Nach so vielen Jahren

von Kira Gmork

"Es ist so lange her...so lange, dass wir uns zuletzt sahen. Bitte erzähle mir, wie es dir in all den Jahren ergangen ist."

Das Licht war gedämpft und die Kerze auf dem Tisch vor ihnen flackerte leicht, als neue Gäste das Restaurant betraten. Dieses Wiedersehen kam Hermine so unwirklich vor, dass sie sich zum wiederholten Male fragte, ob es nur ein Traum sei.

"Ich kann mich nicht beklagen. Das Leben hat es gut mit mir gemeint", erwiderte Hermine und sah ihrem Freund aus Kindertagen in die Augen.

Für einen Moment hatte sie beinahe geglaubt, er würde nach ihrer Hand greifen, doch im letzten Augenblick hatte er seine Finger vor sich auf der Tischplatte ineinander verschränkt.

Hermine betrachtete ihn eingehend. Er sah so völlig anders aus als früher. Die für ihn so typische Brille war Kontaktlinsen gewichen; das damals dichte schwarze Haar war von silbernen Strähnen durchzogen. Die Narbe auf seiner Stirn war unverkennbar, doch die auf seiner rechten Wange fiel bei weitem noch mehr ins Auge. Auch diese war inzwischen verblasst, doch sie kündete von der letzten großen Schlacht, die Harry fast mit dem Leben bezahlt hatte. Dies schien beinahe in einem anderen Leben gewesen zu sein, und es war ruhig um den ehemaligen Kriegshelden geworden.

Hermine kam zu dem Schluss, dass er zufrieden aussah.

"Wie geht es Faye?", fragte Hermine und bemühte sich um ein freundliches Lächeln.

Harrys Hände krampften sich etwas mehr ineinander, doch auch er bemühte sich um einen neutralen Ton.

"Es geht ihr gut. Die Kinder halten sie in Atem. Mich auch, um ehrlich zu sein. Debby wird demnächst heiraten."

Hermine stieß einen überraschten Laut aus und schüttelte ungläubig den Kopf.

"Meine Güte, sie ist jetzt wie alt?"

Harry sprach so, als könne er es selbst nicht glauben: "Sie wird zweiundzwanzig, in diesem Sommer."

"Bist du mit ihrer Wahl glücklich?", erkundigte sich Hermine.

Harry schüttelte knapp den Kopf. "Ja,...doch."

Ein Lachen entfuhr Hermine, dann fragte sie neckend: "Warum machst du dann eine verneinende Geste?"

"Es ist nicht einfach, die Kinder gehen zu lassen. Ich hatte es mir nicht so schwer vorgestellt - vielleicht hatte ich einfach keine Vergleichsmöglichkeiten", erwiderte Harry nun lebhafter.

Hermine schwieg einen Moment. Harry hatte in seiner Kindheit das Konzept Familie nicht sonderlich positiv vor Augen geführt bekommen. Es erstaunte sie nicht, dass er Debby für sich behalten wollte, so lange es ging. Es erstaunte Hermine auch nicht, dass die Familie für Harry das Allerwichtigste gewesen war, nachdem er sich in Faye verliebt hatte. Faye, die wunderschöne, und doch so unendlich eifersüchtige Faye.

Harry schien lesen zu können, was sich in Hermines Gedanken abspielte, und für einen Moment schlug er die Augen nieder.

"Was damals geschehen ist...es tut mir leid, Hermine...", doch sie unterbrach ihn sofort.

"Es ist gar nichts geschehen, Harry. Es war ein Missverständnis, das wir leider nie aufklären konnten. Aber inzwischen glaube ich, dass es besser so war. Du und Faye, ihr seid glücklich, und ich war eine Gefahr für sie...egal, ob es begründet war oder nicht...es ist gut, dass es so gekommen ist, denn sonst würdest du heute keine Sorgenfalten im Gesicht bekommen, wenn du daran denkst, deine ältere Tochter hergeben zu müssen."

Harry präsentierte ihr gleich ein paar dieser Sorgenfalten, als er sie nun entschuldigend ansah.

"Ich hätte damals anders reagieren müssen, es tut mir leid, Hermine."

"Du warst verliebt, und Faye hätte es eigentlich sehen müssen, dass du dank ihr völlig blind für alles andere warst. Aber lass uns nicht mehr darüber reden - diese Wunden sind längst verheilt."

"Ich habe ihr gesagt, dass wir uns heute treffen", sagte Harry und beobachtete sorgfältig Hermines Reaktion darauf.

"Was hat sie dazu gesagt?", fragte Hermine interessiert.

"Nun, sie sagte mir, dass ich dir Grüße ausrichten soll."

Hermine konnte es nicht verhindern, dass ihr ein Schnauben entfuhr.

"Inzwischen sieht sie mich wohl nicht mehr als Gefahr an. Vielleicht liegt es an meinem neuen Image. Auf dem Foto, das seit neuestem von meinem Verlag veröffentlicht wird, sehe ich verdammt alt aus - ach, was soll's, ich BIN alt."

Diesmal war es Harry, der ihr ins Wort fiel.

"Du BIST nicht alt. Du bist immer noch wunderschön. Auf eine gefährliche Art schön."

Hermine sah ihn überrascht an und bemerkte, wie er plötzlich seine Hände damit beschäftigte, die Tischdecken glattzustreichen.

Sie erwiderte nichts auf das Kompliment, denn sie wussten beide, dass es seinem letzten Satz eine zu tiefe Bedeutung verliehen hätte.

"Was macht dein neues Buch?", erkundigte sich Harry statt dessen.

Hermine winkte ab.

"Es sind bislang nur ein paar Seiten - es werden noch Monate vergehen, bis es Gestalt angenommen hat."

Harry nickte und hielt dann inne: "Und du willst wirklich über IHN schreiben? Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Wie lange sitzt er jetzt schon in Askaban?"

Statt direkt darauf zu antworten, erwiderte Hermine schlicht: "Sie werden ihn nicht wieder herauslassen, egal wie lange er lebt, sie behalten ihn dort."

Harrys Blick wurde finster.

"Ich weiß, dass du dich gerade besonders intensiv mit seiner Geschichte befasst, aber damals in der großen Schlacht - er hätte uns beinahe alle getötet. Warum schreibst du ausgerechnet über ihn? Was fasziniert dich an seinem Fall?"

Nun war es an Hermine, die ohnehin glatte Tischdecke mit den Händen zu bearbeiten.

"Ich möchte die Dinge von damals für mich selbst klären - und wie Schriftsteller das so zu tun pflegen, reicht es mir nicht, darüber nachzudenken, sondern ich muss gleich ein ganzes Buch über ihn schreiben." Hermine versuchte mit einem Lächeln das Gesagte zu entschärfen, doch es gelang ihr nicht.

"Es ist lange her, dass diese Dinge geschehen sind. Glaubst du nicht auch, dass es besser wäre, all das hinter dir zu lassen, statt es wieder auszugraben? Was er damals getan hat...Hermine, willst du das etwa auch in deinem Buch verarbeiten? Ich kann nicht glauben, dass du ihm die Genugtuung geben willst, indem du der Öffentlichkeit preis gibst, was er dir damals antat."

"Ich möchte mit dir nicht über ihn reden", sagte Hermine plötzlich bestimmt, dann wurden ihre Augen schmal, "ist ER der Grund, warum du dich plötzlich mit mir treffen wolltest? Erst vorgestern erschien der Zeitungsartikel über meine neue Arbeit, und gestern meldest du dich plötzlich nach all den Jahren, um dich mit mir zu treffen. Selbst den Zorn deiner Ehefrau hast du dafür in Kauf genommen - liegt es an ihm? Harry, liegt es an Snape, dass wir jetzt hier zusammensitzen?"

Einen Moment hatte ihr Gegenüber zu lange gezögert und Hermine schnappte hörbar nach Luft.

"Das ist es also! Als du mir deinen Brief geschickt hast, da glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu können. All die Jahre über hast du lieber Abstand von mir gehalten, damit Faye nicht Amok läuft, wenn sie mich sieht. Ich war ihr nie geheuer und sie hat dir gedroht, dich zu verlassen, wenn wir weiterhin Kontakt haben. Ich habe das akzeptiert, deinetwegen. Du hast mich auch nie so sehr vermisst, dass du deiner Frau den Unterschied zwischen einer innigen Freundschaft und einer Affäre klar gemacht hättest, aber jetzt...jetzt, da ich über Severus schreiben möchte, da lodert der Zorn in dir so hoch, dass du all deine Vorsicht vergisst, und dich mit mir treffen willst. Ich glaube das nicht, Harry Potter...ich will das eigentlich nicht glauben!"

Einige andere Gäste sahen zu ihnen hinüber, doch weder Harry, noch Hermine bemerkten sie. Wütend starrten sie sich eine Zeit lang an, als ein leises Räuspern erklang und der Kellner damit um ihre Aufmerksamkeit bat.

"Haben die Herrschaften schon gewählt?", fragte er auf äußerste Höflichkeit bedacht, als wolle er seinen Gästen damit ebenfalls diesen Kodex in Erinnerung rufen.

"Später", knurrte Harry ihn an, worauf der Kellner sich prompt entfernte.

Hermine rief dem Mann hinterher: "Bringen Sie mir einen Weißwein", ehe sie Harrys Blick erwiderte. Sie wusste, was als nächstes kommen würde.

"Du hast ihn Severus genannt. Himmel, Hermine...ich begreife das alles nicht, wieso ist dieser Mörder plötzlich Severus für dich?"

"Er bot mir an, ihn beim Vornamen zu nennen, als ich ihn zuletzt in Askaban besuchte."

Diese Information schien eine halbe Ewigkeit zu brauchen, ehe sie in Harry Gehirn Fuß gefasst hatte.

"Du hast ihn besucht?"

"Wie sonst sollte ich wohl meine Recherchen komplettieren können. Es ist immer schwer, über jemanden zu schreiben, und es wäre geradezu unsinnig, keine Fragen an die Person zu richten, über die man schreibt, wenn sie noch lebt und man damit diese Option hat."

"Du redest mit dem Kerl? Du nennst ihn Severus?" Bei Harry klang der Vorname seines ehemaligen Lehrers jedesmal wie ein anstößiges Wort, wenn er ihn aussprach; dann fuhr er leiser fort: "Hast du vergessen, was er mit dir gemacht hat?"

"Nein, das habe ich nicht! Ich habe ihn auch danach gefragt", erwiderte Hermine betont ruhig.

"Na, da bin ich aber gespannt", sagte Harry, verschränkte die Arme und lehnte sich erwartungsvoll zurück, wobei er ein spöttisches Lächeln aufsetzte.

Hermines Gesicht verschloss sich, als sie nun entschieden sagte: "Du wirst es in meinem Buch nachlesen können. Und nun lass uns endlich bestellen, damit dieser Abend nicht in einem völligen Desaster endet!"

tbc (sofern ihr neugierig seid, was in der Vergangenheit passiert ist, und was in Zukunft passieren wird - so lasst es mich wissen)