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Halb Trost, halb Entschuldigung

4. Kapitel: Liebe

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Liebe, fast greifbare Liebe, durchflutete Lupins Nervenbahnen. Tonnen von außer Kontrolle geratenen Neurotransmittern kitzelten seine Synapsen. Ihm war als stünde er unter Strom. Snape hingegen sah so aus, als wäre jeder seiner Muskeln erschlafft. Nur noch die bleiche Haut schien seine Knochen und Organe zusammenzuhalten. Er wirkte um Jahre gealtert.

Für ein Grundstück mitten im Herzen der britischen Hauptstadt war der Garten des Hauses am Grimmauld Place 12 ungewöhnlich weitläufig. Knorrige Platanen umsäumten ein großes, gepflegtes Rasenstück. Vereinzelte Rosensträucher, die im Frühling wundervolle weiße Blüten trugen, lockerten das Gesamtbild etwas auf. Jetzt, im Spätsommer, wirkten die Pflanzen allerdings alle etwas ausgedörrt.

Remus fühlte das Adrenalin durch seine Adern jagen, als er sich neben den anderen Mann auf eine der gusseisernen Bänke setzte. Er war seit der Rückkehr vom Ministerium nicht mehr von Snapes Seite gewichen, und Ginny und Harry hatten auch ohne Worte verstanden, dass die beiden Zauberer nun etwas Zeit für sich brauchten. Ihre Fragen konnten sie auch noch später stellen. Viel später. Der Krieg war vorbei. Sie hatten alle Zeit der Welt.

Die Bank war vom Licht der Sonne angenehm aufgewärmt. Remus blickte zur Black'schen Villa. Das Gebäude konnte einen neuen Anstrich vertragen. Das Küchenfenster war geöffnet, und Remus war sich sicher, dass dort drinnen Ginny, Harry oder alle beide saßen und dann und wann einen neugierigen Blick in den Garten warfen. Sollten sie doch, er hatte nichts zu verbergen. Er fühlte sich so sicher wie seit Monaten nicht mehr.

Remus sah wieder zu Snape, der leicht gebückt neben ihm mehr auf der Bank kauerte als saß und auf seine Hände starrte. Das Sonnenlicht reflektierte schwärmerisch auf der glatten Oberfläche seines Silberrings. Die Gefängniskluft wies einige Löcher und Risse auf, und Remus fragte sich unweigerlich, ob es fair war, gerade jetzt mit Severus zu sprechen. Der Mann brauchte dringend ein Bad, eine Rasur und frische Kleidung.

„Können wir reden? Oder möchtest du dich erst waschen?", begann Remus vorsichtig das Gespräch.

Severus schwieg. Seine Fingernägel hinterließen kleine halbmondförmige Abdrücke auf dem weißen Fleisch seines rechten Handrückens. Er zitterte wieder, und Remus fragte sich, ob er ihn wohl berühren durfte. Er verspürte den tiefen Wunsch, diesem Mann etwas von der Wärme und Geborgenheit zurückzugeben, die dieser ihm in den dunkelsten Stunden seines Lebens geschenkt hatte. Remus wunderte sich, dass allein die Anwesenheit des anderen Mannes – des Fremden, wie er ihn genannt hatte – ausreichte, um die bedrohlichen Geister der Vergangenheit in den Hintergrund treten zu lassen. Ob sie jemals gänzlich verschwinden würden, wagte er nicht zu fragen.

„Severus, sag' doch etwas", bat Remus nach einer Weile, nachdem er überzeugt war, dass Severus nicht mehr antworten würde.

Severus atmete tief ein. Es klang wie das Rasseln schwerer Ketten. Er hob den Kopf und sah zum ersten Mal seit langer Zeit in Remus' Gesicht. „Warum tun Sie das, Lupin?", fragte er steif. Seine Stimme klang blechern, unbenutzt.

„Fragst du mich das wirklich?", entgegnete Remus mit sanfter Verwunderung. Er versuchte in Snapes schwarzen Augen zu lesen, aber sie waren seltsam matt und trüb. In seiner Erinnerung hatte Snape immer diese stolzen, magischen Augen gehabt. Wo waren sie geblieben?

„Ja, ich frage das wirklich. Was haben Sie mit mir vor?", wiederholte Snape seine Frage, und wenn Remus seinem Instinkt trauen würde, wäre er sich sicher, dass Snape Angst hatte, wenn nicht gar Panik. Remus konnte nicht fassen, dass der Mann, der ihm acht Monate den Hintern gewischt hatte, seine intimsten Stellen inzwischen vielleicht besser kannte als er selbst, mit ihm sprach als wäre Remus sein Gebieter. Das war einfach falsch. Die Zeit dieser mächtigen Ikonen war vorbei: Dumbledore war tot, Voldemort war vernichtet. Es gab keine Gebieter mehr, keine falschen Meister. Und Remus war so oder so die denkbar schlechteste Besetzung für eine solche Rolle. Und dennoch – Snapes Haltung war so demütig, so unterwürfig, so voller ungeschminkter Furcht. Remus konnte sich nicht erklären, womit er dieses Verhalten bei dem anderen Mann ausgelöst hatte.

„Denkst du, ich tue dir etwas an?", fragte er ungläubig.

Snape nickte schwach. Er zog seinen Kopf etwas ein, als wolle er sich schützen. Ein paar Tauben landeten auf der Rasenfläche und watschelten im Gras herum. Die letzten Augustsstrahlen der Sonne glitten über die krummen Äste der Platanen. Lange Schatten wanderten über das Grün der Wiese.

„Wieso sollte ich dir etwas antun?", brachte Remus vollkommen fassungslos heraus. Er konnte sich partout nichts vorstellen, was er getan haben könnte, dass Snape auf solch einen absurden Gedanken kam. Schließlich hatte er ihn gerade vor einer Zukunft in Askaban bewahrt – einer Zukunft, die keine war.

„Rache." Nur ein Wort, aber Remus' Eingeweide zogen sich bei dem Klang von Severus' Stimme schmerzhaft zusammen. Snape hörte sich so schwach an, so gebrochen, so wund.

„Es gibt nichts, wofür ich mich bei dir rächen könnte", erwiderte Remus mit fester Stimme, „im Gegenteil, ich wollte dir danken." Er rutschte etwas näher an Severus heran. In seinen Venen pochte wieder das Blut von innen gegen seine Haut.

„Danken?", echote Snape hohl, „ich habe schreckliche Verbrechen begangen. Ich habe meinen Mentor getötet. Ich habe den Orden verraten. Ich habe Gifte zubereitet, mit denen Menschen gequält wurden. Ich habe…"

Remus unterbrach ihn mit einer harschen Handbewegung. „Das interessiert mich im Augenblick nicht. Wir haben alle schwere Fehler gemacht in diesem schrecklichen Krieg. Und irgendwann möchte ich gern mit dir darüber sprechen, aber nicht jetzt", sagte er entschlossen, „jetzt geht es mir nur um das, was du für mich getan hast. Danke, Severus."

Der trübe Schleier auf Snapes Augen lichtete sich etwas, sie wurden wieder groß, schwarz und unendlich tief. „Ich hätte viel mehr für Sie tun müssen. Danken Sie mir nicht", entgegnete Snape mit solcher Traurigkeit, dass es Remus weh tat. Instinktiv legte er seine Hand auf Severus' magere Finger. Sofort empfand er diese unheimliche Vertrautheit, diese allumfassende Geborgenheit. Und in seiner Seele hörte er wieder die stumme Botschaft dieser Geste. Halb Trost, halb Entschuldigung. Und Snape schien es ebenfalls zu spüren, denn ein kläglicher Seufzer entkam seiner Kehle.

In Remus' braune Augen traten wie so oft in der letzten Zeit Tränen, als er bemerkte, dass nicht nur er diese Berührung brauchte wie die Luft zum Atmen, sondern dass es Severus nicht anders erging. Seine Hand ruhte mit dem Gewicht einer Feder auf Severus' leicht rauer Haut. Und Remus weinte haltlos drauflos. Niemals hätte er für möglich gehalten, dass es in seiner Psyche einen Befreiungsschlag dieser Wucht geben würde, wenn er diese Hände wieder spüren würde. Diese Hände. Alle Erinnerungen kamen zu ihm zurück, und ihr Schmerz war zwar unmittelbarer aber auch erträglicher. Die grausamen Erinnerungen verloren durch diese Berührung ihre dämonische Anziehungskraft. Remus drohte nicht, sich selbst zu verlieren. Der Schmerz war real, kein alptraumhaftes Trugbild, das ihn verschlingen wollte.

„Es tut mir alles so leid", sagte Severus da stockend, und als Remus seinen Kopf etwas zur Seite drehte, konnte er sehen, dass die schwarzen Augen des anderen noch dunkler geworden waren durch die Flüssigkeit, die sich in ihnen sammelte. Ihr tiefes Funkeln gab Snape diesen unglaublichen Zauber von Jugend und Lebendigkeit zurück.

„Alles, ich habe alles falsch gemacht", sprach Severus brüchig weiter, „ich verdiene deinen Dank nicht. Ich verdiene nicht einmal deine Vergebung. Ich verdiene Askaban." Er zitterte wieder am ganzen Körper, aber Remus löste die Berührung ihrer Hände nicht.

„Was haben sie dir angetan?", fragte Remus einem Impuls folgend und blinzelte ein paar neue Tränen weg.

Severus' Stimme klang wie das Winseln eines getretenen Hundes. „Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass die Wachen in Askaban den Todessern in ihren Methoden durchaus das Wasser reichen können." Er wandte schamhaft sein Gesicht ab – eine Geste, die Remus nie an dem stolzen Mann gesehen hatte. Remus spürte Übelkeit in sich aufkommen, als ihm die Bedeutung von Snapes Worten klar wurde.

„Ich wünschte, ich hätte für dich da sein können, wie du es warst", schluchzte er und drückte die fremde und doch so bekannte Hand plötzlich ganz fest. Das Metall von Snapes Ring presste sich glatt und kühl gegen seine brennende Haut.

„Ich habe es nicht anders verdient", meinte Severus ungewöhnlich klar.

„Sei nicht so grausam zu dir", bat Remus heiser vor Traurigkeit, „ich hätte dich befreien müssen. Ich hätte schon viel früher ahnen müssen, dass du es warst. Ich hätte begreifen müssen, dass nur du mein stummer Helfer sein konntest. Ohne dich wäre ich gestorben in diesen acht Monaten. Es tut mir so unendlich leid."

Da saßen sie nun. Der Spätsommerwind spielte liebevoll mit den trockenen Blättern der Rosenbüsche. Die Sonne malte ein bezauberndes Gold auf die Wiese. Severus und Remus hatten sich beieinander entschuldigt, wo es doch nichts zu entschuldigen gab. Alles war gesagt – vorerst. Denn Entschuldigung war nur der halbe Weg zur Heilung. Eine Entschuldigung ohne Vergebung konnte niemals etwas heilen. Und Heilung brauchten sie beide. Sie wussten es und konnten es doch auch so deutlich in den Augen des anderen lesen. All das Leid, all der Schmerz schrie nach dem Trost, den Remus in den letzten sechs Monaten immer gesucht und nirgends hatte finden können. Trost, den er nur in dieser Berührung empfunden hatte, während Snape in den Kerkern des dunklen Lords ihr Ritual vollzogen hatte.

Eigentlich waren Worte zwischen ihnen überflüssig. Beide wussten, was der andere getan hatte. Beide wussten, was sie selbst getan, gefühlt hatten. Remus spürte, dass da etwas heranwuchs zwischen ihnen. Es würde viel Zeit brauchen, viel Geduld, viel Arbeit. Wie ein Samenkorn, das Erde braucht, Wasser und Sonnenlicht und sehr viel Pflege, um irgendwann ein großer, mächtiger Baum werden zu können. Aber zwischen ihnen konnte Remus den Willen spüren, es heranwachsen zu lassen, und das überwältigte ihn so sehr, dass er einfach Worte dafür finden musste, so schlicht und banal sie im Endeffekt auch wären.

Remus konnte sich einfach nicht mehr zurück halten. Er musste es einfach sagen. Die Worte brannten auf seinen Stimmbändern, brachten sie zum Schwingen, obwohl er sie noch gar nicht ausgesprochen hatte. Er wusste, wie irrsinnig dieses überwältigende Gefühl in seiner Brust war, aber es entsprach der nackten Wahrheit. Remus suchte Snapes Augen. Hatten sie eben noch feucht geglänzt, dann waren sie jetzt nass. Mehrere dicke Tränen flossen träge über das hohlwangige Gesicht. Remus seufzte gequält. Er musste es sagen. Es ging nicht anders.

„Du hast mir sehr gefehlt", brachte er krächzend heraus.

„Du bist verrückt, Remus", antwortete Severus, aber Remus spürte, dass Severus das gleiche empfand. Dann schüttelte ein qualvoller Krampf Snapes abgemagerten Körper. Sein Weinen klang wie das Röcheln eines Sterbenden. Er sackte in sich zusammen, und Remus sah das unkontrollierte Zucken seiner Schultern. Snape weinte. Sie waren beide erwachsene Männer, und dennoch saßen sie hier und heulten wie kleine Jungen.

Remus wollte dem anderen Mann das geben, was sein eigener Körper so unmissverständlich als größte Sehnsucht formulierte, seit Snape seine Hände in der Vorhalle des Ministeriums berührt hatte. Remus wusste, dass Snape ihn angefasst hatte, um sich zu verabschieden und jetzt war doch alles anders gekommen. Er riss das wimmernde menschliche Bündel in der stinkenden Sträflingskleidung an sich. Er wollte ihn, wollte den Trost des anderen Körpers, und er fühlte, dass Snape diesen Trost ebenso brauchte.

Remus wiegte den geschwächten Körper Snapes in seinen Armen wie eine Porzellanpuppe. Snape fühlte sich so gut an, so zerbrechlich und doch so sicher. Er roch für Remus auf zauberhafte Weise zu gleichen Teilen nach dem Schweiß und der Angst Askabans und dieser erdigen Würze, die Remus in seiner Haft als so großartig empfunden hatte. Remus fing an, eine Melodie zu summen. Diese Melodie war in seinen Gedanken erschienen, und sein eigenes Summen war ihm nur halb bewusst. Aber es klang gut. Es klang nach Trost. Später würde er nicht mehr zweifelsfrei sagen können, ob es Solvejgs Wiegenlied oder Herzwunden gewesen war, dass ihm über die ausgetrockneten Lippen gekommen war. Aber es war auch egal. Es war Trost. Endlich.

Snape presste sich eng an den warmen Körper des anderen, er schlang seinerseits seine Arme um Remus' Hüften und konnte gar nicht fassen, dass er noch ein Mal in seinem verpfuschten Leben so etwas Wundervolles, so etwas unschuldig Reines erleben durfte. Er hatte nie zu hoffen gewagt, dass Remus ihm verzeihen könnte, und nun spürte er, dass er nie von ihm gehasst worden war. Er weinte wie nie in seinem Leben und hatte das Gefühl unter diesen zärtlichen Händen zu verbrennen. In Scham, in Dankbarkeit, in Liebe. Eine leise Melodie drang an sein Ohr, die er gut kannte. Gedämpft durch den Stoff von Remus' Hemd fiel er in das Summen ein. Später würde er nicht mehr zweifelsfrei sagen können, ob es Peer Gynts Heimkehr oder Letzter Frühling gewesen war, dass ihm über die ausgetrockneten Lippen gekommen war. Aber es war auch egal. Es war Trost. Endlich.

Eine leise Windböe streichelte ihre Haare und bewegte sachte das Gras. Eine graue Taube flog auf und flatterte durch die Luft. Sie flog zum Haus und ließ sich auf dem schmutzigen Marmor der Fensterbank nieder. Ginny trat etwas hinter dem Vorhang hervor, und auch ihr flammend rotes Haar wiegte sanft im Luftzug des Spätsommers hin und her. Der Vogel schreckte erneut auf und verabschiedete sich mit einem empörten Gurren in den Himmel.

Ginny sah eine lange Zeit aus dem Küchenfenster. Ihr war angenehm warm. Sie fragte sich insgeheim, warum es ihr eigentlich so verdammt gleichgültig war, was Remus dazu bewegt hatte, für Snape zu lügen. Ihr angeborener Gerechtigkeitssinn hätte ihr eigentlich verbieten müssen für Snape auszusagen, aber sie redete sich ein, dass sie in Wirklichkeit für Remus ausgesagt hatte. Sie hätte alles getan, um Remus wieder aufrichtig lächeln zu sehen. Sie hätte alles getan, damit Remus wieder gesund werden könnte. Und wenn sie die beiden Männer draußen im Garten so sah, war sie sich absolut sicher, dass nicht nur Remus wieder gesund werden musste.

Mehr als Ginny die Schritte hinter sich hörte, fühlte sie die beruhigende Präsenz von Harrys Körper. Seine starken Arme umfingen sie von hinten, und er legte seinen Kopf zärtlich auf ihrer Schulter ab. Sie konnte fühlen, dass er eigentümlich lächelte.

„Du bist sehr neugierig, mein Schatz", sagte er tadelnd, aber Ginny wusste, dass er sie einfach zu gern aufzog.

„Ja, das bin ich wohl", gab sie grinsend zu und lehnte sich an seinen Brustkorb.

Sie blickten in den Garten, und Harry fiel auf, dass er wohl bald wieder die Platanen zurückschneiden musste. Ginnys Augen ruhten jedoch auf dem merkwürdigen Paar, dass auf einer der Bänke saß. Sie hatte bis vor einer Stunde noch halbherzig in ihrem Henrik-Ibsen-Band herumgeblättert, als die beiden Zauberer im Garten angefangen hatten hemmungslos zu weinen. Alarmiert hatte Ginny das Buch weggelegt, und seitdem hatte sie ihre Augen nicht mehr von den Männern abwenden können. Irgendwann hatte Remus Snape in seine Arme gezogen, und nun saßen sie seit einer halben Ewigkeit da und klammerten sich aneinander wie Liebende, die sich nach Jahren wieder gefunden hatten. Es war merkwürdig. Aber Ginny konnte fühlen, dass von Snape keine Gefahr ausging. Ihr war so, als würde dort draußen im heraufziehenden Abendrot des Gartens ein Grundstein für etwas Neues, etwas Großes, etwas Besonderes gelegt. Als hätte jemand einen Samen eingepflanzt und nun würden die ersten Wurzeln im Erdreich ausschlagen.

„Wie lange stehst du hier schon?", riss Harrys liebevolle Stimme sie aus ihren Gedanken.

„Schon eine ganze Weile", gab die junge Hexe zu, ohne sich dessen zu generieren. Harry würde ihr deshalb niemals Vorhaltungen machen.

„Ich verstehe", sagte er leise an ihrem Hals und hauchte dann einen Kuss auf die sommersprossige Haut, „und was meinst du? Haben wir das Richtige getan?"

„Ja", antwortete Ginny mit aller Überzeugungskraft, derer sie fähig war, in dieses eine simple Wort zu legen.

„Dann ist es gut", stellte Harry in neutralem Ton fest, „der Krieg hat schon so viele, zu viele Opfer gefordert. Niemand wird wieder lebendig, nur weil Snape in Askaban dahinsiecht. Meiner Meinung nach wollte das Ministerium mit diesem Schauprozess ohnehin nur der Öffentlichkeit zeigen, mit welcher Härte sie durchgreifen."

Ginny griff nach Harrys Händen und zog seine Arme enger um ihren grazilen Körper. Sie wusste genau um seine Resignation, was die Methoden der Politiker anging. Sie wusste, um seine Verzweiflung, nicht gegen sie kämpfen zu können. Das Ministerium war nicht Voldemort, die Politiker waren nicht vordergründig böse – das machte es kompliziert. Sie waren durchtrieben, machtbesessen, aber verdammt clever. Und Ginny spürte jeden Tag aufs Neue wie sehr Harry darunter litt. Und eben diese Frustration hatte vielleicht auch den letzten Ausschlag gegeben, warum Harry sich für Snape eingesetzt hatte. Harry war nicht dumm, er wusste genau, dass seine Stimme in der Zaubererwelt Gewicht hatte, seit er über Voldemort triumphiert hatte. Scrimgeour war in der Verhandlung seine eigene Geltungssucht zur Stolperfalle geworden, weil das Publikum – angeheizt durch Harrys Fürsprache – Snapes Freilassung gefordert hatte. Und Politiker brauchten immer und zu jeder Zeit Wähler, brauchten Öffentlichkeit. Sie sind käuflich. Snapes Verurteilung wäre die allerschlechteste Publicity gewesen. Und wenn Scrimgeour seine Überwachungsgesetze durchboxen wollte, brauchte er den Rückhalt der Bevölkerung. Ohne die Presse säße Snape wahrscheinlich jetzt in einer feuchten Zelle in Askaban ohne eine einzige Erinnerung.

„Er wird Remus helfen, wieder er selbst zu werden", versuchte Ginny ihren Geliebten von den trüben Gedanken und der Verbitterung über den machthungrigen Scrimgeour und die erbärmliche Rückgradlosigkeit all der anderen Politiker abzulenken.

„Das glaube ich auch", entgegnete Harry, „aber dennoch ist es mehr als merkwürdig. Ob wir je erfahren, was die beiden verbindet?"

„Ich weiß es nicht", flüsterte Ginny plötzlich sehr leise, da im Garten eine Veränderung vor sich gegangen war. „Sieh nur", wies sie Harry an.

Das junge Paar stand Arm in Arm am Fenster, und ihre Blicke hatten das gleiche Ziel. Der hellblaue Vorhang wehte neben ihnen leicht in der frischen Brise, vereinzelte Tauben staksten durch das Gras, und die Schatten wurden länger. Langsam zog der Abend herauf.

Die beiden Zauberer hatten ihre Umarmung gelöst und saßen nun dicht beieinander und schauten einander vertraut an. Es bot sich ein seltsames Bild. Remus, der ihnen im vergangenen halben Jahr solche Sorgen gemacht hatte, wirkte gegen die fragile Blässe Snapes unwahrscheinlich kräftig. Snape sah noch leichenhafter aus als sonst. Ginny dachte darüber nach, dass sie dringend ein paar alte Klamotten von Sirius herauskramen musste, damit Snape aus dieser scheußlichen Gefangenenkluft herauskam. Es beruhigte sie, dass offensichtlich keiner der beiden noch weinte.

Ginny konnte Harrys amüsiertes Glucksen hören, als draußen im Garten Remus seine Hand zögernd ausstreckte und Snape durch das ungewaschene Haar strich. Sie konnte sehen, wie Snape leicht den Kopf zur Seite neigte, als befürchte er, geschlagen zu werden. Snape wirkte auf die junge Frau genauso verletzlich wie Remus' zarte Berührung. Über den angrenzenden Häuserdächern zog ein Schwarm Tauben seine Bahnen. Remus zog die Hand zurück, um sie auf der Rückenlehne der Bank abzulegen, und Ginny befand, dass etwas unendlich Gelöstes in seiner freimütigen Körpersprache lag. Er lächelte nun, und Ginnys Herz machte einen kleinen Sprung.

Snape sagte wohl irgendetwas, aber Ginny und Harry standen zu weit weg, um etwas zu verstehen. Dann konnten sie sehen, wie Snape eine seiner Hände in die von Remus legte. Remus umfasste einen der Finger. Ginny kniff angestrengt die Augen zusammen und kam zu dem Schluss, dass Remus wohl einen Ring abzog. Einen Moment hielt Remus etwas in der Hand. Snape wirkte irgendwie schamhaft und gehemmt, so ganz anders als die beiden Jugendlichen ihn aus ihrer Schulzeit kannten. Dann steckte Remus Snapes Ring auf einen seiner Finger, und Snape sah dem Schauspiel ebenso schweigend zu wie die beiden heimlichen Beobachter im Haus.

„Was tun die da?", fragte Harry verwundert dicht an Ginnys Haar. Ein Duft von Wildblumen umgab ihre zierliche Gestalt.

„Es sieht so aus, als hätte Snape Remus gerade seinen Ring geschenkt", antwortete Ginny nachdenklich. Sie konnte Harrys Lächeln an ihrem Ohr fühlen.

„Die sind ja völlig durchgeknallt", kicherte er, und auch Ginnys Schmunzeln vertiefte sich.

„Das kannst du laut sagen", erwiderte sie und kuschelte sich noch dichter an seinen warmen Körper.

„Lieber nicht, sonst hören sie uns noch", feixte Harry und küsste wieder ihren schlanken Hals. Ginny konnte die Bügel seiner Brille fühlen, die sich in ihren Haaren verfingen. Ein so vertrautes Gefühl, dass sie mit tiefer Verbundenheit und Glück erfüllte. Sie drehte sich langsam in seiner Umarmung, um sich von ihrem Geliebten küssen zu lassen.

Und da Ginny und Harry sich von diesem Moment an im Taumel ihrer persönlichen Zuneigung verloren, konnten nur einige Tauben Zeuge von der neuerlichen Umarmung zwischen Severus Snape und Remus Lupin im Black'schen Garten werden. Und wenn es einen der Vögel interessiert hätte, wäre ihm auch aufgefallen, dass der schlechtgekleidete Mann mit dem grauen Haar dem kränklich aussehenden Schwarzhaarigen einen flüchtigen Kuss auf die hellen, spröden Lippen hauchte. Halb Vergebung, halb Versprechen.

--Fin--