So, meine Lieben. Dies ist also das letzte Kapitel. Vielen lieben Dank euch allen fürs Lesen und Kommentieren der Geschichte. Für Fragen, Kritik, Anregungen war und bin euch noch immer sehr dankbar. Lasst mich wissen, was ihr von der Story haltet. Vielleicht werde ich in Zukunft noch mal ein Kapitel anhaengen, aber fürs erste war's das erstmal. Ich schreibe an einer neuen FF und es waere schoen, wenn ihr auch da mal wieder reinschauen würdet. LG, eure Jkay
Kapitel zweiundzwanzig
Mycrofts Besuch hatte John, wenn auch nicht verunsichert, so doch zu denken gegeben. Er musste mit Sherlock sprechen. Noch an diesem Abend. Wenn er sich auch nicht sicher war, dass er den Mut, den er sich hierfür wünschte, bereits gefunden hatte, so stand doch unumstößlich fest, dass er keinen weiteren Tag in dieser quälenden Ungewissheit überstehen würde: Beraubt von den unschuldigen Berührungen, zärtlichen Umarmungen und den Küssen, die ihn um seinen Verstand brachten, und gezwungen vom Sofa aus zuzusehen, wie Sherlock sich von ihm distanzierte, unwissend, ob dies aus Unsicherheit geschah oder es einen anderen Grund dafür gab.
Die Angelegenheit musste definitiv ein und für allemal geklärt werden.
Nachdem Mycroft gegangen war, hatte John hin- und herüberlegt, wie er das Thema am besten zur Sprache bringen konnte. Zu Beginn hatte er es kurz in Erwägung gezogen, um einige Kerzen anzuzünden, Wein einzuschenken, und die Dinge zu tun, die er normalerweise tat, wenn er sich der Person seines romantischen Interesses näherte. Diese Idee hatte er allerdings gleich wieder verworfen. Sherlock war schließlich nicht irgendjemand. Sherlock war eben Sherlock. Es fühlte sich nicht richtig an und der Alkohol hätte wohl mehr Schaden angerichtet, als dass er Gutes hätte ausrichten können. Schließlich musste er seine fünf Sinne beisammen haben, wenn er sich mit Sherlock auseinandersetzte. Letzten Endes entschied er sich dazu, das Problem direkt und, wie er hoffte, kurz und schmerzlos anzusprechen, und begnügte sich mit Tee, den er nach einigen körperlichen Anstrengungen hatte kochen und ins Wohnzimmer bringen können.
In Gedanken versunken nippte er an seinem Tee und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Er musste sich jedoch noch eine weitere Stunde gedulden, bevor er Mrs Hudsons Eingangstür hörte, gefolgt von leisen Schritten auf der Treppe, die eindeutig von Sherlock stammten. Der Detektiv hatte offensichtlich zum zweiten Mal den Hinterhof genommen.
In der Tür blieb Sherlock stehen. Seine Augen musterten den Raum eingehend. Dann machte er ein düsteres Gesicht. „Mycroft war hier", bemerkte er schließlich. „Was wollte er denn jetzt schon wieder?"
Johns Herz klopfte bis zum Hals als er seinen Freund aufmerksam betrachtete. „Nebensächlich", antwortete er ausweichend. „Das erzähl ich dir später. Wie geht's Victor?"
Ihm war klar, dass Sherlock sein Manöver durchschaute, doch für den Moment sagte er nichts zum Thema Mycroft und ließ John gewähren. „Soweit gut", entgegnete der Detektiv. „Jones und er werden für ein paar Wochen in Urlaub fahren, um sich zu erholen. Offensichtlich hat der Gute immer noch keine Nerven aus Stahl", fügte er verständnislos hinzu.
John hielt den Atem an. „War es schwer für dich?", fragte er. Dabei vermied er es, seinen Freund anzusehen.
Sherlock hob den Kopf. „Was?"
„Dich zu verabschieden."
Sherlock blickte ihn aufmerksam an. „Nein", antwortete er schließlich. „Warum sollte es?"
„Vielleicht weil du noch etwas für ihn empfindest?", fragte John vorsichtig.
Sherlock schnaubte verächtlich. „Wohl kaum. Victor ist das reinste Nervenbündel. Ich bezweifle, dass er ein großer Freund von abgehackten Köpfen im Kühlschrank wäre."
„Was ich allerdings gut nachvollziehen kann", gab John zu. „Bin ich auch nicht, denn das ist eklig."
Sherlock grinste. „Du tolerierst es aber."
„Womit du dich glücklich schätzen kannst", konterte John und schob dann seine eigentliche Frage hinterher. „Also ist das Kapitel abgeschlossen?"
„Wie ich bereits sagte, John. Victor Trevor liegt in der Vergangenheit. Ich muss allerdings zugeben, dass es nützlich war, ihn wieder zu sehen. Jetzt wissen wir beide, dass es dem jeweils anderen gut geht", sagte Sherlock mit einer für ihn ungewohnten Offenheit hinsichtlich seines Gefühlslebens.
John nickte, sagte aber nichts. Stattdessen richtete er den Blick auf das Geschenk, das Mycroft ihm vor einigen Wochen gegeben hatte und welches nun in unverändert eingepacktem Zustand auf dem Kaminsims lag. Schon oft hatte er sich gefragt, was drin war, aber nicht den Mut gefunden, es wirklich auszupacken. Immerhin war er zu jenem Zeitpunkt nicht wirklich Sherlocks Verlobter im eigentlichen Sinne gewesen, und was er zukünftig sein würde, musste sich erst noch herausstellen. Mycroft hatte diese Tatsache glücklicherweise nicht kommentiert.
Sherlocks Stimme holte in die Gegenwart zurück. „Ganz nebenbei, John. Versuchst du den Inhalt des Geschenks zu deduzieren? Oder warum starrst du es nieder?", fragte er zweifelnd und fügte dann hinzu, „Warum hast du es eigentlich noch nicht ausgepackt?"
John holte tief Luft und blickte Sherlock schließlich an. „Wir müssen reden, Sherlock." Er versuchte jeden kommandierenden Tonfall aus seiner Stimme zu bannen, aber dennoch entschlossen zu klingen. Es ging ja nicht darum, ihm die Leviten zu lesen. Das hatte er zwar ursprünglich vorgehabt, aber ihm war die Klärung dieser Angelegenheit dann doch wichtiger. Dies würde die „Erklärung" sein, und als John darüber nachdachte, wünschte er sich beinahe, dass er sich doch für Alkohol entschieden hätte.
„Wir reden doch schon", bemerkte Sherlock und hing seinen Mantel an der Tür auf.
John lächelte nervös. „Ähm … Ich meine ein offenes Gespräch."
Sherlock machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, aber fügte sich dennoch schweigend in sein Schicksal. Er bedeutete John mit einer geflissentlichen Handbewegung fortzufahren als er sich unzeremoniell in seinen Sessel fallen ließ. „Was habe ich nun wieder verbrochen?"
John stand mühsam und unter dem lautstarken Protest des Detektivs – „John, lass das bleiben. Du sollst dein Bein schonen!" - auf und humpelte zu ihm hinüber. Dann setzte er sich nervös in seinen Sessel. „Nichts, Sherlock. Du hast nichts getan … und eigentlich auch alles."
Sherlock blickte ihn verständnislos an.
Als John sein verwirrtes Gesicht sah, musste er humorlos in sich hineinkichern und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Wenn das schiefging, hatte John ein ernstzunehmendes Problem. Dann aber verbannte er den Gedanken und rief er sich innerlich zur Ordnung.
Direkt. Kurz. Schmerzlos.
Er rieb sich kurz mit den Händen über das Gesicht, bevor er seufzend den Kopf hob und Sherlock direkt in die Augen blickte. „Ich will … dich."
Sherlock sah in überrascht an. John konnte sehen, dass er seine Worte schnell überdachte und versuchte sie in den richtigen Kontext einzuordnen. „Mich dazu bringen, was zu tun?", fragte er skeptisch. Dann rümpfte er die Nase. „Hast du die Augen in der Mikrowelle gefunden?"
„Augen in der Mikrowelle? Sherlock, wie oft muss ich dir noch sagen ...", begann John, doch besann sich schnell eines Besseren. „Vergiss die Augen. Wir schweifen vom Thema ab."
„Ich weiß nicht, worüber du die ganze Zeit redest, John." In Sherlocks Stimme war ein Hauch von Frustration zu hören. „Ich frage mich, ob du die große Güte besitzen könntest, zu erwägen, mich aufzuklären."
John ging nicht auf seinen Sarkasmus ein. „Ich will dich."
„Ja, John, den Teil verstehe ich. Aber WOZU willst du mich bringen? Was soll ich tun? Ich hab keinen blassen Schimmer", rief Sherlock ungeduldig aus. Dann hielt er mitten in der Bewegung inne und der Ausdruck der Ungeduld in seinem Gesicht veränderte sich in den Ausdruck des Verstehens. „Oh", sagte er. „Aber natürlich … unsere Abmachung", fuhr er flüsternd fort, doch sprach dabei mehr mit sich selbst als mit John. „Wie dumm", schimpfte er sich selbst aus. „Nun, ähm, John, ich werde die ganze Verlobungsangelegenheit gleich morgen früh richtig stellen. Ich, ähm, hab's irgendwie vergessen." Dabei sah er ganz eindeutig aus wie ein Häufchen Elend.
Bei John fingen alle Alarmglocken an zu schrillen. „Nein", antwortete er schnell. „Das brauchst du nicht."
Sherlock runzelte verwundert die Stirn. „Nein?"
„Ähm, nein. Das wird wohl nicht nötig sein … hoffe ich", erwiderte John. „Sieh mal, Sherlock. Ich weiß, dass das alles neu für uns ist und irgendwie … unvorhergesehen, aber ich will dich nicht zu irgendetwas bringen, Sherlock. Es gibt keine Ergänzung zu dem, was ich gesagt habe. Ich will dich ganz einfach. Das ist alles."
„Wie meinst du das?" Sherlock war auf der Hut und scheinbar noch immer ratlos.
„Ach du meine Güte. Stell dich doch nicht so dumm. Dumm passt nicht zu dir", platzte John frustriert heraus. Zögerlich verließ er seinen Sessel, kniete sich auf den Fußboden vor den Detektiv hin und legte seine Hände links und rechts neben den Detektiv auf die jeweilige Armlehne. Dabei versuchte er, das schmerzhafte Ziehen in seinem Bein zu ignorieren. Ihre Finger berührten sich nicht, aber die unmittelbare Nähe von Sherlocks Händen sandte ein Prickeln durch Johns Handrücken. Er dachte daran, dass dies nicht nur der Moment war, den er seit Tagen heiß ersehnt hatte, sondern auch seine Liebeserklärung, die zärtlich und in Sherlocks Fall hinsichtlich seiner Aversion gegen Sentiment auch vorsichtig geäußert werden sollte. So fuhr er in einer sanfteren, geduldigeren Stimme fort. „Sherlock, ich trage noch immer deinen Ring, und ich habe beobachtet, dass du deinen auch nicht abgenommen hast. Wenn du nicht willst, dass ich deinen Ring auch weiterhin trage, dann sag es mir bitte jetzt gleich. Du bist zu gutmütig, als dass du meine Gefühle leichtfertig verletzen würdest. Wenn du nur Freundschaft willst und diese … Situation beenden möchtest, dann gehört das absolut zu den Möglichkeiten. Es wird mir sehr schwer fallen, aber ich werde mir Mühe geben, jeden liebevollen Moment, den wir während des Falls miteinander erlebt haben, zu vergessen und du kannst versuchen diese Erfahrungen löschen. Unsere Freundschaft steht nicht auf dem Spiel, das verspreche ich dir. Aber ich muss wissen, was du willst."
Sherlock sagte erst einmal gar nichts, sondern starrte John unverwandt an. Er hatte ganz offensichtlich noch immer Schwierigkeiten, die Informationen zu verarbeiten.
John sah ein, dass es komplex und schwierig und eigentlich vollkommen unmöglich war, Sherlock seine Gefühle zu erläutern ohne das gefürchtete L-Wort mit fünf Buchstaben auszusprechen. Er war sich allerdings auch unsicher, wie Sherlock darauf reagieren würde, wenn er es benutzte. John atmete ein weiteres Mal tief durch, bevor er sich entschloss, es darauf ankommen zu lassen.
„Weißt du, zuerst hast du mich mit deiner Eröffnung über die Verlobung und der ganzen Geschichte einfach nur überrumpelt. Im einen Moment habe ich meinen Toast gegessen und im nächsten Moment hatte ich einen Ring am Finger. Ich wusste gar nicht so schnell wie mir geschah. Erst hat die Schauspielerei mich um den Verstand gebracht, aber dann hast du meine Hand genommen und mich geküsst und kamen wir einander immer näher. Mir wurde langsam klar, dass ich mehr als nur Freundschaft für dich empfinde, wodurch die vergangenen Wochen umso schwieriger wurden", sagte er schließlich. „Ich meine, ich bin ein Mann in den Vierzigern, und habe ganz einfach nicht erwartet, dass ich meine sexuelle Identität in diesem Alter noch einmal in Frage stellen muss. Ich war bisher noch nie an einem Mann interessiert. Versteh mich bitte nicht falsch, ich habe dich immer geliebt, auf eine freundschaftliche, brüderliche Art, aber ganz offensichtlich war da auch immer schon mehr. Ich habe das nur nicht gesehen … oder sehen wollen", erklärte John. Langsam streckte er seine Hände nach Sherlocks aus und verschlang ihre Finger miteinander. „Wenn du heute noch keine Antwort für mich hast, dann ist das in Ordnung. Bitte, sag mir nur ganz einfach, wie viel Zeit du brauchst, um dir über uns klar zu werden. Ich muss wirklich wissen, woran ich bin."
„Mehr als nur Freundschaft", sagte Sherlock, halbwegs fragend und halbwegs bemerkend.
„Ja", bestätigte John. „Sieh mal, Sherlock. Ich weiß, dass das alles auch für dich sehr schwierig ist. Aber der Brief, den ich dir geschrieben habe … Jedes Wort davon war ernst gemeint. Ich kenne dich durch und durch. Es gibt nichts, was du tun oder sagen könntest, das mich von dir entfremden könnte. Ich weiß genau, worauf ich mich da einlasse. Du kannst immer auf meine Liebe und Freundschaft zählen."
Sie blickten einander eine Weile schweigend an. Die Sekunden verstrichen und John wurde merkbar nervöser. Ihm pochte das Herz bis zum Hals. Er hoffte inbrünstig, dass der Schuss nicht nach hinten losgegangen war.
„Ich bin hierin nicht besonders gut, John, aber ich will es versuchen", sagte Sherlock schließlich. „Ich weiß, dass ich kein idealer Partner bin, und ich könnte dir vermutlich alle Nachteile aufzählen, die eine Beziehung mit mir mit sich bringt, aber wie du bereits gesagt hast, du kennst mich durch und durch. Ich werde höchstwahrscheinlich alle Dinge, die du als sozial wertvoll erachtest, entweder vergessen oder ignorieren. …Aber ich bin bereit, es mit uns zu versuchen, John."
John atmete hörbar erleichtert aus. Er fühlte sich zum ersten Mal in Wochen, als ob eine Last von seinen Schultern gefallen war. „Ich werde nehmen, was auch immer du bereit bist zu geben." Er drückte Sherlocks Hände noch einmal beruhigend und hievte sich mühsam hoch, um sich wieder in den Sessel hinter ihm fallen zu lassen. Die kniende Position hielt sein Bein auf Dauer nicht aus und er wollte Sherlock in dieser Situation, die zweifelsohne für sie beide gleichermaßen erleichternd wie auch schwierig war, nicht bedrängen. Sie beide würden Zeit brauchen, um diese neuen Umstände zu verarbeiten und sich anzupassen.
Sherlock lächelte ihn schüchtern an. „Du hattest deine Verdachtsmomente während des Falles. Victor hat dich überrascht und neugierig gemacht. Warst du schockiert, John? Erschrocken? Hat es dich abgestoßen? Dass ich das alles für ihn empfunden habe … und nun für dich empfinde?"
„Nein, natürlich nicht", erwiderte John kopfschüttelnd. „Für wen hältst du mich? Ich bin froh, dass du der Liebe nicht völlig entsagt hast. Ich war ganz einfach nur überrascht, dass du mich als Victors Nachfolger ausgewählt hast, wo du doch jeden hättest haben können. Oder zumindest viele. Und ich habe mich natürlich gefragt, was aus ‚Liebe ist ein gefährlicher Nachteil' geworden ist."
„Liebe ist nur dann ein gefährlicher Nachteil, wenn sie auch die ungewünschten chemischen Defekte mit sich führt. Aber du beeinflusst meinen Verstand nicht auf diese äußerst unangenehme Art, John. Du stimulierst mich", erwiderte Sherlock grinsend. „Als Lichtleiter bist du ganz einfach unschlagbar."
Unwillkürlich musste John an Dartmoor denken. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. War dies doch zweifelsohne Sherlocks Manier, um seine Gefühle auszudrücken. Es würde Zeit kosten, um ihn dauerhaft aus seinem Schneckenhaus herauszulocken. Von Zeit zu Zeit gewährte er ihm Einblicke, und was John sah, gefiel ihm ganz einfach. So sehr, dass er es gerne in Kauf nahm, Unmengen von Zeit und Geduld in seinen Freund zu investieren. In der Zwischenzeit würde er Vorlieb mit dem halb-humorvollen, halb-zynischen Ton nehmen müssen, der bei Sherlock ein Zeichen von Vertrautheit war. Das war in Ordnung. John gab sich nicht der Illusion hin, dass es leicht werden würde.
„Da gibt es eine Sache, die ich nicht verstehe. Warum hast du auf dieser Verlobung bestanden? Meine bescheidenen schauspielerischen Qualitäten mal eben außen vor lassend..."
Sherlock lächelte schwach und für einen kurzen Augenblick nahm sein Gesicht einen traurigen Ausdruck an. „John, du musst verstehen, dass Victor mir damals wirklich sehr viel bedeutet hat und sein Bruch unserer Beziehung hat ausgesprochen … weh getan", sagte er in einer für ihn ungewohnt stockenden Art.
John unterbrach ihn nicht und blieb regungslos sitzen. Er wollte ihn nicht unnötig ablenken oder den Redefluss womöglich gar stoppen. Er sah es als Vertrauensbeweis in ihn und auch in ihre noch junge Beziehung, dass er versuchte, sich ihm zu öffnen und etwas so persönliches und schmerzhaftes zu erzählen.
„Ich war von den ganzen negativen Gefühlen vollkommen überwältigt und habe mich letztendlich auf einen recht düsteren Pfad begeben wie du weißt. Herzschmerz und Langeweile sind eine überaus gefährliche Kombination. Als Victor an jenem Montagnachmittag vor vier Wochen plötzlich wieder auftauchte, kehrten auch die längst verschollen geglaubten Gefühle zurück, von denen ich mich so sorgfältig distanziert hatte. Einfach so", sagte Sherlock mit einer ausholenden Handbewegung. „Ich wollte die Büchse der Pandora nicht wieder öffnen, aber Victor hat meine Gefühle unwillkürlich wieder wachgerüttelt. Nicht für ihn, aber für dich. Bis zu jenem Nachmittag war ich damit zufrieden wie die Dinge zwischen uns standen. Immerhin wusste ich nicht, was du fühlst, obwohl mir natürlich aufgefallen ist, dass die Grenzen zwischen uns immer undeutlicher wurden. Den ganzen Nachmittag habe ich die Argumente für und wider abgewogen, aber als du nach Hause kamst, wurde mir relativ schnell klar, dass sich die Emotionen nicht einfach wieder verdrängen ließen. Du erinnerst dich vielleicht noch daran, dass wir zusammen im Wohnzimmer gesessen haben."
„Nun ja, mir war tatsächlich aufgefallen, dass du dich etwas … merkwürdig benommen hast", erwiderte John. Das erklärte dann zumindest Sherlocks stundenlanges Anstarren an jenem Abend.
„Man sollte sich seine Niederlage ja bekanntlich eingestehen, sobald man erkennt, dass man verloren hat und so habe ich mich gegen Abend letztendlich dazu durchgerungen, ein Experiment durchzuführen. Ich musste wissen, wie du einer Beziehung gegenüberstehen würdest; wie du reagieren würdest, wenn du gezwungen wärst, es mit mir zu versuchen. Und ich musste mir meiner eigenen Gefühle sicher werden. Es tut mir leid, John, aber ich hätte dich ja schlecht einfach fragen können", erklärte er achselzuckend. „Ich dachte, dass eine Beziehung einfach nicht für mich weggelegt wäre, und ich hatte mit der ganzen Sache abgeschlossen. Ich habe es mit Victor probiert und es ging schief. Bis vor vier Wochen war mir nicht klar, dass ich dich so sah; dass ich dich wollte … ‚uns' wollte. Dieser Fall bot ganz einfach die perfekte Lösung für mein kleines Problem. Es geht nichts über Beweise aus erster Hand. Bedauerlicherweise konnte ich keine eindeutigen Schlussfolgerungen ziehen, obwohl deine Signale hoffnungsvoll waren. Da du ja bekanntlich zu deinem Wort stehst, wusste ich nicht, ob du wirklich etwas für mich empfindest oder ob du dich ganz einfach nur an die Abmachung hieltest. Du weißt, ich stelle keine Theorien auf, bevor ich alle Daten zusammengetragen habe, sonst passt man die Fakten an seine Theorien an und nicht umgekehrt."
John hätte verärgert sein können, und angesichts Sherlocks Experimentierfreudigkeit vielleicht auch sollen, aber auf eine andere Weise wären sie wahrscheinlich nie zusammen gekommen. „Mir war auch nicht klar, dass ich dich so sah… und jetzt kann ich mir nur schwer etwas anderes vorstellen. Du bist ein so bemerkenswerter Schauspieler, dass ich selbst auch völlig verunsichert war, ob deine Zuneigung nun Teil deiner Rolle war oder nicht. Ich bin fast wahnsinnig geworden. Die letzten beiden Tage waren die reinste Hölle, Sherlock", sagte John seufzend. „Ich habe …‚uns' vermisst."
Sie tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus und lächelten einander vertraut an.
„Aber warum nicht einfach eine Beziehung vortäuschen? Warum gleich eine Verlobung?", fuhr John nach einem Augenblick fort.
„Zum Einen, weil du wirklich ein schrecklich schlechter Lügner bist und wenn wir das ganze vorgetäuscht hätten, hättest du dich vielleicht unwillkürlich verplappert, sobald dir eine holde Dame schöne Augen gemacht hätte. Dann hättest du nur wieder gerufen, dass du ja eigentlich gar nicht schwul bist."
„Das ist eines der absurdesten Dinge, die du jemals gesagt hast!", rief John aus.
„Wirklich? Dein Testosteronspiegel ist tatsächlich ab und an hinderlich. Möglicherweise hättest du um der jungen Dame Willen den Ring abgenommen, etwas gesagt oder getan, und uns damit unwillkürlich verraten. Dem musste ich ganz einfach vorbeugen. Darum die Verlobung."
John beschloss es dabei zu belassen, hatte er doch den leisen Verdacht, dass die ganze Angelegenheit durchaus ein Beweis für Sherlocks eigene Eifersucht war. „Du sagtest ‚zum Einen'."
„Möglicherweise war der Ring auf eine, wie ich hervorheben möchte, sehr unbewusste Weise eine Art Rückversicherung, dass du nicht wie Victor bist und dass ich nicht davon ausgehen darf, dass du mich ebenfalls verlässt. Zudem war es für Victor ein sichtbares Zeichen, dass ich selbst über ihn hinweg war. Ich denke nämlich, dass er sich in Bezug auf seinen Abgang aus meinem Leben noch immer etwas schuldig fühlte."
John schüttelte den Kopf. „Also ich muss schon sagen, dass du sehr merkwürdige Gründe hast, um einen Ring auf meinen Finger zu stecken."
Daraufhin schmunzelte Sherlock etwas. „Ich habe dir ja noch gar nicht erzählt, dass mir der Ring auf deinem Finger wirklich ausgesprochen gut gefällt." Offenbar hatte Sherlock etwas von seinem Selbstvertrauen, dass er in den vergangenen Wochen auf Beziehungsebene gezeigt hatte, wiedergefunden.
„Wirklich? Warum? Du hast die Ringe selbst gekauft oder? Du hast dir wirklich eine Menge Mühe mit dieser ganzen Verlobungsgeschichte gegeben."
Sherlock musterte John eingehend, während er die Beine übereinanderschlug und die Finger unter seinem Kinn aneinanderlegte. „Weil der Ring ein offizielles Statement ist: ‚Finger weg von diesem Mann. Eigentum von Sherlock Holmes.' Und ja, ich habe sie selbst gekauft", sagte der Detektiv schließlich.
Seine sezierenden Blicke besorgten John Gänsehaut. In ihnen war mehr zu sehen als die übliche Neugierde oder der bekannte Wissensdrang. Er sah Wärme, Zuneigung und Vertrautheit darin. Doch darüber hinaus war in Sherlocks Augen nun auch unverkennbar Verlangen zu erkennen. Und Hunger. Wie ein Raubtier auf der Jagd, dachte er ganz unwillkürlich. Diese Gedanken führten unweigerlich zu anderen Gedanken, und obwohl er natürlich wusste, dass der Weg sie unweigerlich früher oder später dorthin führen würde, war ihm bei dem Gedanken daran doch auch etwas mulmig. Hierfür würde er Zeit brauchen und sich auch nehmen, um ihrer beider selbst willen, und er wollte sicher gehen, dass auch Sherlock ganz genau wusste, worauf er sich einließ.
John begegnete seinem Blick. „Du hast Recht. Ich bin nicht wie Victor. Ich bin nicht jemand, der einfach so davon läuft, wenn das Leben es einmal nicht gut mit ihm meint. Ich werde dich nicht verlassen. Du weißt aber schon, dass ich dir wehtun werde, oder?", fragte John schließlich. „Sich zu lieben bedeutet nämlich auch, dem anderen die Macht zu geben, dich zu verletzen und darauf zu vertrauen, dass er es nicht tut wird. Aber niemand kann dir versprechen, dass das nicht trotzdem geschieht. Früher oder später werde ich dir unweigerlich wehtun, ebenso wie auch du mich verletzen wirst. Das wirkliche Versprechen besteht darin, dass die Zeit, die man zusammen verbringt, einen für den erlittenen Schmerz entschädigt."
„Dann wird es jede Sekunde Wert sein", entgegnete Sherlock mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme und verdrehte die Augen. „John, ich habe in den vergangenen vier Wochen durchaus über die Konsequenzen meines Experiments nachgedacht. Und nein, ich erwarte nicht, dass der Himmel auf einmal voller Geigen hängt. Du treibst mich auch heute schon oft genug in den Wahnsinn, und du würdest mich auch heute schon oft genug am liebsten zum Mond schießen. Daran wird sich rein gar nichts ändern."
John, dem das Verhalten seines Freundes nicht fremd war und der keineswegs erwartete, dass sich daran etwas änderte, nur weil sie nun ein Paar waren, seufzte. „Daran zweifle ich auch nicht. Lassen wir die Sache einfach langsam angehen, okay?"
„Wie langsam?", fragte Sherlock und John musste im Angesicht der Ungeduld seines Freundes letzten Endes doch unwillkürlich schmunzeln.
„Das langsamste langsam, Sherlock. Mir gefällt, was wir jetzt haben. Ich liebe dich wirklich, aber bitte gib mir etwas Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Also bitte keine Quantensprünge für den Moment."
Sherlock verzog das Gesicht und zuckte mit den Achseln. „Wie du willst…Meinetwegen."
Der Anblick des schmollenden Detektivs brachte John auf eine Idee. Es konnte nicht schaden, seiner Liebeserklärung zur Sicherheit noch Taten folgen zu lassen, damit sein Freund keine verkehrten Schlüsse aus seiner Zurückhaltung ziehen konnte. „Würde es dich stören, wenn ich jetzt ein eigenes Experiment durchführen würde?"
Sherlock blickte ihn neugierig an. „Experiment?"
„Mit dir zusammen", fügte John hinzu.
„Mit mir?"
John nickte. „Ja, das ist unbedingt erforderlich."
„Wenn du das für zwingend notwendig hältst..."
„Unbedingt. Würdest du dazu bitte das Licht für mich ausmachen?"
Sherlock runzelte die Stirn. „Wenn du darauf bestehst…", antwortete er schließlich, stand auf und ging zum Lichtschalter hinüber.
„Sehr gut", sagte John als das Zimmer in Dunkelheit gehüllt war. „Und nun setze dich bitte wieder hin."
Als Sherlock sich wieder niedergelassen hatte, stemmte John sich aus seinem Sessel und stellte sich vor Sherlock hin. Dann stützte er seine Hände auf den Armlehnen des Sessels ab und beugte sich langsam zu ihm hinunter. Mit jedem Zentimeter, den John ihm näher kam, schlug sein Herz ein wenig schneller. Die Dunkelheit fügte der Situation eine ganz neue Dimension hinzu. Und obwohl er wusste, dass Sherlock im Dunkeln außergewöhnlich gut sehen konnte, so wusste er doch, dass der Detektiv sich nicht auf seinen Sehsinn allein verlassen konnte. Er würde unwillkürlich gezwungen sein, zu fühlen, und sich dem Moment hinzugeben …
Er hielt einen Augenblick inne und leckte seine Lippen in Erwartung des Kusses. Er hörte wie Sherlock den Atem anhielt. Dann endlich presste er seine Lippen sanft auf die seines Freundes. Langsam wanderten seine Lippen Sherlocks Kinn entlang über seine Wange hinauf zu seinem Ohr und wieder zurück. Sherlock entspannte sich spürbar und als John wieder bei seinen Lippen angelangt war, spürte er wie Sherlock in den Kuss lächelte.
„Und wie geht dein Experiment voran?", fragte Sherlock ihn spitzbübisch, als John sich widerwillig von ihm löste.
„Ganz gut, denke ich."
„Gefällt es dir?"
„Warum deduzierst du mich nicht einfach?", flüsterte John herausfordernd.
„Dich oder das Experiment?", neckte Sherlock ihn.
„Mich", raunte John ihm zu.
„Du atmest schwer. Dein Puls ist beschleunigt. Du befindest dich eindeutig in einem Erregungszustand. Ich kann dich zwar nicht sehen, aber ich denke, dass deine Pupillen geweitet sind und deine Haut sich mittlerweile wohl pink verfärbt hat."
„Vielen Dank auch, dass du das so ausführlich beschreibst", stöhnte John mit gespielter Entrüstung.
„Ich finde es … attraktiv, wenn du rot wirst, John. Mir gefällt der Gedanke, dass du meinem Charme erliegst."
„Du bekommst also einen Kick von dem Gedanken, dass ich deinen Reizen unterliege", flüsterte John. „Interessant."
„Nein", entgegnete Sherlock mit tiefer Stimme. „Eigentlich bekomme ich den Kick von dir."
John musste angesichts seiner Offenheit unwillkürlich schmunzeln. Er lernte schnell, was das Flirten betraf. „Dir gefällt es also auch."
„Hmm, ich weiß nicht so recht", antwortete Sherlock mit gespielter Unsicherheit. „Mir liegen noch nicht alle Daten vor."
„Vielleicht könnte ich dir dabei behilflich sein, den Nachweis zu erbringen?", bot John grinsend an.
„Das wäre wohl angemessen."
Der Kuss, der folgte, hatte nichts mit dem Kuss gemein, den sie noch Minuten zuvor ausgetauscht hatten. Sherlock, der den Kuss intensivierte, zog John weiter zu sich hinunter, so dass dieser gezwungen war, die Armlehnen los zu lassen und sich letztendlich mit seinen Händen auf Sherlocks Schultern abstützen, um nicht zu fallen. Ihre Lippen teilten sich und ihre Zungen machten da weiter, wo sie in Aldershot aufgehört hatten. Schließlich gab auch John sich dem Augenblick hin und setzte sich instinktiv auf Sherlocks Schoß, woraufhin der Detektiv ihn noch dichter an sich heranzog und seine Hüfte umfasste. Johns Finger hatten sich in Sherlocks Hemdkragen gekrallt, während sie einander erforschten und liebkosten. Erneut vertiefte sich der Kuss und wurde immer verlangender. John wusste, dass er jetzt gleich etwas unternehmen musste oder all seine guten Vorsätze würden gleich in diesem Moment den Bach runtergehen… Mühsam löste er sich von Sherlock.
Anlässlich Johns Rückzug gab Sherlock einen kurzen Protestlaut von sich.
„Nun, wie gefällt es dir?", fragte John nach Atem ringend.
„Warum wendest du nicht meine Methoden an?"
„Du atmest schwer. Dein Puls ist beschleunigt. Du befindest dich eindeutig in einem Erregungszustand. Ich kann dich zwar nicht sehen, aber ich denke, dass deine Pupillen geweitet sind, aber im Gegensatz zu mir, wirst du wohl nicht rot geworden sein."
„Exzellent, John", entgegnete Sherlock und stahl sich einen weiteren, hingebungsvollen Kuss.
John stöhnte auf und drückte den Detektiv vorsichtig mit einer Hand von sich. „Langsam, weißt du noch?", brachte er mühsam hervor.
„Selektives Gedächtnis," brummte Sherlock.
John lachte leise auf. „Komm schon, Casanova. Ein Schritt nach dem anderen. Was hältst du von einem nächtlichen Imbiss?"
„Ich bin am Verhungern!", erwiderte Sherlock grinsend, wobei John sich nicht des Eindrucks erwehren konnte, dass sein Freund dabei wohl vermutlich eher ans Dessert als an den Hauptgang dachte.
Nachdem Essen machten sie es sich beide auf dem Sofa bequem und genossen die neue Zweisamkeit. Sherlock, der mit seinem Kopf in Johns Schoß lag und dabei sorgfältig darauf achtete, das verletzte Bein nicht zu belasten, hatte in den vergangenen Tagen offensichtlich an einem Artikel zu seinem Experiment mit den Fußnägeln gearbeitet, den er in einem Fachblatt veröffentlichen wollte, und las diesen nun Korrektur. John hatte wohlweislich nicht nach den Einzelheiten gefragt und war dem Detektiv schlichtweg dankbar gewesen, dass er das Experiment in den vergangenen Nächten in St. Barts Labor fortgesetzt hatte und nicht auf ihrem Küchentisch.
John ging nicht davon aus, dass sich sehr viel ändern würde nur weil sie nun offiziell ein Paar waren. Sherlock war kein Romantiker und er erwartete nicht, dass sie nun ständig Händchenhaltend durch Londons Straßen spazieren würden, nur weil sie das unter dem Deckmantel des Falles mehrere Male praktiziert hatten. Sie mussten niemandem mehr etwas vormachen, und schon gar nicht sich selbst. Dennoch war er froh darüber, dass Sherlock, der für gewöhnlich schätzte, wenn seine persönliche Distanzzone gewahrt wurde, dem Kuscheln nicht prinzipiell abgeneigt zu sein schien wie er gerade bewies. Während er gedankenverloren mit den dunklen Locken seines Freundes spielte, betrachte er andächtig den Ring an seinem Finger.
„Warum nimmst du ihn nicht ab und siehst nach, wenn es dich so interessiert?", fragte Sherlock.
John blickte ihn überrascht an. „Woher…", begann er, doch besann sich dann eines Besseren. Stattdessen nahm er den Ring vorsichtig von seinem Finger und hielt ihn so vor seine Augen, dass er die Inschrift lesen konnte.
In Anbetracht dessen, was er las, blickte John Sherlock fragend an. „Ich dachte, du nimmst das nicht so wichtig?"
„Ganz im Gegenteil. Es ist schon länger eines meiner Axiome", erwiderte Sherlock augenzwinkernd.
Unwillkürlich musste John lächeln, denn die Inschrift zeigte ihm nur wie gern der Detektiv ihn hatte und wie wichtig ihr gemeinsames Leben und die kleinen Dinge, die sie miteinander teilten, für ihn waren.
Die kleinen Dinge sind bei Weitem die Wichtigsten.