Fast das gesamte Haus Slytherin saß am großen Tisch in der festlich geschmückten Halle. Nur wenige Hufflepuffs und Ravenclaws waren im Schloss geblieben. Die Lehrer versuchten ihr Bestes, sich unter die Schüler zu mischen, doch am Schluss saßen alle den Slytherins gegenüber. Hermione hatte einen Platz neben Jenson Fender gefunden, die andere Seite wurde begrenzt durch den Hauslehrer der Schlangen. Er hatte sein höhnischstes Weihnachtsgrinsen im Gesicht, das die Schüler von allem Unsinn abhielt. Weil so viele Kinder die Ferien im Schloss verbrachten, war weit mehr Personal anwesend, als es Hermione von ihren eigenen Schultagen in Erinnerung hatte. Außer ihr waren alle vier Hauslehrer von der Schulleiterin zum Bleiben verpflichtet worden, außerdem die Professorin für Muggelkunde und weitere Vertretungskräfte. Hagrid, der seine Tiere nicht allein lassen konnte, war auch anwesend. Er hatte außerdem niemanden, den er besuchen wollte, seit Grawp im Verbotenen Wald wohnte und seine recht einseitige Liebe zu Madame Maxime abgekühlt war.
Minerva McGonnagal hatte bereits angekündigt, nach dem Dinner eine informelle Lehrerversammlung abzuhalten. Das erklärte mit Sicherheit Severus' schlechte Laune, doch Hermione ließ sich davon nicht abhalten, die Mahlzeit zu genießen. Die Hauselfen hatten sich wieder einmal selbst übertroffen. Es gab Rinderbraten, Gänsekeule, Platten mit Lachs und Käse, Obst, Quarkspeisen und natürlich Feigenpudding. Und wie jedes Jahr endete das Festessen für einen der Schüler auf der Liege im Krankenflügel. Diesmal war es Jenson, der auf die Münze im Pudding gebissen und einen beschädigten Zahn davongetragen hatte. Dass die Jungs es aber auch nicht lernten!
Kopfschüttelnd sah die Heilerin dem Siebtklässler hinterher. Aus ihrem einstigen Sorgenkind war ein anständiger junger Mann geworden. Er war als Schulsprecher beliebt, weil er seine Macht nicht missbrauchte. Tatsächlich griff er gegenüber seinen Hauskameraden oft härter durch, obwohl Hermione vermutete, dass er sie weniger für das Vergehen bestrafte sondern dafür, sich erwischen zu lassen. Zu Hermione hatte er noch immer eine ganz besondere Beziehung und manchmal sah sie in seinen Augen noch den schüchternen Waisenjungen, dem das Leben so große Angst einjagte. Doch es hatte sich viel verändert, seit Severus die Zeichnung gefunden hatte, die unmissverständlich sie darstellte und unter der in krakeliger Schrift das Wort „Mutter" stand. Mit gemischten Gefühlen hatte sie das wahrgenommen, doch Jensons Talent zu malen hatte ihm Flucht und Therapie gleichzeitig ermöglicht. Sie war sich sicher, dass er seinen Weg gehen würde.
„Wieso warst du nicht bei der fröhlichen Gesellschaft, die von der Schulleiterin einberufen wurde?", knurrte Severus und schob seinen dünnen Körper durch die Tür.
„Es war eine Lehrerversammlung."
„Du weißt genau, dass sie dich mit einbezogen hat."
„Das hat sie aber nicht gesagt." Hermione grinste ihn an. Sie hatte ein gutes Vorbild, wenn es um Spitzfindigkeiten ging und sie wusste, dass seine schlechte Laune nicht ihretwegen bestand.
„Was war es diesmal?", fragte sie und goss heiße Schokolade in ihre Tassen. Diese Gewohnheit hatte sie aus ihrer Kindheit übernommen und hielt daran fest. Auch Severus hatte sich daran gewöhnt, denn sie hatte ihn in ihre Rituale einbezogen, seit er das erste Fest mit ihr verbracht hatte. Das Feuer im Kamin knisterte leise und ließ Schatten über die Wände tanzen. Auch ohne Dekoration war Hermiones Wohnraum von einer friedlichen Weihnachtsstimmung durchflutet. Nur Severus, der auf dem warmen braunen Sofa neben ihr saß, schien davon ausgeschlossen.
„Socken", spie der Tränkemeister, bevor er einen Schluck nahm und man beinahe zusehen konnte, wie sich Entspannung in ihm ausbreitete. Hermione lächelte hinter ihrer Tasse. Nun musste sie nur noch seinen Geist besänftigen. Über die Jahre war ihre Freundschaft gewachsen und sie hatten ein tiefes Verständnis füreinander entwickelt. Zwar waren sie beide Sturköpfe und stritten oft genug, doch sie griffen einander nie persönlich an. Zu wichtig war der vertraute Mensch, der einzige Freund.
„Was war schlimmer?", fragte sie vorsichtig. „Die Socken oder dass die Socken das einzige Geschenk waren?"
Er grinste höhnisch und antwortete nicht. Hermione vermutete, dass es leichter zu ertragen gewesen wäre, gar kein Geschenk zu bekommen. Severus wollte kein Mitleid, keine pflichtgemäße Anerkennung. Er brauchte einen Platz, an dem er um seiner selbst willen sein durfte. Oft war er Exspion, Tränkemeister und strenger Professor, und obwohl dies ein Teil von ihm war, trug er es oft als Maske und als Schutzschild. Seine Persönlichkeit besaß so viele Facetten, die er vor der Welt versteckte, dass Hermione sich fragte, ob sie ihn jemals vollständig kennen würde.
Jetzt beobachtete sie jedoch, wie er einen Gegenstand aus seiner Tasche hervorholte und mit einer sanften Zauberstabberührung wieder auf normale Größe brachte.
„Für dich", ließ er sie mürrisch wissen, doch sie ließ sich nicht täuschen. Er wartete höchst angespannt auf ihre Reaktion, wie jedes Jahr verborgen hinter Missmut und Langeweile.
Ihre Augen wurden groß und sie fuhr ehrfürchtig über die goldenen Lettern auf dem Einband des Buchs.
„Heilerey und Hexerey", flüsterte sie den Titel des antiken Werkes und konnte nicht anders, als Severus in eine stürmische Umarmung zu ziehen. Seine Wange war ein wenig rauh und er roch nach Kakao und Kräutern und sie wollte nichts weniger als ihn wieder loslassen.
„Ich nehme also an, dass es dir gefällt", brummte er, als Hermione sich mit geröteten Wangen wieder aufrichtete.
„Das ist unglaublich, Severus! Von diesem Buch gibt es nur noch siebenundfünfzig Exemplare! Das ist – wow – danke!" Sie strahlte ihn an und hielt sich davon ab, ihn nochmals zu umarmen. Er würde sie sonst für den gryffindorschen Hang zum Körperkontakt rügen.
Noch immer grinsend legte sie das kostbare Buch zur Seite. Irgendwann würde er ihr verraten, wie er an solch einen Schatz gekommen war.
„Ich habe auch etwas für dich", teilte sie ihm mit. „Also eigentlich ist es ein Geschenk für uns beide."
Eine tiefschwarze linke Augenbraue hob sich minimal und ihr wurde bewusst, was sie gerade gesagt hatte.
„Severus!", rief sie mit hochrotem Kopf, unfähig, einen vernünftigen Satz zu ihrer Verteidigung zu äußern, als er sie mit einem echten Lächeln ansah. Es war nicht die Doppeldeutigkeit ihrer Aussage, die ihre Gedanken zum Rasen brachte, sondern dass er die Andeutung ohne Zögern angenommen hatte. Oh weh, dachte sie, ich stecke tiefer in Schwierigkeiten als ich befürchtet hatte. Solche Probleme hatte sie nie kennengelernt, als ihr Freundeskreis noch aus Leuten bestanden hatte, die ihr Herz auf der Zunge trugen und praktisch keine Geheimnisse bewahren konnten. Für den verschlossenen Slytherin allerdings kam sein Verhalten einem Gefühlsausbruch gleich, es war beinahe eine – Hermione verbot sich, weiterzudenken. Es war emotional zu gefährlich, sich in dieses tiefe Gewässer zu begeben.
Sie bedeckte ihre heißen Wangen mit den Händen, bevor sie zu einer Erklärung ansetzte:
„Im Januar ist in Südfrankreich der Heiltränkekongress. Ich habe bei Minerva durchgesetzt, dass du mich begleitest. Immerhin braust du die meisten meiner Vorräte und musst deshalb auf dem neuesten Stand sein." Sie kennzeichnete den letzten Teil mit Anführungszeichen in der Luft und Severus grinste verschlagen. Hermione war sich sicher, dass ihm das Wochenende weit weg von Dummköpfen und Dilettanten gut gefallen würde. Als er schließlich ihre Räume verließ, bestätigte er ihre Annahme mit einem knappen Nicken und einem sehr leisen „Danke", und Hermione fühlte die verräterische Röte erneut in ihre Wangen kriechen.
In einem Anflug nostalgischer Betriebsamkeit durchstöberte Hermione einige Wochen später ihre alten Notizbücher. Viele Seiten enthielten unzusammenhängende Gedankensplitter oder Versuche, ihre Träume zu analysieren. Ein paar Ansätze für längst überfällige Briefe an ihre Eltern oder Harry waren ebenso zu finden wie Ideen für neue Heilzauber. In einem der ältesten Bücher fand sie ein Pergament und leise lächelnd faltete sie es auf. Sie wusste genau, was darauf stand. Vor fast zehn Jahren hatte sie diese Liste mehrere Abende gekostet. Fein säuberlich hatte sie geschrieben:
Wie ich ein Freund für Severus Snape werden kann:
Ich nerve ihn nicht mit Plappern und Fröhlichkeit, besonders nich,t bevor er morgens mindestens zwei Tassen Kaffee oder Tee getrunken hat.
Ich stelle keine persönlichen Fragen ohne dass er das Thema angesprochen hat.
Ich lege jedes meiner Worte auf die Goldwaage.
Ich lege keines seiner Worte auf die Goldwaage.
Ich beurteile weder sein vergangenes noch sein aktuelles Handeln, bevor ich seinen Standpunkt kenne.
Ich werde da sein.
Hermione schloss die Augen, als sie die schwierige Anfangszeit ihrer Freundschaft Revue passieren ließ. Trotz des chaotischen Beginns war sie schneller zu ihm durchgedrungen als sie erwartet hatte. Sie machte sich nichts vor; niemals hätte er sie Dinge wissen und Erfahrungen machen lassen, wenn er es nicht gewollt hätte. Severus war der verschlossenste und kontrollierteste Mensch, den sie kannte. Erst in den letzten Jahren war ihre Beziehung zu dem geworden, was den Namen Freundschaft tatsächlich verdiente. Doch mehr als stolz war Hermione dankbar, in dem grüblerischen Tränkemeister einen Vertrauten gefunden zu haben.
Die Liste war noch nicht zu Ende.
Warum ich ein Freund für Severus Snape sein möchte:
Niemand kommt ohne Freunde aus.
Er braucht ein normales Leben nach dem Krieg.
Er verdient eine gleichgestellte Rolle in einer Beziehung.
Er ist eine interessante Persönlichkeit.
Ich brauche einen Freund.
Hermione lächelte. Den Drang, Listen zu jedem ihrer Vorhaben zu schreiben, hatte sie längst abgelegt. Doch jetzt juckte es sie in den Fingern, denn so würde sie ihre Gedanken angemessen sortieren können. Die Frage, mit der sie sich seit Wochen und Monaten beschäftigte, hatte sich noch nicht beantworten lassen.
Ihre Freundschaft mit Severus bedeutete Akzeptanz und Vertrauen. In so mancher Hinsicht ergänzten sie sich, konnten gemeinsam Dinge bewältigen, die jeden von ihnen allein mehr Kraft gekostet hätten als sie aufwenden konnten. Er war ihr Ruhepol und sie seine Spontaneität.
Akzeptanz, Vertrauen, Kraft und Ruhe. Aber auch Herzklopfen, Vorfreude, Kribbeln im Bauch und andere Symptome, denen die Heilerin längst entwachsen zu sein geglaubt hatte.
Wollte sie die Freundschaft aufs Spiel setzen?
Hermione war sich sicher, die kleinen Zeichen richtig zu deuten. Er lächelte sie an ohne einen Hauch seiner Okklumentikmauer in den Augen. Dass sie erkannte, wann er sich und seine Gedanken abschirmte, sprach für sich, und noch mehr, dass er seine Abwehr längst nicht mehr einsetzte, wenn sie allein waren. Severus suchte ohne Anlass ihre Nähe und berührte sie, so oft sich die Gelegenheit bot, jedoch ohne die Regeln des Anstands zu verletzten. Eine sanfte Berührung am Rücken oder ein angebotener Arm fiel niemandem auf, doch Hermione kannte ihren Freund zu gut.
Sie wusste, dass auch Severus die Veränderung spürte. Möglicherweise entwickelte sich ihre Beziehung von ganz allein weiter, ohne dass sie sich die Blöße einer Erklärung geben mussten. Allerdings war es genauso wahrscheinlich, dass Severus sich von ihr zurückzog, wenn er begriff, was passierte. Und dann war da immer noch die Frage, ob ihre Gefühle nur die natürliche Konsequenz waren, entstanden aus Einsamkeit und dem Wunsch nach körperlicher Nähe.
Nach einer unruhigen Nacht griff Hermione nach all ihrem Gryffindormut und der Liste, bevor sie sich auf den Weg in die Kerker machte.
„Ich weiß, du wolltest nichts zum Geburtstag", plapperte sie los, nachdem sie sich selbst in Severus' Wohnraum gelassen hatte. Dieses Verhalten sollten sie sich beide abgewöhnen, stellte sie zusammenhangslos fest, bevor sie Severus das ordentlich gefaltete Pergament reichte.
„Ich möchte dir trotzdem das hier geben."
Der Exspion stand ihr in Hemd und dunkler Hose gegenüber und war von ihrem Besuch nicht überrascht. Es war eine Art Tradition geworden, dem anderen frühmorgens am Geburtstag alles Gute zu wünschen, bevor der Trubel des Tages über sie hereinbrach.
Als er die Liste gelesen hatte, blickte er sie stumm an und Hermione beeilte sich, zu erklären.
„Das habe ich geschrieben, kurz nachdem ich nach Hogwarts kam."
„Dann gratuliere ich zu Ihrer großartigen Auffassungsgabe, Miss Granger", schnarrte er mit lachenden Augen.
„Ach, sei still", schimpfte sie. „Das hier ist wichtig."
Sie holte tief Luft und ärgerte sich über ihre Nervosität.
„Als ich das Pergament gestern wiedergefunden habe, ist mir klar geworden, dass ich nicht dein Freund sein will, Severus. Nicht nur."
Für einen unendlichen Moment hoffte und fürchtete sie, dass ihre Worte zu kryptisch gewesen waren, doch dann nickte er unmerklich.
„Ich verstehe", sagte er leise und sah durch sie hindurch. Dann griff er nach seinem Gehrock und bot ihr seinen Arm.
„Kommst du? Es ist Zeit, zu frühstücken."
Als Hermione zwei Tag später die Treppen zu Minerva McGonnagalls Büro erklomm, klopfte ihr Herz nicht nur vor Anstrengung. Wenige Minuten zuvor hatte sie die Nachricht erhalten, dass die Flohverbindung nach Montpellier freigeschaltet wäre. Aus Sicherheitsgründen durften Flohreisen von Hogwarts aus nur nach vorheriger Anmeldung und nur noch vom Schulleiterbüro aus stattfinden.
Hermione hatte Severus seit seinem Geburtstag nicht mehr gesehen. Das war in Ordnung, sie hatte erwartet, dass er Zeit zum Nachdenken brauchte. Eigentlich hatte er ihre Eröffnung nicht schlecht aufgenommen, resümierte sie. Doch sie hätte sich einen besseren Zeitpunkt aussuchen sollen. Dennoch freute sie sich auf die Konferenz und auf die Gesellschaft des Tränkemeisters.
„Schulleiterin", grüßte Severus emotionslos, als er die Tür zum Arbeitszimmer der Direktorin hinter sich schloss. „Hermione."
Die Abschiedsworte von Minerva rauschten ungehört an ihr vorbei. Zu sehr war ihre Aufmerksamkeit auf den Mann gerichtet, dessen Präsenz alles überdeckte. Er stand so dicht hinter ihr, dass sie meinte, seine Wärme spüren zu können.
„Nun gut, ihr zwei." Die Schulleiterin schlug die Hände zusammen, bevor sie zur Seite trat, um den Kamin freizugeben. „Ihr müsst los. Denkt daran, das ist kein Urlaub, sondern eine Dienstreise. Benehmt euch!"
Da war es, dieses Fastlächeln, das Hermione so liebte. Verdeckt von seinem dunklen Umhang griff Severus nach ihrer Hand und verschränkte seine Finger mit ihren.
Montpellier ist ein schöner Ort, dachte Hermione, als sie gemeinsam in die grünen Flammen traten. Weit weg von Dummköpfen und Dilettanten.
Fin.