Ihr Lieben,

Hier kommt ein kleiner Vorgeschmack für Euch auf die kommende Story, frisch für Euch gebacken und noch ganz warm. Wir befinden uns im April nach dem „Weihnachtsneurotiker": Die Reihenfolge ist also Oktobermond – Weihnachtsneurotiker – neue Story, Arbeitstitel „Willst du?". Es wird, wie der Name schon sagt, viel geheiratet werden in dieser Geschichte, aber nicht nur, es werden Gartenzäune explodieren und Keller besichtigt, und es wird ein Mysterium aufgedeckt werden. Ihr dürft gespannt sein, ich bin's auch.

Disclaimer: All die hinreißenden Heiratskandidaten gehören nicht mir, hart aber wahr. Ich habe sie nur mit unbegrenzter Frist ausgeliehen.

Wenn ihr schöne Gedichte lesen wollt: Jadegrün ist hier bei vertreten, sie heißt Chromoxid und dichtet einzigartig.

Wenn Ihr das Gefühl habt, die Gestaltung der Überschrift sei doch sehr an Shoebox angelehnt, dann habt Ihr Shoebox gelesen und kriegt ein Küsschen. Wenn Ihr's nicht gelesen habt und Euch nicht erinnert fühlt: geht und lest es. Link in meinem Profil.

Wenn Ihr das Wort Shoebox nicht mehr hören könnt, habe ich Euch wohl überstrapaziert und entschuldige mich in vollendeter Moony-Form.

So. Für jeden ein Brötchen, und los geht's.

Eins: Mehrere kritische Betrachtungen, ein mannshoher Brötchenberg, eine ritterliche Mission und das Versmaß der Erinnerung.

Donnerstag, vierzehnter April.

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, heißt es. Seit dieser Brief aus Deutschland kam, ist mein Leben so schattig geworden, dass ich mich frage, ob ich jemals die Sonne wieder sehen darf. Emilia ist glücklich und aufgeregt, ungefähr wie Padfoot, wenn er nach tagelanger Klausur endlich wieder auf die Hundewiese gelassen wird.

„Warte nur" sagt sie. „Das wird toll. Sie werden dich lieben."

Wir sprechen von ihrer Familie, und ich finde die Vorstellung, dass halb Deutschland und dazu der halbe italienische Stiefel mich liebt, gelinde gesagt, erschreckend.

„Mir wäre lieber gewesen, wenn ich sie mit der Zeit hätte kennen lernen können" sage ich vorsichtig. „Nacheinander. Nicht alle gleichzeitig."

„Ach was" sagt sie. „Soo viele sind es nun auch nicht."

„Meine gesamte lebende Verwandtschaft beläuft sich auf vier Personen, zwei davon über achtzig" sage ich. „Von meinem Standpunkt aus sind es sehr viele."

„Das schaffst du schon" sagt sie und küsst mich. „Ich bin ja bei dir."

Im Schatten des Ereignisses unternehme ich eine für mich völlig untypische Handlung: Ich suche mein eigenes Spiegelbild auf.

Üblicherweise meide ich Spiegel. Einmal täglich rasieren ist mir Sebstbetrachtung genug, zumal viele der Spiegel in Nummer Zwölf eine sehr unhöfliche Art haben, dem Betrachter ein paar Wahrheiten zu vermitteln. Sirius, dem Spiegel mehr bedeuten als mir, hat sich des Problems angenommen und den mannshohen Spiegel in seinem Schlafzimmer entflucht, und so bin ich zumindest nur meiner eigenen Kritik ausgesetzt, während ich mich davor aufhalte.

Ich bin mit der fast unlösbaren Aufgabe konfrontiert, mich präsentabel herzurichten, denn ich werde meine zukünftigen Schwiegereltern treffen, und dem nicht genug, meine gesamte zukünftige Schwiegerfamilie, die sich ungefähr auf ein paar hundert Ligusters, Trapanes und Di Dios beläuft, und dem nicht genug, wird dies alles im Rahmen der Hochzeit meiner zukünftigen Schwägerin Antonia geschehen.

Ein Blick in den Spiegel, und ich sehe meine Befürchtung bestätigt: ich habe ein Problem, und es reicht mir vom Kopf bis zu den Füßen. Ein Ganzkörperproblem, sozusagen.

Meine Haare sind viel zu lang, um nur mit dem Harmlosen zu beginnen. Ich trage sie gern etwas länger, damit die Narbe am Hals weniger auffällt, aber zwischen „die Haare etwas länger tragen" und „vor drei Jahren den letzten professionellen Haarschnitt bekommen haben" besteht ein sichtbarer qualitativer Unterschied.

Der Rest von mir ist nach wie vor viel zu dünn. Ich weiß nicht, was ich falsch mache. Wo Sirius zwischenzeitlich wieder Substanz aufgebaut hat, erhalten sich bei mir die konkaven Wölbungen und scharfen Winkel, und die Kleider hängen an mir herunter wie von einem Garderobenhaken.

Nächstes Problem. Garderobe. Dieses Hemd, ich erinnere mich genau, ist mal weiß gewesen, und es war auch mal neu. Vor geschätzten zehn Jahren. Jetzt hat es eine uncharmante Farbe irgendwo zwischen staubgrau und dem Gelb von verblichenem Papier. Es ist an acht Stellen geflickt, mit Nadel und Faden, denn keine Materie lässt sich beliebig oft magisch reparieren, und die Manschetten sind durchgestoßen und fransig, ich weiß nicht, wie ich das flicken soll.

Nicht viel besser ergeht es diesem dunkelblauen Pullover, den ich noch aus Studientagen habe. Er trägt das Uni-Emblem. Trug. Da, auf der linken Seite, der verwaschene Schatten. Der Stoff ist schon ganz dünn, die strukturelle Integrität am Rande des Zusammenbruches.

Diese Cordhose, die mehr kahle Flecken hat als eine räudige Ratte, und auch ungefähr die Farbe einer solchen. Sie hat mir mal gepasst, als ich noch Substanz hatte. Jetzt rettet mich nur der Gürtel vor einem kühlen und ziemlich peinlichen Erlebnis.

Die Schuhe, zuletzt. Ich trage sie nicht im Haus, um sie zu schonen, aber ich kann ihre vollständig abgestoßenen Oberseiten, die Falten, an denen das Leder gebrochen ist, und die gerissenen und wieder zusammengeknoteten Schnürsenkel aus dem Gedächtnis addieren.

Ich sehe nicht aus wie einer, den man bei einer Hochzeitsgesellschaft duldet, geschweige denn wie einer, den man unbesorgt seine Tochter heiraten lässt. Ich sehe aus wie ein Bettler.

Ich brauche neue Kleider, und einen Haarschnitt. Ich brauche Geld.

Ich frage mich, warum mein beschämendes Äußeres nicht schon früher Gegenstand meiner Betrachtung war. Mangel an Berührungspunkten, vermute ich. Bevor die Schule kam, verbrachte ich meine Tage vergraben in Nummer Zwölf. Der Effekt schwächt sich ab, wenn man sich vergräbt. Es gibt keine abschätzigen Blicke von Fremden, und die Besucher in Nummer Zwölf, die mich ansehen, wissen um meine Kondition. Wenn man sich vergräbt, muss man nicht sehen, was man alles nicht haben kann: Bücher, indisches Essen, neue Schuhe, Kino, Theater. Und ich vergrub mich bereitwillig, weil ich mich nicht mal schlecht dabei fühlte, denn schließlich tat ich es mit Sirius. (Vergraben. Wortstamm Grab.)

Sirius, das ist der, dessen Familienvermögen ich vernichten helfe, indem er nicht nur seinen, sondern auch meinen Unterhalt davon bestreitet. Der, in dessen Haus ich, Gastlichkeit hin oder her, untergekommen bin, dessen Bibliothek ich nutze, dessen Papier ich verbrauche. Der seinen Speicher leer geräumt hat, um mir ein Schulprojekt zu finanzieren, das mit seinen vier Schülern bisher keinen Sickel abgeworfen hat. Der das alles tut, ohne zu überlegen, mit der spontanen Freude eines glücklichen Kindes, nur zum Teil, weil er kein Verhältnis zum Geld hat, zum anderen Teil aber, weil er ein bewundernswert großzügiger Mensch ist. Den ich jetzt also ein weiteres Mal um Geld bitten soll, um eine nicht unerhebliche Summe, denn schließlich ist es mit neuen Schuhen allein nicht getan.

Ich verlasse den Spiegel und gehe hinüber an meinen Kleiderschrank (haha. Der gespielte Witz. Ich und ein Kleiderschrank.). Vielleicht hoffe ich auf ein Wunder, oder ich folge einfach den Verhaltensmustern des zivilisierten Menschen, der seine Garderobe durchsieht, wenn er sich auf einen gesellschaftlichen Anlass vorbereitet. Vielleicht hoffe ich auch, das Imitieren der Verhaltensmuster zivilisierter Menschen würde mich zu einem machen: es ist, jedenfalls, zum Scheitern verurteilt. Das Wunder bleibt aus, und der spärliche Rest meiner Garderobe (ein weiteres Hemd, eine Strickjacke, eine Robe), befindet sich in genau dem abgerissenen Zustand, der zu erwarten gewesen war. Einzig die grüne Robe nimmt sich aus wie ein Besucher von einem fremden Planeten, nur leider ist sie keine Option, denn es ist eine Muggelhochzeit. Zwar ist der Bräutigam ein Zauberer, aber die Mehrzahl der geladenen Gäste hat von der Zauberwelt noch nie was gehört.

Ich bringe die Schranktür zwischen mich und das Elend, kaum mehr als ein symbolischer Akt, denn natürlich kann ich das nicht, es klebt an mir, in den zu langen Haaren und an den knochigen Handgelenken, und es begleitet mich in geflickten Socken die Treppe hinunter und in die düstere Küche, in der Sirius im Stehen die Reste unserer letzten warmen Mahlzeit aus dem Topf isst.

„Wo warst du?" fragt er.

„Was nachsehen" sage ich. Ich kann ihn nicht bitten. Natürlich, Moony, würde er sagen, wie viel brauchst du? Wir können die komische Vase aus dem Wohnzimmer verkaufen, und er hätte diesen weichen Glanz in den Augen, und ich käme mir vor wie der Schmarotzer, der ich bin.

„Ich habe nachgedacht" sage ich zu ihm.

„Nein" sagt er. „Das ist schockierend. Wirklich, Moony, das hätte ich niemals von dir gedacht."

„Ich könnte wieder versuchen, Arbeit zu finden" sage ich. „Bezahlte Arbeit, soll das heißen."

„Und wann willst du das machen?" sagt er und hat völlig recht. „Wir sind mehr in der Schule als hier. Wir könnten uns eine Matratze rein legen, dann würden wir uns das Apparieren sparen."

„Ich weiß nicht" sage ich. „Nebenher, irgendwie. Abends, vielleicht. Ich könnte wieder kellnern gehen."

„Und Emilia gibst du am besten ein Foto von dir, damit sie nicht vergisst, wie du aussiehst" sagt er kopfschüttelnd. Ich seufze und zupfe an meinen zu langen Haaren.

„War nur so eine Idee" sage ich. „Vergiss es."

„Brauchst du Geld?" fragt er.

„Nein" sage ich. Vielleicht kann ich ja krank werden. Vielleicht tut der Mond mir einen Gefallen und verschiebt seinen Zyklus, so dass ich nicht mit kann.

„Du brauchst Geld" sagt er und stellt den Topf in die Spüle. „Aber das ist doch kein Problem. Deshalb musst du doch nicht arbeiten gehen."

Siriuslogik tut immer ein bisschen weh. Ich verziehe das Gesicht und ärgere mich, dass ich überhaupt davon angefangen habe. Ich tendiere dazu, Sirius als ausgelagerten Teil meiner eigenen Person zu betrachten, was dazu führen kann, dass ich unbedachtes Zeug erzähle, weil meine Schutzmechanismen nicht aktiviert sind.

„Wie viel brauchst du?" fragt er.

„Nein" sage ich. „Nichts. Aber vielleicht könntest du mir was zum Anziehen leihen? Für diese Hochzeit." Verzweiflung macht kreativ.

„Quatsch" sagt er. „Du weißt doch, dass du in meinem Zeug aussiehst wie ein verkleideter Elfjähriger. Geh doch einfach einkaufen. Es ist noch Geld da."

„Das wir nicht aus dem Fenster werfen sollten" sage ich. „Du weißt nicht, wie lange du aus Beständen überleben musst, und dein Gringott's-Konto ist immer noch außer Reichweite."

„Als ob du jemals Geld rausgeworfen hättest" sagt er und macht genau das weiche Gesicht, unter dem ich mich so erbärmlich fühle. „Kürzlich hab ich dich beobachtet, wie du einen Teebeutel zum zweiten Mal aufgegossen hast, obwohl du mir versprochen hattest, damit aufzuhören. Du hast wohl gedacht, du tust es heimlich, aber ich hab's gesehen."

„Er war noch gut" sage ich fast trotzig. „Man kann problemlos mehr als eine Tasse…"

„Geh einkaufen" sagt er und drückt mir das Marmeladenglas in die Hand, in dem Münzen neben einem Bündel gerollter Scheine klappern, „bevor dir die Sachen in Fetzen runter hängen. Was nicht mehr so lange dauern kann, nebenbei bemerkt."

Ich halte das Marmeladenglas fest, weil es sonst runter fällt, schaue ihn an und bin genau da, wo ich nicht sein wollte. Es ist ein Haufen Geld in diesem Glas, Muggelscheine und dicke goldene Galleonen, ich frage mich, ob ich wissen will, wo das alles herkommt.

„Kronleuchter im zweiten Stock" beantwortet er mir die nicht gestellte Frage und grinst. „Irgendein italienisches Glaszeug."

„Murano" sage ich.

„Kann sein" sagt er. „Jedenfalls ein teures Stück unter all dem Staub."

„Wir sollten unseren ausschweifenden Lebensstil reduzieren" sage ich. „Wir sind gerade ein halbes Jahr hier und fangen schon an, die Sachen von der Wand zu schrauben."

„Quatsch" sagt Sirius. „Es war Zufall. Mundungus hatte gerade einen Käufer für so was."

„Na, dann" sage ich und behalte meine Meinung über Mundungus und seine Art, Geschäfte abzuwickeln, für mich. Sie ist ohnehin bekannt, und Alternativen kann ich auch keine anbieten.

„Du solltest los" sagt Sirius. „Die Geschäfte machen in einer Stunde zu."

„Jetzt?" sage ich erschreckt, es fühlt sich an, als würde ich einen Schritt ins Leere machen, weil ich eine Stufe übersehen habe. „Ich… nein. Ich kann nicht. Ich muss noch mal in die Schule."

„Wieso das denn" sagt er. „Du warst den ganzen Tag dort, reicht das nicht?"

„Ich hab noch was vergessen" sage ich lahm.

„Aha" sagt er, und ich weiß, dass er weiß, dass es nichts zu erledigen gibt, das nicht bis morgen warten könnte. „Na, es sind ja noch ein paar Wochen. Irgendwann zwischendurch wirst du schon mal ein paar Stündchen deiner kostbaren Zeit erübrigen können."

oooOOOooo

Montag, achtzehnter April.

Zeit erübrigen: Das ist leichter gesagt als getan, vor allem, wenn es gilt, eine Erledigung vor sich her zu schieben, die sich anfühlt wie eine mittelschwere Zahnoperation. Die Schule füllt meine Tage, Emilia füllt meine Nächte, und Sirius füllt alles, was dazwischen liegt, Doppelbelegung nicht ausgeschlossen. Ich bin, seit ich die Schule habe, ein beschäftigter Mann, hart an der Grenze der Überlastung. Emilias Stundenplan in Hogwarts erlaubt es nicht, dass sie mehr übernimmt als eine oder zwei Wochenstunden, und mein Budget erlaubt es nicht, dass ich einen weiteren Lehrer einstelle, also halte ich den Betrieb alleine aufrecht und bin dankbar, dass ich im Augenblick nicht mehr als vier Schüler habe.

Irgendwann allerdings treten wir in den Kernschatten des Ereignisses ein, und die Fluchtwege werden mir abgeschnitten, genau genommen, der aus dem Badezimmer, in dem ich am frühen Montag Morgen versuche, wenigstens für ein paar Stunden den Bart loszuwerden. Sie wartet, bis ich den Rasierschaum im Gesicht habe, wahrscheinlich will sie ganz sicher gehen, dass ich ihr nicht entkomme. Sie lehnt in der Tür und sieht sehr süß aus in ihrem geblümten Nachthemd, und ich merke, wie sie Anlauf nimmt.

„Reeeeemus" sagt sie.

„Emiiiiiilia" sage ich und spüle mir Rasierschaum von den Händen.

„Heute ist Montag" sagt sie.

„Ich weiß" sage ich.

„Und du weißt, was Donnerstag ist?" fragt sie.

„Donnerstag werden wir bei deinen Eltern erwartet, falls sich daran nichts geändert hat" sage ich und setze das Messer an.

„Hat sich nicht" sagt sie. „Und Samstag…"

„…heiratet deine Schwester" sage ich. „Ist bekannt."

„Es gibt da nur noch eine Kleinigkeit" sagt sie, schaut runter auf ihre nackten Füße und wackelt mit den Zehen.

„Hm?" sage ich und rasiere. Vielleicht habe ich ja Glück. Vielleicht ist es nicht, was ich vermute.

Ich habe Pech.

„Du weißt, ich fange nicht gern davon an" sagt sie und studiert immer noch ihre Zehen. „Ich will nicht, dass du dich schlecht fühlst. Ich hatte irgendwie gehofft, du kommst von selber drauf… du weißt, ich liebe dich… und es ist mir auch egal, wie du aussiehst – also, nicht dass du glaubst, ich finde dich hässlich – du siehst toll aus… bis auf die Klamotten…"

„Ich weiß schon" sage ich. „Sirius hat mich auch schon zum Einkaufen genötigt."

„Und?" sagt sie hoffnungsvoll.

„Ich hatte noch keine Zeit" sage ich und konzentriere mich auf die blöde Stelle am Kinn.

„Es sind nur noch drei Tage" sagt sie.

„Dreieinhalb" sage ich. „Ich habe am Donnerstag die Schule geschlossen, und wir werden nicht vor dem Nachmittag bei deinen Eltern erwartet."

„Du willst das doch hoffentlich nicht ausreizen" sagt sie besorgt. „Weißt du, ich will ja nur nicht, dass meine Eltern einen falschen Eindruck von dir bekommen…"

„Wenn man's genau nimmt, willst du nicht, dass sie einen richtigen bekommen" sage ich und bemühe mich, nicht gereizt zu klingen. Sie hat ja recht, und sie kann nichts dafür.

„Dreh mir nicht das Wort im Mund rum" sagt sie. „Wie willst du rüber kommen? Als netter, kluger, liebenswerter Mann, der ein bisschen wenig Geld hat, oder als verarmter und heruntergekommener Typ, der vielleicht trotzdem ganz nett ist?"

„Bist nicht du es, die mir immer predigt, ich sollte zu dem stehen, was ich bin?"

„Und das kannst du nicht, wenn du neue Jeans und ein vernünftiges Hemd trägst? Gehört das geflickte Zeug schon so zu deiner Identität, dass du ohne nicht mehr kannst?"

„Fragen über Fragen" sage ich. Ich bin die linke Wange runter und sehe sie über die Schulter, wie sie in der Tür steht, die Arme über dem geblümten Nachthemd verschränkt, das Kinn nach vorne geschoben, fast könnte ich erwarten, dass kleine Energiefunken aus ihren Haarspitzen sprühen. Manchmal wünsche ich mir, sie würde mir die Möglichkeit lassen, mein Gesicht zu wahren, wenn sie mir ihre Meinung vermittelt.

„Und?" sagt sie. „Antworten über Antworten?"

„Ich hatte nicht vor, nicht einkaufen zu gehen" sage ich und bin froh, mich der rechten Wange widmen zu können. „Ich habe es nur ein wenig vor mir her geschoben, weil… ich Einkaufen nicht besonders mag. Ich gehe heute nachmittag, wenn dich das beruhigt."

„Es beruhigt mich" sagt sie. „Soll ich mitkommen?"

„Nein" sage ich, ein bisschen zu schnell vielleicht.

„Hätte ich aber Lust drauf" sagte sie.

„Bitte" sage ich. „Bitte nicht. Ich bin nicht besonders gut mit diesen Dingen. Ich kann… es ist wie mit dem Gitarrespielen, früher. Ich konnte nur Gitarre spielen, wenn mir niemand zugehört hat."

„Du kannst nur einkaufen, wenn niemand dir zusieht?" sagt sie, verblüfft und erheitert. „Du hast einen Schaden, wirklich."

Ich spare mir eine Antwort, ich will mir nicht schließlich doch noch das Gesicht aufschneiden. Ich rasiere fertig, halte das Gesicht unters Wasser, und als ich wieder zur Tür schaue, steht sie nicht mehr da.

Wir begegnen uns im Schlafzimmer wieder. Sie hat es eilig, sucht ihre Sachen zusammen und knöpft sich gleichzeitig die Robe zu. Ich sehe ihren zweiten Schuh unter dem Bett, fische ihn raus und halte ihn ihr hin.

„Danke" sagt sie und gibt mir ein Küsschen. „Hmm. Wer bist du? Du kratzt ja gar nicht."

„Wenn du mich schon nicht mehr erkennst, nur weil ich rasiert bin, wie wird das erst mit neuen Kleidern?" sage ich, und sie grinst.

„Ich werde mich schon dran gewöhnen" sagt sie. „Weißt du was, schreib mir doch, wenn du wieder hier bist, dann komm ich vorbei und bewundere deine Einkäufe."

„Hausaufgabenkontrolle?" sage ich.

„Klar" sagt sie. „Ich will doch wissen, ob du das Klassenziel erreichst. Streng dich an, übrigens. Du hast ein paar erhebliche Lücken."

„Ich tue, was ich kann" verspreche ich ihr und meine es ehrlich.

oooOOOooo

Dann wird es Mittag, und dann Nachmittag, und der Zeitpunkt, an dem ich mein Versprechen einlösen muss, rückt näher, unaufhaltsam und ebenso freudig erwartet wie der Mond. Für eine Weile gelingt es mir, durch reine Willensanstrengung das Fortschreiten der Zeit zu ignorieren, aber dann setzt die Mittagsmüdigkeit bei meinen vier Wolfskindern ein, gefolgt von Mittagspause, gefolgt von konzentrationsgeschwächter Nachmittagszerstreutheit, und schließlich ist Unterrichtsschluss und ich muss die Wolfskinder nach Hause schicken. Ich schließe hinter ihnen die Tür, der Raum kommt mir plötzlich unnatürlich still vor, wie jedes Mal, wenn sie gegangen sind. Ich öffne die Fenster. Draußen geht ein milder Frühlingsnachmittag langsam zu Ende, der Verkehr rauscht träge. Irgendwo klingelt eine Straßenbahn. Ich gehe vom Fenster und räume ein bisschen auf, ich erziehe wirklich zur Ordnung, wo ich kann, aber irgend etwas bleibt immer liegen. Ich stelle fest, dass Darlene, von mir unbemerkt, auf den Tisch gemalt hat. Der Schaden lässt sich mit einem Zauber beheben, und ich setze ein Gespräch mit ihr auf meine Liste für morgen. Dann wische ich die Tafel und blättere meine Aufzeichnungen für morgen durch. Ich bringe die Kaffeeküche in Ordnung, die so heißt, obwohl noch nie einer darin Kaffee gekocht hat. Dann gehe ich zurück in den Unterrichtsraum mit seiner bunt zusammen gewürfelten Einrichtung und muss feststellen, dass ich es nicht länger hinaus zögern kann. Der Moment ist gekommen.

Lupin, Held des Alltags, geht einkaufen.

Ich bin ein Mann mit vielen Fähigkeiten. Geldausgeben gehört nicht dazu. Ich kann mich nicht trennen. Die Herausgabe von Geld, das sich in meiner Tasche befindet, verursacht mir ultimativen Stress, schon fast Panik. Meine Hände werden feucht, ich kriege heiße Wangen, manchmal Kopfweh, und ich sage besser nichts in solchen Situationen, denn meine Stimme hat sich irgendwie in den Stimmbruch zurück verirrt. Sobald ich den Geldbeutel in die Hand nehme, überfällt mich der Eindruck, dass ich das zu erstehende Gut eigentlich nicht so dringend brauche und das Geld lieber sparen sollte, für schlechte Zeiten, die wahrscheinlich hinter der nächsten temporalen Abzweigung auf mich lauern. Ich beginne, in Brötchen zu rechnen: eine Zeitung, das sind vier Brötchen, das könnte mich einen Tag lang über Wasser halten. Brauche ich diese Zeitung so dringend, dass ich dafür einen Tag lang hungern würde? Nein. Zeitung zurück in den Ständer. Nahezu aussichtslos ist das Unternehmen bei Summen, die in Brötchen umzurechnen mich länger als zwei oder drei Sekunden kostet. Es gibt wenig, wofür ich (und sei es nur rein statistisch) einen Monat lang hungern würde. (Bücher gehören dazu.)

Nun begebe ich mich also auf die Mission, mich von einer Summe zu trennen, die sich geschätztermaßen in einen mannshohen Brötchenberg umrechnen lässt (Brötchen sind wirklich billig. Ich weiß das.), für ein Gut, das kein Buch ist. Ich fühle mich wie Parzival, der mit nichts als einem rostigen Schwert und einem kühnen Plan auszog, um ein Tafelritter zu werden. (Parzival hat, glaube ich mich zu erinnern, unterwegs einen Roten Ritter im Zweikampf besiegt und ihm seine Ausrüstung abgenommen. Ich befürchte, diese Option steht mir nicht offen.) Ich klammere mich also an meinen kühnen Plan und an meinen schäbigen Mantel, hole tief Luft und appariere.

Mir fehlt die Erfahrung, das macht sich gleich zu Beginn fatal bemerkbar. Ich bin nicht im Geringsten orientiert, wo man in einer Millionenstadt wie London sinnvoller Weise Kleidung kauft. Ich entscheide mich für ein größeres Kaufhaus in einer nicht zu teuren Gegend etwas außerhalb. Ich hatte eine Wohnung ein paar Straßen weiter und einen Job, der mich täglich hier entlang geführt hat, das sind die einzigen mir zur Verfügung stehenden Auswahlkriterien.

Ich betrete den mit kühlem, weißem Licht gefluteten Laden, Hände in den Manteltaschen vergraben, Finger um den Geldbeutel gekrallt. Ich gehe zwischen transparenten Tischen, auf denen sich bunte, akkurat gefaltete Stapel von Was-auch-immer präsentieren, und blitzenden Chrom-Kleiderstangen zur Rolltreppe und hebe den Kopf nur, um das Schild zu lesen, Herrenabteilung, erster Stock. Es ist ruhig in dem Laden, Weichspülermusik tröpfelt aus unsichtbaren Lautsprechern, und ich bin mir sicher, alle in diesem Laden starren mich an (obwohl das objektiv betrachtet niemand tut.) Ich ziehe meinen Mantel um mich und versuche mich zu trösten, dass er so schäbig auch wieder nicht ist (er ist verblichen, und an fünf Stellen geflickt. Ich habe einen Zauber entwickelt, um die Flicken farblich anzupassen. Es fällt fast gar nicht auf. Fast gar nicht. Nur… wenn man mich ansieht. Dann schon.)

Dann ist die Rolltreppe zu Ende, und ich mache einen Schritt, und weil jemand hinter mir ist, noch ein paar, um nicht im Weg zu sein. Dann bleibe ich stehen und sehe mich um, sehr vorsichtig, und im gleichen Augenblick weiß ich, dass ich verloren habe.

Ich bin in einem Labyrinth gelandet, nur dass ich meinen roten Faden am Eingang abgegeben habe. Es gibt lange, gerade Gänge, gesäumt von Regalständern, in denen mit beängstigender Akkuratesse Anzug an Anzug gereiht ist, Jacke an Jacke, Hose an Hose, parallel wie die Nadelstreifen, die sich im Stoff wiederholen, es gibt Krawatten an drehbaren Gestellen, die aussehen wie mittelalterliches Foltergerät, und in transparentes Plastik verpackte Hemden, so steril und kantig, dass man nicht annehmen möchte, dass sie sich zu etwas entfalten lassen, das mit einem menschlichen Wesen kompatibel ist.

Ich spüre, wie Fluchtgedanken von mir Besitz ergreifen. Ich muss kein Preisschild lesen, um zu wissen, dass ich angestrengt rechnen müsste, um den Gegenwert in Brötchenwährung zu ermitteln. Ich werde das nicht schaffen. Ich scheitere allein schon am ersten Schritt: aus dem unüberschaubaren Überfluss etwas auszuwählen, das im Vergleich zum Ist-zustand eine optische Verbesserung darstellt, und das auch noch in einer Größe, die zu meinen anatomischen Vorgaben passt. Man gebe mir nicht mehr als drei Wahlmöglichkeiten, wenn man von mir eine Entscheidung haben will. Alles darüber hinaus überfordert mich.

Ich stehe also auf meinem Fleck, der Gedanke an Emilia und mein Versprechen schiebt mich vorwärts, aber meine Instinkte (nennen wir es so, es klingt freundlicher als Zwangsneurose) befehlen mir den Rückzug, und die Weichspülermusik verhindert, dass ich das Nahen des Alphatieres in diesem feindlichen Territorium bemerke.

„Kann ich Ihnen helfen?" fragt mich jemand über die Schulter, eine Stimme, so kühl wie Aircondition, und ich schrecke zurück und lande halbwegs in einem Drehständer, der sich träge in Bewegung setzt und mich ein Stück mitnimmt, bevor ich meinen Ärmel aus dem eisernen Griff eines Kleiderbügels befreit habe.

„Nein" sage ich panisch. „Nein! Ich… also… nein. Danke."

Das Alphatier schaut auf mich herunter, sein Namensschildchen glänzt silbrig und sein dunkler Anzug wirft keine einzige Falte.

„Ich verstehe" sagt er, und alles, was ich verstehe, ist die Geringschätzung in diesen zwei Worten und die unterschwellige Drohung, nicht in sein Revier einzudringen, das Revier des erfolgreichen Zivilisationsmännchens mit seinen Einstecktüchlein, Aftershaves und polierten Schuhen, in dem struppige Wölfe nichts verloren haben. Ich trete den Rückzug an, fluchtartig, ich bringe die Rolltreppe zwischen mich und ihn und appariere gleich von Ort und Stelle, um mir weitere Demütigung auf dem Rückweg zu ersparen.

Mein spontan gewähltes Ziel ist der Leaky Cauldron. Es ist dämmerig und warm in der Gaststube, die Decke ist niedrig, die Balken, die sie tragen, verrußt, und die Wand in meinem Rücken fühlt sich gut an.

Ich bleibe in meiner dunklen Ecke stehen, bis mein Puls sich normalisiert hat und ich wieder auf meine Denkfähigkeit zugreifen kann. Das erste, was sich wieder zuschaltet, ist Zerknirschung. Ich habe versagt. Ich habe es nicht geschafft, mir ein blödes Hemd zu kaufen! Und, Niederlage besiegelt, allein die Gegenwart eines simplen Verkäufers hat den korrekten Gebrauch der englischen Sprache aus meinem Gehirn gekickt.

Ich beschließe, dass ich einen zweiten Anlauf unternehmen muss, Emilia bin ich das schuldig, und will ich mich wirklich von irrationalen Verhaltensmustern (nein, wir nennen es nicht Zwangsneurose) fern steuern lassen? Ich trockne mir die nassen Handflächen an meinem Mantel und verlasse meine Ecke.

„Hallo, Mr. Lupin" sagt Tom, der Barkeeper, einer der wenigen, der über die Jahre freundlich geblieben ist. „Sie sehen aber blass aus. Brauchen Sie einen Schnaps?"

„Nein. Einen Psychiater" sage ich und entschuldige mich sofort, weil er so erschrocken aussieht.

„Vielleicht können Sie mir helfen" sage ich zu ihm. „Ich suche einen Laden, der muggeltaugliche Kleidung führt. Gibt es hier so etwas?"

„Twilfit & Tatting's" sagt er. „Die orientieren sich neuerdings an Muggelmode. Bei Malkin's brauchen Sie's gar nicht zu versuchen, die führen nichts als Roben."

Ich bedanke und verabschiede mich und betrete den engen Hinterhof, während mein Magen sich anfühlt, als hätte ich einen der beweglichen Steine aus der Mauer verschluckt (gibt es nicht dieses Märchen, in dem ein armer Wolf einen Mühlstein in den Rachen gestopft bekommt? Aus dem Leben gegriffen, diese Märchen.)

Ich durchschreite die Mauer und orientiere mich, während sie sich hinter mir schließt. Diagon Alley, das ist ein Konzentrat von Zauberei auf engstem Raum, und obwohl London eine Millionenstadt ist, ist Zauber-London ein Dorf, und das hier ist der Marktplatz. Natürlich war ich früher regelmäßig hier, wenn man zauberisch einkaufen will, kommt man an Diagon Alley kaum vorbei, aber mit den Jahren wurden meine Besuche seltener, ungefähr in dem Maße, wie meine Fähigkeit, Geld auszugeben, sich verlor, und meine Unbeliebtheit in Zauberkreisen wuchs. Mein letzter Besuch ist ein paar Jahre her, aber es scheint sich nicht viel geändert zu haben. Es herrscht immer noch das gleiche lärmende, hektische, unübersichtliche Treiben, ein optischer Flickenteppich aus schrägen Hüten, farbenfrohen Roben und skurrilen Handelsgütern, die auf unterschiedlichste magische Weise befördert werden. Ich würde ganz gerne mit der Wand hinter mir verschmelzen, aber den Gefallen wird sie mir wohl nicht tun, und da gibt es schließlich noch meine Minneherrin, für die ich eine Heldentat zu vollbringen habe. Also senke ich den Kopf, mache einen Schritt und noch einen und nehme den Drachen in Angriff.

Ich gehe so schnell, wie der Betrieb auf der Straße es zulässt. Ich will niemanden ansehen und will nicht, dass jemand mich ansieht. Viel zu sehr habe ich mich an das große, graue, anonyme Muggel-London gewöhnt, in dem ein alter Wolf getrost untertauchen und quasi vom Antlitz der Erde verschwinden kann, als dass ich mich hier, in der privaten Enge der Zauberwelt, noch entspannt bewegen könnte.

Dann kommt Flourish & Blotts zu meiner Linken, und ich bewege mich gar nicht mehr, nicht mal verkrampft. Ich stehe und starre durch die Scheiben ins Innere, in den verwinkelten Verkaufsraum. Ich erinnere mich, wie es darin riecht: kaum wahrnehmbar, eine flüchtige Empfindung von Papier und Staub und Kontemplation. Ich erinnere mich, wie ein neues Buch sich anfühlt, wenn man es aus dem Regal zieht: glatt und makellos glänzend der Einband, und wie es unter den Händen nachgibt und sich öffnen lässt, mit diesem leisen Knistern im Buchrücken, das nur neue Bücher haben, die Seiten steif und noch ein wenig spröde, und die erwartungsvolle Spannung der ersten Begegnung: Werden wir Freunde werden? Wirst du mich begleiten, aus diesem Laden hinaus und in mein Leben hinein? Werde ich meinen Namen auf deine erste, unberührte, weiße Seite schreiben? Es ist die ungezügelte Gier, die meinen Magen verkrampft und einen ziehenden Schmerz irgendwo im Brustkorb auslöst, ich lehne die Stirn gegen die kalte Scheibe und wünsche mich so dringend auf die andere Seite, dass ich beinahe spontan appariere.

Ich widerstehe. Das ist nur die Versuchung, die mich von der Erfüllung meiner Aufgabe abhalten soll. In jedem durchschnittlichen Ritterroman kommt das vor.

In Ermangelung eines Schwertes klammert Ritter Remus sich an den letzten Rest seiner Moral und entfernt sich schleppenden Schrittes vom Ort der Versuchung.

Meine Standhaftigkeit trägt mich bis zum Schaufenster von Twilfit & Tatting's, wo sie sich dann als Wankelmut enttarnt und mich im Stich lässt, sobald ich einen ersten Blick durch das Schaufenster ins Innere des Ladens geworfen habe.

Ein großer, schlanker Mann, Typ Lucius Malfoy, lässt sich gerade in einen eleganten, hellbraunen Gehrock helfen. Zwei Verkäufer umschwirren ihn, einen davon erkenne ich gleich darauf als Mr. Twilfitt Junior, er hat Stecknadeln zwischen den Lippen und richtet den Ärmel des Malfoy-Lookalikes. Sie bewegen sich wie in einem Theater: kostbare Stoffe, die an den Wänden drapiert sind und von schweren Rollen fließen, bilden den edlen Hintergrund der Aufführung. Weitere Kleidungsstücke, Anzüge, Roben, Gehröcke und Rüschenhemden, sind aus den Regalen geräumt und dem Kunden zur Ansicht vorgelegt, und er dreht sich vor dem Spiegel und befühlt den Stoff.

Es ist definitiv vollständig ausgeschlossen, dass ich mich in diesen Laden und in die Hände dieser zwei Edelschneider begebe. Es ist ohnehin davon auszugehen, dass man mich umgehend hinaus werfen würde, nach einem flüchtigen Blick auf meinen sorgfältig geflickten Mantel. Ich kann mir das ersparen, ich bin gedemütigt genug.

Ich bin nicht gedemütigt genug. Der Kunde vor dem Spiegel streicht sein hellblondes Haar nach hinten und muss seinen Kopf nur ein wenig drehen, um meiner zerrupften Wenigkeit hinter der Scheibe gewahr zu werden. Ich kann nicht schnell genug den Blick abwenden, er hat mich schon erwischt. Er sieht Malfoy wirklich verblüffend ähnlich… zum Verwechseln… er ist es. Er zieht die Augenbrauen hoch, und sein zynisches Lächeln könnte das Glas zwischen uns durchschneiden wie ein Diamant.

Ritter Remus schmeißt sein rostiges Schwert weg und türmt.

Diagon Alley bietet nicht viele alternative Routen, und so trifft meine zerrüttete Moral an gleicher Stelle wieder auf die Versuchung. Und weil ich mit meiner Flucht ohnehin schon vom traditionellen Konzept des Ritterromans abgewichen bin, tragen meine Füße mich durch die bimmelnde Tür hinein in ein warmes, duftendes, stilles Paradies.

Ich stehe zwischen den Zeitungen und den Kochbüchern im Eingang, mein Herz tritt mir hart gegen die Rippen. Niemand darf mich jetzt ansprechen, ich habe garantiert keine Stimme mehr. Ich bewege mich vorsichtig in Richtung Literatur. Das Geld brennt mir ein Loch in die Tasche.

Ich könnte. Ich könnte eines haben, ein Buch kaufen, ein Buch besitzen, nach so vielen Jahren endlich wieder, eines, das mir gehört, das ich nicht zurückgeben muss, wenn die Leihfrist endet.

Eines, das Sirius gehört, denn es ist sein Geld.

Eines, das er nicht haben wollte, das er mir mit Freuden schenken würde, wie er mir mit Freuden alles schenken würde, wenn ich ihn nur danach fragte. Eines, in das ich meinen Namen schreiben könnte. Auf dem ich meine Spuren hinterlassen würde, feine Bleistiftnotizen am Rand und auf dem Einband die vertrauten Spuren des häufigen Gebrauchs. Eines, das mit Sorgfalt behandelt wird und mit Zuneigung, nicht wie die aus der Bibliothek, die sich durch eine endlose Reihe anonymer Leser abnutzen: fremde Spuren, zwischen den Seiten der Geruch von Zigaretten, die ich nicht geraucht habe, Flecken von Tee, den ich nicht getrunken habe.

Ich bin bis an das Regal heran getreten, das die Buchstaben A bis H beherbergt. Ich nehme ein schmales Bändchen aus dem Regal, wahllos, nur um zu sehen, wie es sich anfühlt. Es brennt in meinen Händen. Ich schlage es auf, lausche auf das leise Knistern des neuen Buchrückens, der, vielleicht zum ersten Mal, seine starre Form aufgibt, er könnte durch häufigen Gebrauch weich werden, geschmeidig.

Nicht unter meinen Händen: es ist ein Brevier über den Einfluss der Magie auf die Nautik im neunzehnten Jahrhundert, ein Thema, für das ich mich bei aller Aufgeschlossenheit nicht erwärmen kann. Ich stelle es an seinen Platz zurück und mache einen Schritt rückwärts.

Gehen wir, meldet sich Ritter Remus und zieht an meinem Ärmel. Du hattest deinen kleinen sentimentalen Ausflug, du hast es knistern hören und Druckerschwärze gerochen, das ist dein Anteil. Begnüge dich. Bescheidenheit ist eine ritterliche Tugend.

Es sind so viele, raunt mir die Versuchung ins Ohr. Sie sind wunderbar, und eines ist hier, das nur auf dich wartet, ein neuer Freund oder vielleicht ein alter, den du wieder findest. Komm schon. Du weißt, du willst es.

In mir ist es heiß und eng, und mein Herz tritt mich, als wollte es gewaltsam ins Freie. Ich weiß, ich will es, ich bin schwach und verachte mich, aber ich will es, ich muss, ich will.

Ich gebe mich hin. Mit Hitze im Herzen und an den Händen trete ich ans Regal, lese Titel, erkenne Autoren, die mir seit Jahren nicht begegnet sind, blättere, berühre, lese Anfänge und Abschlüsse, lasse mich an den Regalen entlang treiben und halte Ausschau nach meinem neuen Freund. Ritter Remus klammert sich wieder, diesmal an die Hoffnung, der neue Freund möchte zufälligerweise außer Haus sein – aber da ist er, und es sind Gedichte. Die versteckten Dinge von Jadegrün. Auf dem Einband zieht ein Goldfisch in einem runden Glas einsame Kreise. Ich hatte eine rote, sparsame Paperback-Ausgabe, lange zurück in Schulzeiten, sie ist über die Jahre verloren gegangen wie vieles, das mir etwas bedeutet hat. Ich muss nur die erste Zeile lesen, um die Ohren wieder voll von klingendem Spott zu haben, den James über mir ausschüttete, wann immer er mich mit dem Gedichtband erwischte. Ich habe ihm nie erzählt, dass Sirius gelegentlich kam und sich daraus vorlesen ließ, Kopf an meiner Schulter, Blick im Nirgendwo. Er hat die Wildheit gespürt, die sich hinter den strengen Jamben verbirgt, war empfänglich für die Ordnung, die Sprache in Chaos bringen kann, obwohl er niemals Worte dafür gefunden hätte.

Das Bändchen passt in meine Hand, in meine Manteltasche, das Leder ist weich und wärmt sich unter meinen Händen. Ich bin bereit, einen Monat dafür zu hungern.

Ich zähle das Geld ab, warte, bis niemand an der Kasse steht, und bezahle eilig und wortlos. Dann ist das Geld weg und das Büchlein kommt in meine Hände, als käme es nach Hause, und ich bin sicher, mein Herz wird mir von innen die Rippen brechen, wenn es weiter so dagegen springt.

Ich rette mich ins Freie. Meine rauschende Euphorie hat einen Stachel, der mich bei jedem Schritt unangenehm sticht. Ich kann mich nicht entscheiden, wie ich weiter vorgehen soll. Das Büchlein in meiner Tasche verschiebt meine Perspektive, der Nachmittag fühlt sich plötzlich merkwürdig an und unvertraut, als hätte man mich in ein fremdes Leben gesetzt.

Einer spontanen Regung folgend, gehe ich bei Fortescue's vorbei und kaufe Eis für Sirius: Vanille und Haselnuss und Himbeer und eines, das gelegentlich die Farbe wechselt. Dann stehe ich auf der Straße, mit einer Packung Eis und einem Buch und einem Misserfolg auf ganzer Linie, und damit das Eis nicht schmilzt, appariere ich nach Hause.

oooOOOooo

„Du bist ein Freak" sagt Sirius auf halbem Weg durch das Himbeereis und grinst. „Wie kann man sich nur so anstellen. Gib mir einen vollen Geldbeutel und schick mich einkaufen. Ich wüsste, was ich täte."

„Ich weiß, dass du das weißt" sage ich. „Das hilft mir nur nicht weiter."

„Das ist echt gestört" sagt er und deutet mit dem Löffel auf mich. „So, wie du es beschreibst. Total neurotisch."

„Ist es nicht" sage ich trotzig. „Ich bin nur… geprägt. Durch… Umstände."

„Haha" sagt er. „Was sind wir für ein Gespann. Ich kann keine Tür hinter mir zu machen, und du kannst kein Geld ausgeben. Der Psychiater, der uns behandelt, hätte sein gesichertes Auskommen."

„Ich will keinen Psychiater" sage ich und ziehe die Waffel aus dem zart gelben Vanilleeis. „Ich will eine Lösung für mein Problem. Kein Psychiater schafft das bis Donnerstag Mittag."

Ich lecke die Waffel ab, das Eis kühlt meine Lippen und entfaltet eine subtile Mischung von Aromen auf meiner Zunge. Es schmeckt wie alles, was ich im Leben verpasst habe.

„Lass mich dein Problem lösen" sagt er und leckt sich eine kleine rosa Spur aus dem Mundwinkel. „Ich geh für dich einkaufen. Ich kann deine Größe ungefähr abschätzen."

„Nein" sage ich erschreckt und denke an die grüne Weihnachtsrobe. „Das ist keine gute Idee."

„Ich war schon wieder seit Wochen nicht draußen" sagt er.

„Du bist jeden Tag in der Schule" erinnere ich ihn.

„Da liege ich den ganzen Tag vor dem Kamin und zieh mir deine Literatur- und Mathestunden rein" sagt er. „Latein verschlafe ich übrigens, wenn es dir nichts ausmacht."

„Und gehst drei mal täglich oder öfter mit einem der Schüler Gassi" erinnere ich ihn.

„Erstens ist Gassi ohne dich nicht das gleiche, und zweitens wäre ich auch gerne mal wieder auf zwei Beinen draußen unterwegs. Keine Sorge. Ich setze die Sonnenbrille auf, und ich kann mir noch schnell den Haarfärbezauber beibringen. Ist nur eine billige Illusion. Kann nicht so schwer sein."

Ich seufze, sehe ihn an und stelle fest, dass ich keine diplomatische Möglichkeit habe, ihn darüber aufzuklären, dass seine Sicherheit ausnahmsweise nicht meine erste Besorgnis war. Ich kratze mit der Waffel ein wenig Vanilleeis vom Rand des Bechers.

„Nimm vielleicht Emilia mit" versuche ich es.

„Willst du's ihr denn sagen?" fragt er erstaunt.

„Nicht?" sage ich.

„Na ja" sagt er. „Wenn ich allein gehe, können wir dieses Detail dezent unter den Tisch fallen lassen."

„Ich sag's ihr" sage ich seufzend. „Ich kann sie schließlich nicht betrügen, oder."

„Wenn, dann nur mit mir" sagt er und grinst.

„Spinner" sage ich seufzend.

„Hör auf zu seufzen" sagt er. „Und nimm dir um Merlins Willen einen Löffel!"

„Es ist deines" sage ich und lecke ein winziges Restchen von der Waffel. „Ich will eigentlich gar nichts davon."

„Natürlich willst du" sagt er und deutet mit dem Stab hinter sich.

Die Tür des Geschirrschrankes springt auf, und ein Löffel zoomt auf mich zu wie ein Geschoss. Ich fange ihn aus der Luft, ehe er meine Schädeldecke durchschlagen kann. Er ist aus Blech und ziemlich verbogen. Ich drehe ihn zwischen den Fingern und seu-

„Hör auf damit!" sagt Sirius. „Es geht mir auf die Nerven."

Ich seufze nicht. Ich versuche ein bisschen Himbeereis, und es schmeckt wie Sommerferien bei den Großeltern in Montélimar.

„Was ist das für ein Buch?" fragt er nach einer himbeereisgefüllten Pause und zeigt mit dem Löffel.

Die verborgenen Dinge" sage ich und warte auf ein Wiedererkennen.

„Aha" sagt er unbeeindruckt. „Du hättest auch ein dickeres kaufen können, weißt du. Das ganze Theater wegen so einem Heftchen."

„Bücher kauft man nicht nach Gewicht" sage ich und nehme ein bisschen von dem bunten Eis auf den Löffel. Erinnert er sich?

„Warte, bis es grün ist" sagt er. „Es ändert nicht nur die Farbe, sondern auch den Geschmack. Grün ist Waldmeister."

„Erinnerst du dich?" frage ich ihn.

„An Waldmeister?" fragt er.

„Nein" sage ich. „An Die verborgenen Dinge."

„Nö" sagt er. „Worum geht's da?"

„Es sind Gedichte" sage ich.

„Dann sowieso nicht" sagt er. „Wann hätte ich schon mal Gedichte gelesen? Viel zu anstrengend."

„Du hast sie dir vorlesen lassen" sage ich und bekämpfe eine irrationale Trauer. Wieder etwas, das ihm verloren gegangen ist. Mir jeder verlorenen Erinnerung begrabe ich ein Stück gemeinsamer Geschichte.

„Tatsächlich?" sagt er. „Wie romantisch. Von wem?"

„Von mir" sage ich.

„Oh" sagt er und vergisst den Löffel Haselnusseis, der auf halbem Weg zum Mund ist. „Du hast mir Gedichte vorgelesen?"

„Ja" sage ich.

„Vor dem Dach oder nach dem Dach?"

„Sowohl als auch. Die ganze sechste Klasse hindurch, wenn ich mich recht erinnere."

„Tatsächlich" sagt er staunend. „Einfach so, in der großen Pause, oder wie?"

„Nicht wirklich" sage ich und schaffe ein Lächeln. „Zu derart rufschädigendem Verhalten hättest du dich niemals hinreißen lassen. Nachts, im Gemeinschaftsraum, auf dem Sofa vor dem Kamin."

„Cool" sagt er und befreit den Eislöffel aus seinem Schwebezustand. „Wie alt waren wir? Siebzehn? Klingt nach etwas, das man unter allen Umständen geheim halten muss."

„So war's auch" sage ich.

Er legt den Löffel hin, zieht das grüne Büchlein zu sich heran und blättert müßig darin. Dann schiebt er seinen Stuhl zurück und kommt zu mir auf die Eckbank.

„Lies mir was vor" sagt er und hält mir das Büchlein hin.

Ich lege den Löffel zurück und nehme das Büchlein.

„Dein Ernst?" sage ich.

„Klar" sagt er. „Du darfst es nur niemandem verraten. Versprochen?"

„Versprochen" sage ich und fühle mich merkwürdig: ein bisschen wie siebzehn, ein bisschen ängstlich, ein bisschen aufgeregt. Ich blättere in dem Büchlein, und Sirius neben mir zieht die Knie hoch und lehnt den Kopf an meine Schulter. Sein Haar kitzelt meine Wange. Mein Mund wird trocken, und das Atmen geht ein wenig stockend.

„Du erinnerst dich wirklich nicht?" frage ich.

„Nein" sagt er. „Kein Stück. Vielleicht, wenn du was liest."

Ich lese, und ich kann es noch: die schwarze Schrift lebendig machen, in Bilder wandeln mit meiner Stimme, und er hat die Augen geschlossen, Empfindungen bewegen sachte sein Gesicht, genau wie früher, er sieht glatt aus und jung, wie siebzehn, und das Eis schmilzt unbeachtet im Becher.

Statistik:

Garderobenproblem: gelöst (ein Paar Jeans, zwei helle Stehkragenhemden, ein brauner Rollkragenpullover, eine Cordjacke, ein großartiger dunkelblauer Anzug, eilig umgeschneidert, aus Sirius' Besitz).

Haarschnittproblem: ungelöst, leider bietet die moderne Magie noch keine Möglichkeit der reversiblen Trennung von Kopf und Rumpf, den Gang kann mir also niemand abnehmen, und so wird er wohl unterbleiben.

Aufnahmeantrag in die Ritterschaft der Tafelrunde: unter Hohngelächter abgelehnt.

Auffinden eines Londoner Branchenbuches, aufgeschlagen beim Buchstaben P wie Psychiater: zu oft, um ein Zufall zu sein.

Schmerzhaft verspannte Schulter: eine (meine).