf, doch alle Zeichen deuten darauf hin, er habe Ahnung, was man an die Wände hängt, wenn man sich ein Zuhause wünscht, das die Besucher nicht abschreckt. William spürt aufkeimende Hoffnung, dass es wohl Sachen gibt, die man nie ganz vergisst. Und er erkennt darin einen klaren Beweis für etwas, wo er sich viel besser als James bewährt. Sehr rasch entdeckt er, dass es ein sehr angenehmes Gefühl ist, anderen überlegen zu sein. Für alle Fälle beschließt er jedoch, diese Entdeckung nicht allzu sehr zur Schau zu stellen.

James Evans ist vielleicht nach wie vor ein unklares Rätsel, er ist aber auch alles, was William hat.