Kapitel 2: Oh du schöner Schlangenschreck

Yawn hatte einen ziemlich langweiligen Start ins Leben. Sie schlüpfte aus einem Ei, fraß kleine Nager und schlängelte sich gelangweilt durch den Raccoon Forest. Kein Tag verging, an dem die kleine Schlange sich ein echtes Abenteuer wünschte. Dieses sollte schneller kommen, als ihre Fantasie reichte.

An einem lauen Sommermorgen schlängelte die kleine Yawn durch den Vorgarten des Spencer Anwesens, auf der Suche nach ihrer nächsten Mahlzeit. Sie hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, als einer der Wachhunde laut bellte und eine riesige Ratte, gefolgt von ihrem bellenden Angreifer, aus dem Gebüsch flitzte. Yawn zögerte nicht und biss nach dem Nager, der sich als wehrhaft herausstellte. Der Hund indes war vor Verwirrung stehen geblieben, doch dann schaltete sich sein Überlebensinstinkt ein und er überließ der Giftschlange sein Spielzeug. Heute war kein guter Tag zum Sterben. Die Ratte wand sich im verzweifelten Versuch, der Schlange zu entkommen, doch das Gift zeigte bereits seine Wirkung. Wenige Minuten später erstarben ihre Zuckungen und sie lag flach atmend auf dem Rücken. Yawn verspeiste ihre Beute und mit vollem Bauch kroch sie in ihr Nest zurück.

Wenige Tage danach fühlte sich die Schlange seltsam. Es war, als würde ihre Haut zu eng sitzen und ihr Körper brannte wie Feuer. Als der Schmerz das Tier beinahe bewusstlos machte, platzte ihre Haut und sie begann schlagartig zu wachsen. Als sie stolze fünf Meter Länge und die dementsprechende Höhe erreicht hatte, setzte das Wachstum aus und ließ sie sich erschöpft auf dem Waldboden zusammenrollen. Mit ihrer neuen Größe musste sie sich nun nach einem neuen Nistplatz umsehen. Dank ihrer nun erweiterten Hirnkapazität erinnerte sie sich an das Anwesen, wo sie den Hund gesehen hatte. Voller Freude bewegte sie ihren massigen Körper vorwärts und hinterließ eine Schneise der Zerstörung.

Richard Aiken erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Er schwitzte und seine Hände, die er beinahe ununterbrochen um sein Gewehr geschlossen hatte, schmerzten. Verdammt, diese andauernde Angst vor den Schrecken dieses Hauses brachte ihn beinahe um. Doch er wollte weder die Hoffnung noch seine Kameraden vom S.T.A.R.S. Bravo Team aufgeben, die hier auch irgendwo unterwegs waren. Langsam erhob er sich von seiner Ruhestätte; eine große Couch in einem kleinen Kaminzimmer. An der Wand gegenüber des Kamins hing eine Pumpgun, doch Richard hatte keinen Bedarf an einem zweiten Großkaliber. Also verließ er den Raum, dessen Tür in einen winzigen Raum führte und Richard schwor, dass ihm soeben Putz von der Decke auf die Schulter gefallen war. Zum Glück hatte er das Gewehr nicht von der Wand genommen.

Im langen Flur hinter der Tür herrschte eine beunruhigende Stille. Regen peitschte gegen die Fenster und bescherte ihm eine Gänsehaut. Er hätte alles dafür gegeben, wenn ihn jemand geweckt und erklärt hätte, dass das alles nur ein furchtbarer Albtraum war. Doch er wachte nicht auf. Er stand alleine in diesem riesigen Haus und betete, dass hinter der nächsten Ecke kein Hund wartete, um ihn in Stücke zu reißen. Vorsichtig bewegte er sich auf die Doppeltür gegenüber von ihm zu, bedacht darauf, unnötige Geräusche zu vermeiden. Schnell schlüpfte er durch die Tür und seufzte erleichtert, als der Korridor vor ihm keine bösartigen Monster offenbarte. Er wollte definitiv hier weg, doch das Haus schien endlos groß und unübersichtlich noch dazu. Die erste Tür zu seiner Rechten sah vielversprechend aus und so öffnete er sie. Kaum hatte er sie hinter sich geschlossen, hörte er ein unheilvolles Stöhnen aus dem Flur, den er soeben verlassen hatte. In Panik bastelte er an dem Türgriff herum, in der Hoffnung, sie so verriegeln zu können, doch stattdessen brach etwas klirrend im Inneren des Mechanismus und Richard flüchtete in Richtung der Treppe.

Im kleinen Raum neben der Treppe stand eine Menge Krempel herum und Richard fühlte sich einen kurzen Moment sicher. Doch er konnte hier nicht bleiben. Also erklomm er die Treppe und ging instinktiv nach rechts, wo er vor einer Tür ohne Klinke zum Stehen kam. Wer dachte sich denn solch einen Schwachsinn aus? Die Tür am Ende des Flurs war also sein nächstes Ziel und er musste allen Mut, den er aufbringen konnte, zusammen nehmen, damit er nicht auf der Stelle aus dem nächsten Fenster sprang.

Aber die Überlebenschancen draußen waren wohl weniger besser als hier drin.

Der Korridor vor ihm war nur spärlich erhellt und der dunkle Teppich unter seinen Füßen staubte schrecklich bei jedem Schritt. Es war furchtbar stickig und mit jedem Schritt den er machte musste er husten. Gerade hatte er eine massive Stahltür passiert, als er Schritte hörte. Sie schienen menschlicher Natur, doch Richard konnte nicht zuordnen ob sie zu seinen Kameraden oder einem Bewohner dieses Hauses gehörten. Vorsichtig lugte er um die Ecke.

"Wenn ich gewusst hätte, dass ich vom Regen in die Traufe komme, wäre ich wohl lieber mit Billy gegangen.", schimpfte Rebecca Chambers, die beim Bravo Team die Position der Ersthelferin innehatte, während sie ungeduldig jeden einzelnen Schlüssel an einem Schlüsselbund in ihrer Hand an der Tür vor ihr ausprobierte, "Zuerst Egel und Bescheuerte und nun Schlüssel, die nirgends passen."

Genervt stöhnte sie und ließ die Schultern hängen. Sie war Sanitäterin und kein verdammter Schlüsseldienst!

"Oh Gott, endlich, Rebecca! Ich dachte schon, ich wäre ganz allein hi-", platzte Richard freudig aus seinem Versteck hervor, nur, um den Schlüsselbund, den Rebecca eben noch gehalten hatte, an den Kopf geworfen zu bekommen, "Hey, nicht werfen! Ich bin es, Richard!"

Rebecca blinzelte verwirrt, doch als sie ihren Kameraden erkannte, strahlte sie über das ganze Gesicht.

"Zum Glück, Richard! Ich dachte schon, du wärst einer dieser Egeltypen!", freudig umarmte Rebecca ihn und als er sie fragend ansah, schüttelte sie nur den Kopf, "Lange Geschichte. Wie bist du hierher gekommen? Wo ist der Captain?"

"Nachdem wir uns aufgeteilt hatten sind Forest, Kenneth und ich hier gelandet. Jeder von uns wollte einen Teil des Hauses erkunden, doch bisher habe ich keinen der Beiden wieder getroffen. Als wären sie vom Erdboden verschluckt worden.", Richard kratzte sich nervös an der Wange, "Und als die Monster aufgetaucht sind, bin ich in irgendeine Richtung davon gerannt und habe mich wohl verlaufen. Sollen wir vielleicht zusammen nach den Anderen suchen?"

Rebecca stimmte zu und zusammen suchten sie eine halbe Ewigkeit nach dem passenden Schlüssel für die Tür, die Rebecca versucht hatte zuvor zu öffnen. Letztendlich hatten sie Erfolg und betraten einen Flur mit hellem Teppichboden, der nicht weniger staubig war als der letzte. Am Ende befand sich nur eine einzige Tür und obwohl jede Faser in Richard's Körper sich wehrte, durch die Tür zu schreiten, ging Rebecca voran und schleifte ihn mit sich.

Ein leises Zischeln erregte die Aufmerksamkeit des Gespanns. Es kam definitiv aus dem Raum am Ende der kleinen Holztreppe. Richard wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht.

"Bitte bitte keine Schlange! Ich habe eine Cousine in Australien, die von einer Giftschlange gebissen wurde und den großen Fußzeh verloren hat! Ich bin viel zu jung und schön um zu sterben!", keuchte er und presste sich zitternd an die Wand.

Rebecca nickte. Zum Glück! Sie würden nicht-

"Ich wollte schon immer mal eine Schlange sehen!", trällerte sie fröhlich und stieg die Stufen hinauf.

"Dann geh in den Zoo! Oder nach Australien! Aber bitte ohne mich!", flehte Richard, doch Rebecca hatte die Tür bereits geöffnet und war im Raum dahinter verschwunden.

Der junge Mann traute seinen Augen nicht. War die Frau bekloppt? Wusste sie nicht, was das Wort 'Selbsterhaltungstrieb' bedeutete? Richard beschloss, dass die Antwort darauf ein klares NEIN war. Und doch hinderte sein eigener Trieb ihn daran, ihr zu folgen. Also wartete er nervös ab, was passieren würde.

Rebecca fand sich auf einem ziemlich staubigen Dachboden wieder. Überall hingen Spinnenweben und der nächtliche Regen ließ das alte Holz seltsam riechen. Alte Regale lehnten an die Wände, ihr Inhalt schon lange vergessen oder verrottet. Und dann erblickte sie die Schlange. Yawn machte ihrem Namen alle Ehre, als sie die junge Frau mit aufgerissenem Maul begrüßte; zwei messerscharfe Zähne in der Länge eines Unterarmes ragten aus ihrem Oberkiefer.

"Oh!", staunte Rebecca, "So ein großes Exemplar habe ich nicht erwartet. Wie heißt du denn?"

Yawn stutzte. Hatte die aufrecht gehende Ratte eben gesprochen? Zumindest sah sie nicht so krank und unappetitlich aus wie die anderen Ratten, die sie getroffen hatte. Sie zischelte nervös und drehte ihren Kopf ein paar Mal von links nach rechts.

"Mein Name ist Rebecca Chambers. Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört."

Die Schlange wünschte, sie hätte antworten können, doch die Evolution hatte für ihre Art keine Stimmbänder vorgesehen. Also schüttelte sie den Kopf und hoffte, dass die Ratte sie verstand. War es überhaupt eine Ratte? Sie war sich nicht mehr so sicher, schließlich konnten Ratten zwar auf ihren Hinterbeinen stehen, doch sie trugen keine Kleidung…

"Sehr schön!", Rebecca klatschte freudig in die Hände, "Draußen wartet noch ein Freund, der ein bisschen Angst vor Schlangen hat. Vielleicht könntest du ihn davon überzeugen, dass du ganz nett bist und uns nicht aufessen möchtest?"

Yawn rollte mit den Augen. Normalerweise hätte sie gar nicht lange gefackelt und die potentielle Beute verschlungen, doch die verkleidete Ratte war nett und hatte mit ihr gesprochen, da wollte sie eine Ausnahme machen. Fressen konnte sie sie später immer noch.

Richard hatte es sich auf der Treppe bequem gemacht und rechnete fest damit, dass er von nun an wieder auf sich allein gestellt war. Er hatte seit zehn Minuten kein Lebenszeichen von Rebecca erhalten und in Gedanken legte er schon Blumen auf ihr Grab.

Wollte in einem Horrorhaus unbedingt Schlangen sehen. Selbst schuld.

Er bemerkte nicht, dass sich die Tür hinter ihm langsam aufschob und ein riesiger Schlangenkopf hindurch zwängte. Erst, als der Atem des Reptils ihn im Nacken streifte, sprang er ruckartig auf, packte sein Gewehr und wünschte sich, er wäre überall, nur nicht hier. Yawn selbst erschreckte sich dermaßen, dass sie am Türrahmen hängen blieb, einen großen Holzsplitter heraus riss und ihn in Richtung Richard schleuderte. Der Splitter bohrte sich in seine linke Schulter und warf ihn zu Boden. Die verstörte Schlange flüchtete und ließ eine ratlose Rebecca zurück.

Richard hatte kurzzeitig das Bewusstsein verloren und als er die Augen öffnete, blickte er in eine kleine Lache seines eigenen Blutes. Seine linke Schulter brannte und schmerzte wie die Hölle persönlich und es fiel ihm schwer, nicht sogleich wieder in Ohnmacht zu fallen. Rebecca saß an seiner Seite und schniefte laut. Als sie bemerkte, dass Richard wieder bei Bewusstsein war, schaute sie ihm besorgt in die Augen.

"Wie fühlst du dich?", fragte sie ängstlich.

"So beschissen wie noch nie.", murmelte er kraftlos, "Der Splitter muss raus, sonst bekomme ich eine Sepsis. Bin nicht geimpft."

Rebecca starrte ihn mit offenem Mund an.

"Aber du könntest verbluten!"

War sie jetzt Sanitäterin oder nicht?! Innerlich wünschte sich Richard zu verbluten und diesem Albtraum endlich zu entkommen, doch scheinbar hatte sich Rebecca derweil an ihre Ausbildung erinnert und begutachtete seine Schulter.

"Wir müssen gleich einen Druckverband anlegen, sonst bist du hinüber."

Welch tröstliche Worte.

Und so kam es, dass Richard von Chris gerettet wurde (er hatte tatsächlich eine Blutvergiftung) und die arme Yawn nach ihrem Schreck in die Bibliothek zog, wo es keine sprechenden Ratten gab.