Kapitel 5: Das letzte Gefecht
Ich bin wirklich erfreut, dich wiederzusehen, Adam! schrie die unmenschliche Stimme von Gottes Nemesis aus Natsukis Mund. Ihr Gesicht war zu einer grauenvollen Grimasse von Hass und Befriedigung verzogen, als sie Chiaki ihre Faust in den Magen rammte. Der Mann stöhnte auf und hielt sich den Bauch, während das so zart aussehende Mädchen ihn am Mantel gepackt hielt und mühelos hochhob. Wirklich sehr zuvorkommend... Ohrfeige ...dass du freiwillig zu mir kamst, ohne dass... ein weiterer Schlag in die Magengegend... ich dich suchen musste! Jetzt wirst du dafür büßen, dass du mir Eva weggenommen hast!
„Hör auf, Natsuki!", schrie Shinji mit Tränen in den Augen. Ihm wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, dass sie diese Kraft hatten aufhalten wollen. Er wollte seinem Freund zwar zu Hilfe eilen, aber er brachte es nicht einmal fertig, einen Schritt zu tun. „Bitte lass ihn los!"
Es sah fast so aus, als hätte sie ihn nicht gehört, trotzdem hielt ihre Faust mitten im Schwung inne und sie drehte den Kopf zu ihm um. Ihn fröstelte bei diesem Blick. Das Schlimmste war, dass sie sich äußerlich absolut nicht verändert hatte. Sie war nach wie vor das Mädchen, in das er sich verliebt hatte... wenn nur dieser flammende Blick nicht wäre, der seine Seele zu verbrennen schien.
Du wagst es, mich anzusprechen? rief die Stimme und die Macht darin allein warf Shinji zurück. Noyn, der ebenfalls neben ihm gestanden hatte, schaffte es auf den Beinen zu bleiben, allerdings machte er keinen Fluchtversuch. In seinem bleichen Gesicht spiegelte sich die nackte Panik. Nach allem, was du diesem Körper angetan hast? Ich sollte euch drei auf der Stelle lebendig begraben! Aber vielleicht hast du ja Recht, ich sollte die Rache auskosten... Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem grotesken Grinsen, sodass ihr Gesicht beinahe wie eine Dämonenfratze aussah.
„Natsuki, bitte hör mir zu", versuchte Shinji es noch einmal, wobei seine Stimme allerdings etwas zitterte. „Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber du irrst dich. Ich würde nie..."
SCHWEIG!
Shinji presste sich auf den Boden und hielt sich die Ohren zu, aber dennoch dröhnte sein Schädel. Herr im Himmel, allein die Stimme dieses Wesens war mächtig genug, um ihn fast besinnungslos zu machen! Aber er musste Natsuki retten. Er musste es versuchen.
Natsuki weiß genau, was ihr angetan worden ist, sprach Gottes Nemesis weiter, diesmal ruhiger. Allerdings nicht freundlicher. Als sie mich rief, kam ich, um für sie Rache an allen zu nehmen, die ihr weg getan haben.
„Du... lügst", erklang plötzlich Sindbads raue Stimme. Der Dieb hatte den Kopf gehoben und funkelte den Körper seiner Tochter an. Aus seinem Mund lief Blut heraus. „Du hilfst Natsuki nicht... du benutzt sie! Und wenn du... dein Ziel erreicht hast, dann... wird sie sterben, genau wie wir."
SEI STILL!
Wieder musste sich Shinji auf den Boden pressen, doch dieses Mal hielt er seinen Kopf so, dass er Sindbad und Natsuki sehen konnte. Das Mädchen, welches Gottes Schmerz vereinnahmt hatte, hatte beide Arme an den Hals seines Freundes gelegt und drückte zu. Chiaki keuchte bereits schwer! Hastig sah Shinji nach Noyn, aber der Dämonenritter war auf ein Knie gefallen und starrte die Szene vor ihm noch immer wie paralysiert an. Von ihm war wohl keine Hilfe zu erwarten.
„Noyn!", rief er trotz alldem, während er mühsam aufstand. „Wir müssen Sindbad helfen! Ohne uns stirbt er!"
„Das passiert auch so", murmelte Noyn emotionslos. „Wir können ihm nicht mehr helfen. Es ist vorbei. Das Ende der Welt ist gekommen."
„Feigling!", brüllte Shinji und rannte los. „Dann mache ich es selbst! Hau doch ab!"
„Junger Narr", flüsterte Noyn für sich selbst und sah dem Jungen nach, wie er in sein Verderben rannte. „Warum sollte ich fliehen? Es gibt keinen Ort, an dem ich sicher wäre." Dennoch erinnerte ihn der Junge bei seinen verzweifelten Bemühungen an sich selbst, als er Jeanne hatte retten wollen...
Shinji brauchte nur wenige Sekunden, um Natsuki und Chiaki zu erreichen, aber für den Dieb waren es wohl die längsten Sekunden seines Lebens. Er kämpfte bereits um sein Bewusstsein und sein Gesicht lief bereits weiß an, während ihn seine Tochter dabei beobachtete. Shinji zögerte keine Sekunde, sondern warf sich auf den Arm seiner Geliebten.
„Hör auf!", bat er sie nochmals. „Bitte lass ihn. Ich kann dir alles erkl..."
Weiter kam er nicht, denn Natsuki hob den Arm, bis er keinen Boden mehr unter den Füßen hatte und starrte ihn mit einem Blick an, der Eisbären hätte frösteln lassen. Der einzige Vorteil war, dass sie Sindbad dadurch nicht mehr würgen konnte, aber der Dieb war anscheinend ohnehin ohnmächtig geworden. Er hing schlaff im Griff Natsukis.
Ich will deine Erklärung nicht! verkündete das Wesen, zu dem seine Geliebte geworden war. Ich will gar nichts hören! Ich will nur, dass dieser Schmerz endlich verschwindet!
Damit schleuderte sie Shinji in hohem Bogen vor sich weg. Der Junge überschlug sich in der Luft, keuchte erschrocken auf und prallte hart auf dem Boden auf. Sämtliche Luft wurde ihm aus der Lunge gepresst und einige Sekunden lang vermochte er nichts anderes zu tun, als mühevoll Luft zu holen. Dann sah er ängstlich auf. Vor ihm stand Natsuki, ohne Chiaki, den sie an der Stelle, von wo sie ihn weggeschleudert hatte, fallen gelassen hatte. Abgrundtiefe Verachtung ging von ihr aus. Warum hasste sie ihn nur so?
Jetzt, Mensch, sagte die Stimme von Gottes Nemesis kalt, wirst du sterben. Als erster von sehr vielen.
Damit hob sie den Arm. Shinji konnte nichts dagegen tun, war unfähig, auch nur den Blick abzuwenden. Was hat ihr Gottes Schmerz erzählt?, schoss ihm durch den Kopf. Wie konnte sie sich so sehr verändern? Er fühlte nichts, als in der Handfläche vor ihm eine Kugel aus Energie entstand. Es war ihm egal. Er hätte nur noch gern gewusst, was er ihr angetan hatte. Die Kugel wurde größer.
Dann, als er schon glaubte, der Energieball würde ihn im nächsten Augenblick töten, zischte etwas durch die Luft und traf Natsukis Hand. Sie fluchte, während sie zur Seite stolperte, aber die tödliche Energiekugel verfehlte Shinji und flog weit in den Wald hinein. Eine Sekunde später hörte man ein Splittern, das vermuten ließ, dass die Kugel einen Baum gefällt hatte. Natsukis Kopf fuhr zu Noyn herum, dessen Majufu sie getroffen hatte.
DU WAGST ES? Die Stimme schien durch den gesamten Wald zu hallen und Shinji fragte sich stöhnend, ob der Tod nicht gnädiger gewesen wäre. Erst verrätst du mich, deinen Herrn, indem du diese Würmer hierher bringst und dann greifst du mich auch noch an?
Noyn zitterte, aber er wankte nicht. Seiner Stimme fehlte die Entschlossenheit, aber dennoch blieb er, wo er war, als er antwortete: „Mädchen, bitte erinnere dich. Das Wesen, das dich beherrscht, hat dich entführen lassen und hat dich dazu gebracht, deinen eigenen Vater beinahe umzubringen! Aber du kannst dich dagegen wehren! Du hast die Kraft dazu, schon seit deiner Geburt! Setze die Kraft Gottes ein!"
Natsuki lachte, aber es war das Lachen von Gottes Nemesis. Du Narr, sagte sie geringschätzig. Das Mädchen wird nicht auf dich hören. Sie bekommt die Rache, die sie will und ich bekomme die Erlösung von meinen Schmerzen. Wir profitieren beide. Aber du tatest gut daran, mich davon abzuhalten, die beiden zu töten. Sie hob die Hand Richtung Dämonenritter und ein weiterer Energieball bildete sich darin, diesmal größer. Schließlich weiß man nie, ob man sie später noch brauchen kann. Aber in der Zwischenzeit kann ich mich an dir abreagieren...
Mit diesen Worten grinste sie den schockierten Dämonenritter an und ließ den Energieball fliegen. Noyn stand völlig paralysiert da und starrte das tödliche Geschoss, welches auf ihn zuhielt, nur an. Das ist es also, dachte er betäubt. So sterbe ich, ohne Jeanne noch einmal wiederzusehen. Doch in dem Moment, bevor ihn die Kugel erreichte, warf sich etwas vor ihn und fing den Todesstoß ab. Geblendet schloss er die Augen, als der Körper des Etwas gegen ihn prallte. Und als er ihn wieder sehen konnte, schrie er auf.
„Silk!"
„Noyn-sama", flüsterte der kleine Drache leise. Seine Schuppen waren beinahe überall geborsten und Blut floss heraus. Dennoch lebte das kleine Geschöpf noch, wenn auch nur noch so eben. „Ihr müsst... von hier weg."
„Zu spät."
Noyn war nicht schnell genug, um den Kopf heben zu können, bevor der zweite Energieball ihn erreichte.
„Dieses Gestrüpp soll der Garten Eden sein?", fragte Jeanne zweifelnd, während sie von ihrem Schimmel abstieg. Das Tier erhob sich sofort wieder in die Luft, als ob es das Böse an diesem Ort nicht ertragen könne und verschwand, ebenso wie seine vier Artgenossen.
„Er ist es", bestätigte Seijuro und zog sein Schwert. Seine Lippen waren zusammengepresst und seine Muskeln angespannt. Er rechnete jeden Moment mit einem Angriff. „Aber wo ist unser Feind?"
Zen sah sich ruhig um. Im Gegensatz zu Seijuro schien er die Ruhe vorweg zu haben. „Vermutlich konnten uns die Pferde nicht direkt zu ihm bringen, weil seine Macht hier zu stark ist", vermutete er mit Grabesstimme. Seine blicklosen Augen suchten die Gegend nach einem Pfad ab. „Wir werden ihn suchen müssen."
„Dann lasst uns gehen", meinte Yumemi und schloss einen Moment lang die Augen. Nachdenklich hob sie ihre Waage und hielt sie vor sich. Nach einer Sekunde pendelte eins der Gewichte nach links. „Dorthin müssen wir", verkündete sie.
„Woher weißt du das?", fragte Jeanne verwundert und zog nun ebenfalls ihr Gymnastikband.
„Ich kann fühlen, wo sich Menschen aufhalten", erklärte das Mädchen. „Ich kann ihre Körperfunktionen spüren, dank meiner Gabe. Gehen wir."
„Schön." Seijuro hob sein Schwert und schlug damit auf die Sträucher in dieser Richtung ein. „Dann wollen... wir mal... keine Zeit verlieren."
Eine Weile lang sah Zen ihm zu, dann schüttelte er kurz den Kopf und stellte sich neben den Jungen. Langsam hob er die Sense, die scharf genug schien, um Felsen zu durchschneiden und einen Hieb später lagen einige weitere Äste am Boden. „Sei nicht so unbeherrscht", teilte er dem Jungen mit, während er weiterhin im Takt mähte. „Mit Ruhe erreichst du auf Dauer mehr, glaub mir."
„Krieg ist nichts Ruhiges!", widersprach der Rothaarige und man musste ihm immerhin zugestehen, dass er auf seine heißblütige Art ebenso schnell vorwärts kam wie der systematisch arbeitende Engel. „Das ist dein Spezialgebiet, Tod!"
„Wir sollten ihnen folgen", bestimmte Jeanne und blickte Yumemi an, die dem Wüten der beiden Jungen teilnahmslos zusah. „Stimmt die Richtung wirklich?"
„Ich vermute es", sagte Hunger. „In dieser Richtung befinden sich sehr viele Menschen. Die Wahrscheinlichkeit, das Natsuki dort ist, ist groß."
Jeanne seufzte. „Etwas mehr Gewissheit wäre mir lieber", gab sie zu. „Aber wenn die beiden weiterhin so schnell das Gelände säubern, merken wir das ohnehin bald." Sie warf einen Blick auf Krieg und Tod, die sich bereits einige Meter weit vorgekämpft hatten und ging los. „Ich hoffe, wir kommen noch rechtzeitig."
„Das tun wir alle, Sieger."
„Bitte nenn mich nicht so!", verlangte Jeanne und wandte den Blick ab, um eine einzelne Träne zu verbergen. „Das erinnert mich nur daran, dass ich gegen mein eigenes Kind kämpfen muss."
„Gefühle, Sieger?" Yumemi zog die Augenbrauen hoch und blickte Jeanne forschend an. „Sie werden dich im Kampf behindern. „Hunger, Tod und Krieg kennen sie nicht, nur ihr Ziel. Wieso hat der Sieger Gefühle?"
Einen Moment lang dachte Jeanne nach. Weil sie auch früher welche gehabt hatte? Nein, das war keine Antwort. Dann antwortete sie zögernd: „Vielleicht, weil... der Sieger entscheiden muss, was mit seinem Gegner nach dem Kampf geschieht."
„Da gibt es keine Wahl", entgegnete Yumemi. „Gottes Nemesis muss sterben, sonst wird er wieder und wieder versuchen, die Menschen zu vernichten!"
„Wir reden hier von meinem Kind, das ich töten soll!", rief Jeanne laut und funkelte das kleinere Mädchen an. Hunger blieb unbeeindruckt. „Ich bin der Sieger! Ich werde entscheiden!"
„Ich hoffe, dass deine Entscheidung weise sein wird", bemerkte Yumemi leise.
„Wir sind durch!", verkündete Zens emotionslose Stimme. Er schien nicht einmal außer Atem zu sein, als er einige Blätter von der Klinge seiner Sense strich. „Hier wurde vor kurzem eine große Lichtung geschaffen. Krieg ist bereits dort."
„Dann folgen wir ihm."
Die drei traten auf die Lichtung hinaus. Jeanne riss erstaunt die Augen auf. Sie hatte ja gewusst, dass viele Menschen entführt worden waren, aber das... sie konnte die Menge Menschen, die sich hier auf der Lichtung befanden, nicht einmal schätzen! Und die Leute hatten unverkennbar Angst. Kein Wunder, denn einige Schwarzgekleidete, die Noyn unangenehm ähnlich waren, bewachten sie. Dämonenritter. Und alle Köpfe wandten sich ihnen zu.
„Ah, wie schön", verkündete eine spöttische Frauenstimme plötzlich. Eine rothaarige Frau, fast noch ein Mädchen, in schwarze Jeans und eine Lederjacke gekleidet, hatte sich umgedreht und grinste die apokalyptischen Reiter an. „Kommt ihr uns endlich besuchen. Unser Herr wird hocherfreut sein."
„Was habt ihr mit all diesen Menschen vor?", verlangte Jeanne zu wissen. „Ihre Stimme war bei weitem nicht so fest, wie sie es sich wünschte.
„Oh, jetzt eigentlich nichts mehr." Die Dämonenhexe zuckte mit den Schultern. „Ihr Lebenszweck war es, euch hierher zu bringen. Jetzt haben sie ihn erfüllt." Sie hob die Hand und simultan taten es die verbleibenden Dämonenritter ihr nach. „Was sollte uns also hindern, sie auf der Stelle zu töten?" Viele der Menschen schrieen angsterfüllt auf und die Masse rückte näher zusammen.
Es war Seijuro, der sein Schwert hob. Es schien mit einem inneren Feuer zu brennen. „Töte einen", verkündete er mit einer Kälte in der Stimme, die selbst Tod aufhorchen ließ, „und du wirst dir wünschen, uns nie zu Gesicht bekommen zu haben."
„Tatsächlich?", fragte die Akiko grinsend nach und schnippte mit den Fingern. Die Menge teilte sich und ein stämmiger Dämonenritter führte zwei Menschen heraus, einen Mann und eine Frau. „Vielleicht stimmt dich das ja etwas nachdenklicher, junger Held."
Yumemi erkannte die beiden als erste. Obwohl sie sagte, keine Gefühle mehr zu haben, schien doch noch einiges von Yumemi in ihr zu sein, denn sie zuckte zusammen. „Mutter!"
„Vater!", erkannte auch Seijuro die beiden Menschen und knirschte mit den Zähnen. Seine Augen schienen zu glühen.
Auch die beiden hatten ihre Kinder offensichtlich erkannt, denn Kagura winkte hektisch mit einem Arm, bis ihm der Dämonenritter in den Rücken stieß. „Seijuro! Yumemi!", schrie er. „Lauft! Flieht, so schnell ihr könnt!"
„Uns geschieht schon nichts!", rief nun auch Yashiro, obwohl man sehen konnte, dass ihre Angst ihr schwer zu schaffen machte. „Lauft weg!"
„Sind sie nicht süß?", fragte die Dämonenhexe unschuldig, als die beiden neben ihr niedergestoßen wurden. Sie riss die Köpfe der beiden hoch. „Was ist? Wollt ihr sie nicht retten? Sie und die anderen Menschen?"
Seijuro war drauf und dran, sie anzufallen und auch Yumemis Maske aus Gleichgültigkeit war ins Wanken geraten. Dennoch zögerten sie. Jeanne sah die beiden an und seufzte.
„Lass die Menschen frei", verlangte sie. „Ihr könnt gegen uns vier nicht gewinnen, das weißt du. Wenn ihr sie gehen lasst, verschonen wir euch."
„Das wird nichts nützen, Sieger", warf Zen ein und ließ seine Sense in der Sonne blitzen. „Wenn wir gegen Gottes Nemesis gewinnen, werden sie ohnehin sterben. Außerdem wissen sie genau, dass wir unseren Feind so schnell wie möglich stellen müssen, wenn Sindbad und die anderen nicht sterben sollen."
„Dein bleicher Freund hat Recht, Jeanne!", rief die Dämonenhexe triumphierend. „Also, wofür entscheidet ihr euch? Opfert ihr diese Menschen oder eure Freunde?" Sie ließ Kaguras und Yashiros Kopf los, die daraufhin zu Boden fielen und machte mit ihrer Hand das „Komm-nur-her"-Zeichen. Seijuro knurrte.
„Sieger, wir müssen weiter", drängte Tod. Obwohl seine Stimme frei von Emotionen war, schien er besorgt zu sein, sie könnten Gottes Nemesis nicht mehr rechtzeitig erreichen.
„Aber wir können diese Menschen nicht im Stich lassen", warf Yumemi ein. „Gott würde uns das nie verzeihen!"
Jeanne griff sich an den Kopf. Sie hatte gehofft, nie mehr wieder vor eine solche Wahl gestellt zu werden. Das letzte Mal war das der Fall gewesen, als sie Zen zum ersten Mal getroffen hatte. Warum verlangte man nur immer von ihr, zwischen Menschleben abzuwägen?
„Tod, Sieger", wandte sich auf einmal Seijuro an sie. Seine Augen waren starr auf die Dämonenhexe gerichtet und brannten vor Hass. „Geht. Haltet Gottes Schmerz auf. Hunger und ich werden diese Menschen befreien und dann zu euch stoßen."
„Schafft ihr das allein?", fragte Jeanne zweifelnd, aber leise Hoffnung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Ihr gegen ein Dutzend Dämonenritter?"
„Nicht wir", korrigierte Seijuro. „Nur ich. Hunger wird inzwischen ein Portal zur Erde öffnen und die Menschen zurückschicken. Dank ihren Kräften, Menschen zu erspüren, wird sie die Erde einfach finden, oder?"
Hunger nickte zögernd. „Aber ist es nicht gefährlich, allein gegen so viele?", erkundigte sie sich. Jeanne lächelte. Kein Zweifel. Trotz des Geistes, der sie beherrschte, blieb dieses Mädchen Yumemi, und sie sorgte sich um ihren Bruder.
„Schon, aber dieser Gefahr werden sie sich stellen müssen", antwortete er trocken. Jeanne hoffte, dass das kein Witz sein sollte. „Ich habe keine Lust zu warten, bis sie Verstärkung herbeigeholt haben, damit der Kampf fair wird."
„Komm, Sieger, er hat Recht", meinte Tod und fasste Jeanne an die Schulter. „Sie haben wie wir die Kräfte Gottes. Wir müssen gehen."
„Na gut", gab sie nach. „Aber versprecht mir, dass ihr uns nachkommt, ihr beiden", rief sie Hunger und Krieg zu. „Wehe, wenn ich euch nachher aus der Patsche helfen muss!" Sie hoffte, dass ihr lockerer Ton ihre Angst überspielte, aber die beiden waren bereits auf ihre Gegner konzentriert.
Als Jeanne und Zen auf die Bäume sprangen, um ihren Weg schneller fortsetzen zu können, ließen die Dämonenritter von den Leute ab und stellten sich hinter Akiko. Seijuro stellte sich ihnen entgegen. Er wies nicht die Spur von Unsicherheit auf, während sich seine Muskeln spannten.
„Geh", wies er seine Schwester an. „Wenn sie mich angreifen, schaff die Leute weg. Sollten noch welche von diesen Teufeln übrig sein, wenn du fertig bist, hilf mir." Yumemi nickte und trat zur Seite. Ihr Blick war undeutbar, aber Seijuro glaubte auch Bewunderung darin zu entdecken. Er lächelte seine Gegner böse an. „Na dann – kommt her!"
„Das ist doch blanker Irrsinn!", rief Miyako. Seit dieser Erzengel, wie hieß er noch mal... Rill, Gottes Fenster zum Garten Eden wieder geöffnet hatte, hatten Yamato und sie Marron und den anderen zugesehen. „Einer gegen ein Dutzend! Wie soll er das schaffen? Wieso hat Marron ihn alleingelassen?"
„Unterschätze ihn nicht", erwiderte Rill ruhig. Es kostete ihn große Anstrengung, das Fenster offen zu halten. Seine Kräfte waren groß, aber mit denen Gottes nicht zu vergleichen. Lange würden sie nicht mehr zusehen können. „Krieg war leider immer eine äußerst mächtige Kraft, die unglaubliche Kräfte im Menschen freisetzen kann. Dämonenritter sind zwar ebenfalls stark, aber er hat eine Chance."
„Aber wieso hilft ihm das Mädchen nicht?", drängte Yamato. Auch seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. „Und warum sind Marron und Zen einfach abgehauen?"
„Warum Yumemi ihm nicht hilft, weiß ich auch nicht, Yamato Minazuki." Rill machte eine kurze Pause, um wieder Kraft dem Fenster zuzuleiten. „Aber ich glaube, Jeanne und Zen sind gegangen, um Gottes Nemesis aufzuhalten. Schließlich versucht er gerade, Sindbad und die anderen zu töten."
„Aber können sie Gottes... Nemesis denn zu zweit aufhalten?", wollte Miyako wissen. „Wenn es wirklich ein Teil Gottes ist, wie du sagst, müsste es doch unglaublich mächtig sein!"
„So ist es!", bestätigte Rill, während er sich setzte, um weniger Energie zu verbrauchen. „Aber was hättet ihr getan? Schließlich sind sie Menschen. Sie können keinen im Stich lassen, nicht Sindbad, Noyn und Shinji und auch nicht die Menschen auf der Lichtung. Haben sie falsch entschieden?"
Befriedigt registrierte er, dass die beiden nicht widersprachen. Einige Sekunden lang lauschte er den Geräuschen des Fensters. Es schien, als habe Hunger inzwischen ein Portal zur Erde geöffnet, durch das sie die verängstigten Menschen scheuchte. Einige weigerten sich zwar vor lauter Angst, irgendwohin zu gehen, aber das Mädchen deutete lediglich auf den Kampf hinter ihr und auch diese Menschen schlossen sich dem Zug an. Ihre Eltern standen noch an ihrer Seite und blickten Yumemi vollkommen überwältigt, aber auch furchtsam an. Nun, das war verständlich. Er sah, wie die beiden zusammenzuckten, als sich ihre Tochter zu ihnen umdrehte und sie mit ihren fahlen Augen ansah. Sie wechselte einige Worte mit ihnen und schickte sie ebenfalls durch das Portal. Vermutlich wollte sie ihnen später alles erklären. Zögernd verschwanden schließlich auch diese beiden und das Mädchen wirkte ziemlich erleichtert. Er bewunderte diese Idee. Wenn die Menschen erst in Sicherheit waren, dann konnte Krieg sein wahres Wesen einsetzten... und dann würde es für seine Gegner eng werden.
Der Junge hielt sich indessen auch recht wacker, obwohl er es mit einer ansonsten unfairen Übermacht zu tun hatte. Er sprang wild in der Gegend umher, teilte mit seinem Breitschwert scheinbar unmöglich flinke Schläge aus und griff sogar manchmal einen der Dämonenritter an. Trotzdem konnte er momentan nicht gewinnen. Er hatte einigen seiner Gegner zwar schon leichte Wunden zugefügt, aber er wurde immer wieder von Gegnermassen bedrängt, ohne sich mit einem wirklich beschäftigen zu können. Auch er wurde manchmal getroffen, obwohl ihn die Schläge und Hiebe seiner Gegner bei weitem nicht so beeinträchtigten wie normale Menschen. Dennoch, solange noch Menschen da waren, konnte er sein volles Potenzial nicht entfalten.
„Äh... Rill-sama?" Der Erzengel neigte den Kopf, um anzudeuten, dass er lauschte. „Was passiert eigentlich, wenn... einer von ihnen getötet wird, bevor sie Gottes Nemesis besiegen können?", fragte Yamato kleinlaut. „Ich meine, ja, zu viert haben sie Gottes Kraft, aber sie haben sie ja jetzt aufgeteilt, nicht?"
„Sei nicht so pessimistisch, Yamato", schimpfte ihn seine Frau. „Warum sollte ihnen etwas passieren?"
„Die Frage war durchaus vernünftig, Miyako Minazuki", korrigierte sie Rill ernst. Er hob seine Augen wieder zum Fenster. „Zu viert sind die Reiter unbesiegbar, selbst Gottes Nemesis dürfte gegen sie nicht bestehen können... aber wenn einer von ihnen fehlt, ist ihre Macht vermutlich zu gering, um siegen zu können."
Er beachtete die ängstlichen nächsten Fragen der beiden nicht mehr. Ja, die Situation war ernst. Sollte einem der Reiter tatsächlich etwas zustoßen, sei es nun Krieg in seinem Kampf oder Tod und Sieger gegen ihren wahren Gegner, dann war alles verloren. Er hoffte, dass dies alles ein gutes Ende nahm. Aber er war sich nicht sicher.
Als das blendende Licht verschwand, merkte Noyn nicht einmal, wie er auf dem Boden aufschlug. Fast sein ganzer Körper war taub, und vielleicht war das auch gut so, denn die Teile, die es nicht waren, schmerzten im wahrsten Sinne des Wortes höllisch. Er konnte ein Auge nicht öffnen, weil er am Kopf blutete. Konnte sich nicht mehr rühren. Nur noch ein einigermaßen verschwommenes Bild wahrnehmen. Wäre der Dämon in ihm nicht, wäre er schon tot, obwohl das vielleicht besser wäre.
„Noyn-sama?"
Silks Stimme klang jetzt noch schwächer, sie übertönte kaum noch die Dschungelgeräusche. Komisch, vorher hatte er den Wind, der durch das Gras strich, das Knacken von Holz und das Summen der allgegenwärtigen Insekten gar nicht wahrgenommen. Jetzt, da der Augenblick seines endgültigen Todes nahte, hörte Noyn sie überdeutlich. Er lächelte knapp.
„Ich... lebe noch", brachte er hervor, bevor er husten musste.
„Und ich... ebenfalls", erwiderte Silk. „Obwohl ich auch diesmal... das meiste der Energie abgefangen habe. Dabei müsste ich... längst tot sein."
„Keine Sorge", murmelte Noyn und grinste ohne Humor. „Du kannst... nicht sterben, bevor ich... nicht tot bin. Schließlich bist... du mein Schoßtier, weißt du... nicht mehr?"
Noyn sah, wie sich etwas am Rande seines Blickfeldes bewegte. Kurz darauf erschien Silk direkt vor seinem Gesicht. Der kleine Drache konnte nicht mehr fliegen, sondern hatte sich mit seinen kräftigen Krallen herangeschleppt. Der Blick der Drachenaugen war von Schmerz getrübt, dennoch leuchtete Hoffnung darin.
„Dann darf ich... mit euch sterben, Noyn-sama?"
„Ja." Nachdenklich musterte Noyn den Drachen. Er besaß ihn schon lange. Schon so lange, dass seine Gegenwart beinahe selbstverständlich geworden war. Er wusste, dass Silk ihn verehrte. Aber ging das tatsächlich so weit, dass er glücklich war, mit seinem Meister sterben zu dürfen? Fast fragte Noyn sich, womit er so viel Verehrung verdiente.
Dann darfst du jetzt glücklich sein, Drache, verkündete Gottes Nemesis. Natsuki war an sie herangetreten. Ihr ganzer Körper strahlte Macht aus, auch wenn ihre Haare und Klamotten durcheinander waren. Denn dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Und damit hob sie ein weiteres Mal die Hand. Dieses Mal würde keiner mehr Noyn retten können.
„Tu's nicht, Natsuki!", rief Shinjis Stimme, aber der Junge war weit entfernt, so viel konnte der Dämonenritter noch ausmachen, aber das Mädchen ignorierte ihn einfach. Sie starrte den Mann und den Drachen, der unter ihr am Boden lag, einfach an und ließ ihre Energie in der Handfläche immer weiter steigen. Noyn hatte den Verdacht, dass sie das genoss.
Das war's dann wohl, dachte er und schloss das heile Auge nun auch. Wirklich schade. Jetzt werde ich nie erfahren, ob ich irgendwann meine Jeanne wiedergetroffen hätte.
Stirb, Verräter!
Noyn wartete auf den letzten Lichtblitz. Es war ihm im Grunde egal. Die Last der Jahre machte auch ihm langsam zu schaffen, obwohl er nicht alterte und ein festes Ziel hatte. Zuviel Leben war nichts für die Menschen, das hatte er schon vor langer Zeit begriffen. Aber seine Suche nach Jeanne hatte ihn immer weitergetrieben. Mitten in seinen Gedanken erklang dann plötzlich das Geräusch.
Es war, als ob irgendetwas sehr schnell die Luft durchschneiden würde. Dann stieß Gottes Nemesis einen Fluch aus und irgendetwas landete geräuschvoll am Boden. Wieder fuhr etwas durch die Luft, aber dieses Etwas hörte sich anders an... wie ein metallisches Kreischen. Dann landete noch etwas – jemand? – neben ihm und er fühlte eine sanfte Hand an seiner Stirn und seinem Handgelenk. Langsam öffnete er das Auge. Und traute ihm nicht. Vor ihm waren plötzlich zwei Engel aufgetaucht. Dann blinzelte er einmal, um das Bild schärfer zu stellen und erkannte den einen auf der Stelle.
„Jeanne!", stieß er hervor. Das war doch nicht möglich! Marron hatte ihre Energie an ihre Tochter übergeben! Wie konnte sie...?
„Wie fühlst du dich, Noyn?", fragte die himmlische Kämpferin. Jetzt erst sah er, dass das kein Trugbild sein konnte, denn diese Jeanne war kein junges Mädchen mehr. Es war wirklich Marron, nun schon an die vierzig Jahre, aber wieder pulsierend voll mit Energie. Woher?
„Mach dir keine Sorgen um mich", entgegnete er, obwohl er wusste, dass das nur dummer Stolz war. „Kümmere dich lieber um Chiaki. Ihn hat es auch übel erwischt. Solange der Dämon in mir lebt, werde ich nicht sterben, keine Angst." Er versuchte zu lächeln, aber es misslang kläglich.
Marron sah ihn einige Momente lang zweifelnd an, dann nickte sie und schenkte ihm ein wunderschönes Lächeln. Sie stand auf und trat hinter den anderen Engel. Ja, dieser war wirklich echt, das bewiesen die Flügel. Aber wieso waren sie schwarz? Schwarzengel konnten doch nicht zu dieser Größe anwachsen, oder? Dann bemerkte er erst das Ding, welches vorhin das metallische Geräusch verursacht hatte. Und brauchte nur einen Moment, um zu begreifen, wer da vor ihm stand. Aber dann musste Marron ja...
Tod, sprach Gottes Nemesis seine Gedanken aus. Und Sieger. Hat Gott sich also wirklich dazu entschlossen. Haben sich Krieg und Hunger etwas verspätet?
Tod erwiderte nichts, sondern musterte lediglich seinen Gegner, während er seine Sense fest in der Hand hielt. Er schien viel jünger zu sein als Marron, aber das hieß nichts. Als Engel oder Dämon alterte man nicht. Aber trotz seines fremden Aussehens beschlich Noyn das Gefühl, diesen jungen Mann zu kennen. Absurd. Bevor er jedoch darüber nachdenken konnte, was ihm dank seiner Verletzungen ohnehin schwer genug fiel, begann Marron zu sprechen.
„Natsuki, ich möchte nicht gegen dich kämpfen." Ihrer Stimme fehlte es an Festigkeit. „Du erkennst mich vielleicht nicht, aber ich bin deine Mutter. Bitte befreie dich von dem, was dich beherrscht."
In Natsukis Augen schien es kurz zu flackern und als sie sprach, kam ihre eigene Stimme aus der Kehle des Mädchens: „Ich weiß schon lange, dass du es bist, Mutter." Allerdings lag auch in dieser Stimme eine Kälte, die Noyn schlucken ließ. Das verhieß nichts Gutes. „Aber das wird dir nicht helfen. Du und Vater, Shinji... alle habt ihr mich jahrelang betrogen. Das wird hier und jetzt enden!"
Marron war zwar offenbar darauf vorbereitet gewesen, dennoch standen ihr Tränen in den Augen, als sie ihre Tochter so reden hörte. „Was hat er dir erzählt, Natsuki?", fragte sie leise. „Wieso hasst du uns so sehr?"
„Marron, sei vorsichtig!", klang in diesem Moment Sindbads Stimme herüber, allerdings nur schwach. Offenbar hatte es den Dieb schwerer erwischt als gedacht. „Gottes Schmerz benutzt sie für seine Zwecke! Sie wird dich töten, wenn du nicht verschwindest!"
„Chiaki?" Auf Jeannes Gesicht zeigte sich Hoffnung. „Wie geht es dir?"
„Ist mir schon wesentlich besser gegangen." An dieser Stelle musste er lange husten. „Aber danke der Nachfrage. Du musst hier weg, Marron! Das ist nicht mehr unsere Natsuki!"
Er hat Recht, trug in diesem Moment Gottes Schmerz zur Unterhaltung bei. Natsukis Gesicht wirkte steinhart. Vorhin ließ ich Natsuki nur kurz sprechen, damit du dir Hoffnungen machst, Eva. Aber ich beherrsche sie vollkommen. So benutze ich deine eigene Tochter, um dich zu verraten... so wie du einst mich verraten hast!
„Du irrst dich", widersprach Jeanne und schüttelte traurig den Kopf. „Eva hat dich niemals geliebt, sondern Adam. Gott hat richtig erkannt, dass er dagegen nichts tun konnte, aber er machte den Fehler, den Schmerz zu verbannen, statt ihn zu ertragen und zu besiegen." Sie richtete ihre Augen wieder auf den Körper ihrer Tochter, der sie mit Wut und Schmerz gleichzeitig anzufunkeln schien. Ihre Stimme war nun sehr sanft, trotz ihrer Tränen. „Natsuki, ich weiß, dass du mich noch hören kannst. Bitte glaube mir, wir haben dir nur nichts von unserer Vergangenheit gesagt, weil wir wollten, dass du wie ein ganz normales Mädchen aufwächst."
Sei still!, fauchte Gottes Nemesis. Natsukis Gesicht wirkte gehetzt. Ihr habt Natsuki belogen und sie weiß das. Hört auf damit!
„Du wagst es, Jeanne eine Lügnerin zu nennen?"
Noyn zuckte zusammen, als er die Stimme des Todes hörte. Sie war nicht einmal besonders laut gewesen und auch nicht erregt, im Gegenteil, sehr ruhig. Aber er kannte sie. Er hatte sie vor Jahren gehört, als er und die junge Jeanne ihr Spiel ausgetragen hatten. Er stellte sich die Silhouette des Engels minus die Flügel und das düstere Aussehen vor... ja, kein Zweifel. Das war Zen!
„Ausgerechnet du?", fuhr Zen fort. Er hatte seine Sense in beide Hände genommen und Natsukis Körper war instinktiv einen Schritt zurückgewichen. Sie funkelte ihn an, schien jedoch zu wissen, dass er sie verletzen konnte. „Die letzte Quelle des Bösen in der Welt? Du hast diesem Mädchen vorgegaukelt, dass jeder sie hasst, weil du wusstest, dass Jeanne sie nicht angreifen würde."
SCHWEIG! brüllte Gottes Nemesis und ballte Natsukis kleine Fäuste. In den Augen des Mädchens schien es zu lodern. Damit erreicht ihr nichts! Ich beherrsche Natsukis Körper! Sie kann nicht mehr gerettet werden! Ihr könnt nur versuchen, mich zu töten! Ein hässliches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Aber das dürfte euch zu zweit schwer fallen.
„Jeanne", presste Noyn unter Schmerzen hervor. „Natsuki trägt einen Teil Gottes in sich, so wie du früher. Wenn sie diese Kraft benutzt, dann kann Gottes Schmerz nicht gegen euch kämpfen. Aber dazu muss sie sich gegen ihn wehren!"
Jeanne sah erst Noyn, dann Natsuki nachdenklich an. „Stimmt das?", fragte sie.
Und wenn schon, fauchte Gottes Schmerz. Aber er wirkte nun fahrig, als habe man seine Achillesferse entdeckt. Das Mädchen ist viel zu verwirrt, um diese Kraft einsetzen zu können. Hättest du ihr eher davon erzählt, dann bestünde vielleicht wirklich Gefahr für mich, aber so weiß sie nicht, was sie tun soll. Wieder erschien dieses hässliche Grinsen. Also könnt ihr nur versuchen, mich zu töten. Wirst du das wagen... Mutter?
Jeanne zuckte zusammen, aber Zen stellte sich vor sie und hob seine Sense. Seinem Gesicht war keine Regung anzumerken. Seine schwarzen Flügel verdeckten Marron, sodass Natsuki ihre Reaktion nicht mitbekam. Sie fluchte.
„Ich bin dieser überflüssigen Worte langsam müde", verkündete Zen und schwenkte probeweise seine Waffe durch die Luft. Das metallische Kreischen war markerschütternd. Die Sense musste unsagbar scharf sein. „Unser Kampf sollte beginnen!"
Mit diesen Worten stieß er sich ab, seine schwarzen Flügel breiteten sich auf und er flog knapp über dem Boden auf Natsuki zu. Diese zischte und sprang mit übermenschlicher Kraftanstrengung hoch in die Luft. Zens Sense fuhr ins Leere und beide Gegner landeten wieder auf dem Boden. Keiner von beiden gönnte sich eine Pause. Natsuki war schon wieder bei Zen, als dieser sich umgedreht hatte und versuchte ihn zu schlagen. Der Tod blockte den Angriff mit der Sense ab, aber Natsukis Arm blieb unverletzt. Offenbar schützte die Macht von Gottes Nemesis ihren Körper. Dennoch zuckten beide zusammen.
Du bist jedem Menschen überlegen, Tod! Natsuki musterte den Schwarzengel, während sie weiterhin versuchte, ihn zu treffen. Sie schien während dieses Kampfes auf Leben und Tod noch gelassener zu sein als der apokalyptische Reiter selbst. Aber Gott kannst du nicht töten! Gib auf!
Zen knirschte mit den Zähnen. Das erste Mal, seit er die Macht des Todes angenommen hatte, sah Jeanne, wie seine unerschütterliche Ruhe bröckelte. Dieser Gegner war stärker als er!
„Sieger!", rief er laut, während er mühsam seine Sense Natsukis Arm entgegenstemmte. „Hilf mir! Alleine kann ich ihn nicht besiegen!"
Aber Jeanne blieb unentschlossen stehen. Krampfhaft hielt sie ihr Gymnastikband in der Hand, hob es jedoch nicht. Sie zitterte, machte einen zögerlichen Schritt auf die Kämpfenden zu, blieb wieder stehen. Warf ihr Band hinter sich, bereit zum Schlag. Sah die Augen ihrer Tochter, die sie gespannt und ein wenig... furchtsam anblickten. Dann senkte sie den Kopf.
„Ich kann nicht", flüsterte sie leise. „Es tut mir Leid, Zen. Ich kann nicht gegen meine Tochter kämpfen."
Damit drehte sie sich um und rannte zu Chiaki, der noch immer am Boden lag. Hinter sich hörte sie den triumphierenden Schrei ihrer besessenen Tochter. Aber sie blickte nicht zurück.
Der Atem von Rill war in den letzten Minuten immer heftiger geworden. Daher überraschte es Miyako und Yamato eigentlich nicht sonderlich, als der Erzengel auf einmal zusammensackte und das magische Fenster, welches ihnen den beginnenden Kampf von Natsuki und Zen gezeigt hatte, sich schloss. Dennoch stöhnten beide enttäuscht auf.
„Was ist los?", verlangte Miyako ungeduldig zu wissen und stemmte die Arme in die Hüften. Erzengel oder nicht, sie wollte wissen, was im Garten Eden vor sich ging! „Brauchst du eine Pause? Wann kannst du das Fenster wieder aufmachen?"
Rill atmete einige Male tief ein und aus, dann straffte er sich und stand wieder auf. Seine Stärke war zumindest äußerlich wieder zurückgekehrt. Er sah die beiden Menschen mit seinen geschlossenen Augen an. Dann wandte er sich zum Gehen.
„He!", rief ihm Yamato empört nach. „Wo willst du hin? Wir wollen wissen, was da unten geschieht!"
„Dafür ist keine Zeit mehr", entgegnete Rill und ging stur weiter. Den beiden blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. „Ich muss jetzt gehen."
„Wohin denn?"
„In den Garten Eden."
„WAS?" Miyako war sichtlich schockiert. „Aber ich dachte, Engel könnten nicht dort hin?"
„Das stimmt auch." Rill nickte. Obwohl er nur ging, schien er schneller zu sein als die beiden Menschen, die keuchend hinter ihm her liefen. „Ich werde auch erst ankommen, wenn alles vorbei ist."
„Aber was ist... wenn unsere Freunde nicht gewinnen?", wollte Yamato wissen. Er war schön langsam erschöpft, aber seine Neugier hielt ihn aufrecht.
„Dann ist es ohnehin egal, wo ich mich aufhalte", verkündete Rill ohne sichtbare Gefühlsregung. „Wenn Gottes Nemesis siegt, wird die Menschheit sterben, ebenso wie die Engel. Aber wenn die Reiter Erfolg haben, dann muss ich dort sein."
„Aber warum?"
„Dort wird dringend Heilung benötigt. Schon seit langer Zeit." Rill schien nicht gewillt, weitere Geheimnisse preiszugeben. „Also werde ich hinfliegen."
„Fliegen?" Miyako riss die Augen auf. „Heißt das, der Garten Eden ist hier, ganz in unserer Nähe?"
„Natürlich", antwortete der Erzengel belustigt, während er den Ausgang des Palastes erreichte. Einige Schwarz- und Grundengel, die verschreckt hierher geflüchtet waren, machten ihm respektvoll Platz. Angst zeigte sich in ihren schönen Gesichtern. „Er ist ein Teil des großen Himmelsgartens... nur, dass wir ihn bisher nicht betreten konnten. Es ist nicht sehr weit."
„Dann wollen wir mitkommen!", bestimmte Miyako und machte eine abwehrende Handbewegung, als Rill den Mund zu einer Entgegnung öffnete. „Keine Widerrede! Ich will wissen, was dort passiert, und wenn das Fenster schon zu ist, kannst du uns genauso gut mitnehmen!"
„Denk besser nicht einmal daran, mit ihr zu diskutieren", fiel Yamato dem Erzengel ein weiteres Mal ins Wort. Er lächelte, obwohl er völlig außer Atem war. „Es ist sinnlos. Sie wird ja doch ihren Willen bekommen. Sie ist zu stur, um nachzugeben. Aua!"
Grinsend rieb er sich den Kopf, auf den ihn Miyako spielerisch geschlagen hatte. Einen Moment lang schien Rill unentschlossen zu sein, dann zuckte er mit den Schultern. Allerdings schien er nicht sehr glücklich über seine Entscheidung zu sein.
„Na schön", willigte er ein und breitete seine mächtigen Flügel aus. Unter den kleinen Engeln entbrannte aufgeregtes Geflüster, aber die drei achteten nicht darauf. „Dann haltet euch an mir fest. Ich werde euch zum Garten Eden tragen. Aber passt auf, dass ihr nicht abstürzt!"
Einige Augenblicke später hob der Erzengel schwerfällig von den Palaststufen ab und nahm mit Höchstgeschwindigkeit Kurs auf den Garten Eden. Die Engel hatten aufgehört zu tuscheln. Jetzt blickten sie den dreien bang nach.
„Chiaki", flüsterte Marron, während sie neben ihrem Mann in die Knie ging. Sanft hob sie seinen Kopf hoch, die Kampfgeräusche im Hintergrund geflissentlich überhörend. Offenbar stand es nicht sehr gut um Zen, denn in diesem Moment schrie er auf. „Wie geht es dir, Liebster?"
„Natsuki hat einen ziemlich festen Schlag drauf", murmelte der Dieb und hustete einmal, woraufhin eine weitere kleine Menge Blut aus seinem Mund lief. Hastig schluckte er. „Ich frage mich... ob sie ihr Kendo-Training nicht etwas übertrieben hat. Ich werde ihr... kräftig den Hintern versohlen müssen, dafür, dass sie mich geschlagen hat."
In Jeannes Augen traten wieder Tränen, aber sie lächelte tapfer und wuschelte dem Dieb durchs silberweiße Haar. Wie sie diesen Mann liebte! Vor allem seine Gabe, im Angesicht des Todes noch Witze zu machen.
„Natsuki ist jetzt sehr viel stärker als du, Chiaki", erinnerte sie ihn sanft.
„Dann musst du sie... wieder zur Vernunft bringen." Chiaki musterte sie einen Augenblick. „Jetzt, wo du die Kräfte von Jeanne wieder besitzt. Oder wie hat sie dich genannt... Sieger?"
„Aber ich kann nicht", widersprach Marron und senkte den Kopf. „Ich kann doch nicht gegen unser eigenes Kind kämpfen, Chiaki! Das schaffe ich nicht!"
„Dann zeig ihr das." Chiakis Stimme wurde beschwörend. „Lass sie sehen, dass du sie liebst! Dass du sie nie, unter keinen Umständen verletzen würdest! Zeig ihr, dass du ihr bedingungslos vertraust... so wie damals, als du gegen dich selbst gekämpft hast, in Gottes Palast. Weißt du noch?"
Natürlich wusste sie das noch. Damals hatte sie sich unbewaffnet ihrem Spiegelbild gestellt, als einzige Waffe ihr Vertrauen in die Liebe. Die andere Jeanne hatte es verstanden und aufgegeben.
„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, Chiaki", wandte sie ein. „Das... ist nicht mehr unsere Natsuki. Ihre Augen sind so kalt... auch wenn sie sie selbst ist. Ich... ich habe Angst vor ihr."
„Aber du musst... es versuchen, Marron!" Chiaki hustete wieder, aber er bevor Marron ihn nach seinem Befinden fragen und somit das Thema wechseln konnte, sprach er weiter. „Zen braucht Hilfe... und das schnell! Sieh doch!"
Noch immer zögernd wandte Jeanne den Kopf und sah zu den Kämpfenden hin. Doch was sie sah, ließ sie nur noch mehr verzweifeln. Der Todesengel wehrte sich zwar verbissen, indem er mit der Sense nun nach Natsukis Gesicht hieb. Diese wich der Waffe nun tunlichst aus, anscheinend wollte Gottes Nemesis nicht riskieren, allzu viel Energie für die Verteidigung zu verschwenden. Dennoch war die Sense so unhandlich, dass Natsukis Hände immer etwas Zeit hatten, um nach Zen zu schlagen, sodass dieser wiederum zurückweichen musste.
Plötzlich sprang er wieder in die Luft und hieb mit der Sense in einem großen Bogen auf Natsukis ungedeckten Rücken ein. Diese jedoch wich im letzten Moment nach vorne aus, sodass Zen die Sense wieder hochreißen und landen musste. In diesem Moment wurde er von Natsukis Fuß im Rücken getroffen und nach vorne geschleudert. Der Todesengel drehte sich hastig um und wehrte mit dem Griff seiner Waffe eine Handkante des Mädchens ab, die auf seinen Brustkorb gezielt hatte. Die Augen Natsukis verengten sich und sie knurrte wütend.
Zen versuchte, ihr die Füße wegzuschlagen, aber sie schien seine Beinschere nicht mal zu bemerken. Statt dessen schlug sie ihm auf die Finger, welche die Sense hielten. Tod schrie auf und ließ die Klinge einen Augenblick los, woraufhin Natsuki triumphierend nach ihr griff und sie seinem Griff entwand. In hohem Bogen warf sie den Seelenernter hinter sich. Sie lachte schauerlich, als sie einen Fußkick des Junge abwehrte und mit der anderen Hand nach seinem Hemd griff. Mit einem Ruck riss sie ihn wie vorhin Chiaki hoch und verpasste ihm eine Ohrfeige, die ihm den Kopf in den Nacken schleuderte. Er stöhnte.
„Beeil dich, Marron", murmelte Chiaki. Offenbar ging dieses Gespräch bereits über seine Kräfte. „Er braucht Hilfe."
Doch bevor die Kriegerin Gottes eingreifen konnte, krümmte sich Natsuki plötzlich zusammen, als hätte sie Bauchschmerzen und ließ Zen los. Im nächsten Augenblick zischte etwas Scharfes zwischen den beiden und trennte sie endgültig. Eine kleine Gestalt hob Zen inzwischen hoch und schleifte ihn hinter Natsuki, zu seiner Sense hin. Alles war so schnell gegangen, dass Marron sie erst jetzt erkannte.
„Yumemi!"
Das Mädchen reagierte nicht darauf, sondern drückte Tod seine Waffe wieder in die Hand. Der Junge begann wieder ruhig zu atmen, und man sah förmlich, wie sich seine Kraft regenerierte. Dann sah sie zu ihrer Tochter hin. Diese stand gespannt da, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Person gerichtet, die sie beinahe mit ihrem Schwert verletzt hätte.
„Seijuro!"
Krieg funkelte Gottes Nemesis an. Seine Kleider waren an einigen Stellen zerschlissen, außerdem hatte er bei seinem Kampf einige unschöne Stiche und blaue Flecken abbekommen, aber anscheinend fehlte ihm nichts weiter.
„Deine zahmen Dämonenritter sind nicht mehr, Nemesis", verkündete er, und man konnte deutlich die Häme aus seinen Worten heraushören. „Du dachtest wohl, sie würden uns länger aufhalten, wie?"
Krieg, stellte Natsuki überflüssigerweise fest. Und Hunger. Ihr seid wahrlich stärker, als ich dachte. Aber wie konntet ihr meine Diener in so kurzer Zeit besiegen?
„Nun, nachdem ich die Menschen durch unser Portal in Sicherheit gebracht hatte", erklärte Yumemi mit ruhiger Stimme, während sie noch immer auf Tod achtete, „habe ich die Dämonenritter geschwächt – so wie dich eben. Eure Kräfte mögen immens sein, aber eure Körper sind menschlich und anfällig für Hunger." Sie lächelte ihrem Bruder kurz zu. „Krieg war beinahe wütend darüber, dass ich den Kampf so leicht machte, aber ich konnte ihn davon überzeugen, dass wir schnell handeln mussten."
Krieg zog eine Schnute und richtete seine Schwertspitze auf Natsukis Kehle, was Marron angstvoll einatmen ließ, Natsuki jedoch nicht allzu sehr beeindrucken schien.
„Jetzt ist der Augenblick deines Todes gekommen", prophezeite er mit lodernden Augen. „Dafür, dass du dieses unschuldige Mädchen für deine Zwecke missbraucht hast, wirst du langsam und qualvoll sterben. Und glaube mir, ich kenne mich mit Todesqualen gut aus."
Daran zweifle ich nicht, Krieg, entgegnete Gottes Nemesis mit einer großen Portion Sarkasmus in der Stimme. Die Schwertspitze schien sie nicht im mindesten zu stören. Allerdings sind eure Chancen, mich zu besiegen, auch zu dritt nicht viel größer. Der Kampf wird lediglich etwas länger dauern. Denn Sieger wird es nicht wagen, gegen mich zu kämpfen. Natsukis Kopf drehte sich in Jeannes Richtung und blickte sie treuherzig an. Das stimmt doch, Mutter?
Zuerst wagte Kaiki Nagoya es nicht, ans Telefon zu gehen. Er hatte heute schon genug Unglaubliches erlebt und Chiaki war bisher noch nicht zu ihm hereingekommen. Er wusste zwar nicht, was sein Sohn gegen dieses Ungeheuer da draußen ausrichten wollte, aber bevor er oder Shinji nicht hereinkamen und Entwarnung gaben, würde er hier herinnen bleiben.
Aber war es sinnvoll, nicht ans Telefon zu gehen? Immerhin war es jetzt bereits über eine halbe Stunde her, seit der Junge ihn herein geführt hatte. Möglicherweise hatte der Muskelprotz Chiaki besiegt? Aber das hätte der Engel doch nicht zugelassen, oder? Oder war er nie da gewesen, nur ein Produkt von Kaikis übersteigerter Fantasie.
Kaiki schüttelte ärgerlich den Kopf. Fragen, Fragen, Fragen! Damit konnte er sich später herumschlagen. Er würde jetzt den Hörer ab- und den Anruf entgegennehmen, und dann würde er hinausgehen und nachsehen, wie es seinem Sohn ging. Entschlossen griff er nach dem Hörer.
„Hallo? Kaiki Nagoya hier!"
„Nagoya-sama!"
Kaiki erkannte die Stimme sofort. Und er war überrascht. „Kagura!", rief er. „Warum rufst du um diese Zeit an?"
In den nächsten Minuten wurde ihm eine Geschichte aufgetischt, für die er einen anderen Erzähler an einem anderen Tag sofort in eine Zwangsjacke gesteckt hätte, aber heute war ohnehin nichts normal. Kagura und seine Frau Yashiro waren nach dessen Schilderungen von einer rothaarigen Punkerin betäubt und entführt worden, kurz nachdem ihre Kinder zu Marron und Chiaki gegangen waren. Sie hatten sich in einem Wald wiedergefunden, in dem Tausende andere Leute aller Rassen und Alter ebenfalls schon länger waren. Alle waren anscheinend entführt worden und wussten nicht, warum. Bewacht worden waren sie von dieser Punkerin und einigen anderen Typen, deren Beschreibung Kaiki unangenehm an den Bodybuilder erinnerte, der ihn bedroht hatte. Ihn schauderte.
Kagura erzählte weiter, dass vor ungefähr einer halben Stunde vier Leute aufgetaucht waren, von denen zwei Seijuro und Yumemi zu sein schienen. Die beiden anderen, ein Mann mit schwarzen Flügeln und einer Sense (Kaiki schluckte) und eine Frau, die Kaito Jeanne sehr ähnlich sah, waren abgehauen, aber seine Kinder hatten anscheinend ziemlich unglaubliche Sachen vollbracht, soweit er es aus Kaguras wirrem Bericht entnehmen konnte. Dann hatten sich Kagura und Yashiro plötzlich wieder in ihrem Haus wiedergefunden. Seijuro und Yumemi waren nicht da gewesen und anscheinend auch Marron, Chiaki und die Minazukis nicht. Kagura hatte alle anzurufen versucht.
„Bei Ihnen sind sie nicht, Nagoya-sama, oder?" Man konnte aus Kaguras Stimme entnehmen, dass er nicht daran glaube, aber sich beschäftigen musste. „Ich weiß ja, wie sich das anhört, aber..."
„Nein", gab Kaiki bedauernd zu. „Aber keine Sorge, ich halte dich nicht für verrückt, Kagura. Bei mir sind heute auch... einige Dinge vorgefallen, die ich mir nicht ohne weiteres erklären kann. Was haltet ihr davon, wenn ihr zu mir herüberkommt? Vielleicht hilft es, wenn wir die Sache gemeinsam besprechen."
„Das wäre wahrscheinlich das Beste", stimmte Kagura zu. Seine Stimme sank auf ein Flüstern. „Ich glaube, Yashiro ist nahe an einem Nervenzusammenbruch. Ich muss sie unbedingt ablenken, sonst wird das vielleicht noch schlimmer. Es war schon schlimm genug, entführt zu werden, aber als dann auch noch Seijuro und Yumemi auftauchten..."
„Dann sollten wir auf jeden Fall vernünftig mit ihr reden", bestimmte Kaiki und fand langsam sein Selbstvertrauen wieder. Das war eine Situation, mit der er umgehen konnte. „Kommt so schnell wie möglich rüber, es wird anscheinend schon dunkel."
„Gut. Bis gleich, Nagoya-sama."
Erst als er auflegte, wurde ihm bewusst, was er gerade gesagt hatte. Dunkel? Wieso sollte es jetzt schon dunkel werden? Es war gerade später Nachmittag, also beileibe noch keine Zeit, an der die Sonne unterging. Rasch trat er zum Fenster. Ihm stockte der Atem bei dem Anblick, der sich ihm bot.
Schwarze Gewitterwolken waren aufgezogen und bedeckten den Himmel, und sie waren nicht nur grau, sondern wirklich schwarz. Kein Sonnenstrahl kam mehr durch die Wolkendecke, die Häuser der Stadt wurden nur durch unzählige Lampen erhellt und Menschen rannten aufgeschreckt herum. Viele deuteten zum Himmel, rannten aber schreiend davon, wenn Blitze aufzuckten, die nicht selten etwas am Boden trafen. Wind war aufgekommen und blies plötzlich so heftig, dass Bäume umfielen und legte sich in der nächsten Sekunde wieder. Die ganze Atmosphäre schien ein einziger Hexenkessel zu sein, in dem sich die Elementargewalten als Hauptzutaten vereinten. Kaiki schluckte. Er hoffte, dass wenigstens dieses Wetter natürlichen Ursprungs war... aber so recht konnte er nicht daran glauben.
„Schluss jetzt!" Krieg war sichtlich wütend. „Tu nicht so herausfordernd! Du hattest schon mit Tod deine Probleme. Uns drei, selbst ohne Sieger, wirst du nicht besiegen können!"
Ach, denkst du? Der Kopf ruckte wieder herum und ein hässliches Grinsen zierte das Gesicht. Wer sagt dir denn, dass ich schon meine ganze Kraft eingesetzt habe? Glaub mir, ich habe sehr wohl genug Kraft, um mich eurer erwähren zu können. Probier's doch aus!
„Warte, Krieg." Diese Stimme gehörte Tod. Zen war anscheinend wieder bei Kräften, auch wenn sein Atem noch immer etwas schnell ging. Er hielt seine Sense bereits wieder mit beiden Händen und war mit Yumemis Hilfe aufgestanden. „Wir müssen ihn zusammen angreifen, dann haben wir eine Chance zu siegen. Zügle dein Temperament!"
"Ich glaube, du irrst dich", widersprach Hunger Natsuki, ohne auf Tods Worte zu achten. Sie ging um das Mädchen herum, bis die drei ein Dreieck um Natsuki bildeten. „Wir sind stärker, als du vielleicht annimmst, weil auch die Menschen, die wir benutzen, genau wissen, worum es in diesem Kampf geht. Auch sie werden ihr Letztes geben, um dich zu besiegen."
Na, dann versucht doch, mich zu schlagen, fauchte Natsuki und sah hektisch zu Krieg und Tod hin, die jedoch noch immer keine Anstalten machten anzugreifen. Ihr und diese Menschenwürmer werdet mich NIE besiegen!
„Das wird sich zeigen!"
Yumemi hob ihre Waage und richtete sie auf Natsukis Gestalt. Das Mädchen kniff misstrauisch die Augen zusammen, als fragte sie sich, was Hunger damit bezweckte. Dann berührten Yumemis Finger eine der Waagschalen, die sich zur Erde neigte. Und im selben Augenblick verzog Natsuki das Gesicht und griff sich instinktiv auf den Bauch. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich Gottes Nemesis von dieser Attacke erholt hatte, aber Tod und Krieg hatten nicht vor, ihm diese Gelegenheit zu geben. Beide holten mit ihren tödlichen Waffen aus und ließen sie auf den Körper Natsukis herunterschnellen.
„NEIN!"
Etwas Langes und Dünnes schnellte durch die Luft und war plötzlich zwischen den beiden Waffen und Natsuki. Grelles Licht blitzte auf, wo Jeannes Gymnastikband auf Tods Sense und Kriegs Schwert traf und für einige Augenblicke konnte niemand auf der Lichtung etwas sehen. Als das Licht schließlich wieder abklang stand Jeanne zwischen den beiden Reitern und ihrer Tochter. Ihre Augen drückten große Trauer aus – allerdings auch granitharte Entschlossenheit.
„Hört auf", bat sie. Ihre Stimme klang nun fest, nicht so verletzt wie vorhin, als sie mit ihrer Tochter gesprochen hatte. „Ich will nicht, dass Natsuki verletzt wird."
„Das ist nicht mehr deine Tochter, Sieger!" Krieg war nun wirklich in Rage, wie seine brennenden Augen und seine gespannten Muskeln bewiesen. Vermutlich fehlte nicht viel und er hätte sich auf Jeanne gestürzt, aber diese sah ihn lediglich eisern an. „Sie ist ein Monster! Wir müssen sie besiegen, oder sie wird alles vernichten, was wir kennen!"
„Aber Natsuki selbst ist unschuldig!", warf Jeanne ein und hob ihr Gymnastikband, um etwaige Angriffe abwehren zu können. „Sie wird nur benutzt!"
„Denkst du denn, das wissen wir nicht?" Selbst aus Yumemis Stimme konnte man Ärger heraushören. „Denkst du denn, wir würden sie nicht nutzen, wenn es eine Möglichkeit gäbe, sie zu retten?"
„Natsuki besitzt die Kraft, sich Gottes Schmerz zu widersetzen!", widersprach Jeanne, aber nun klang hörbar Panik aus ihrer Stimme heraus. Sie musste die Reiter überzeugen, sonst würde ihr kleines Mädchen sterben! „Ich weiß es, weil ich sie selbst besessen habe! Sie kann sich von seinem Einfluss befreien, wenn wir ihr helfen!"
„Und wie stellst du dir das vor?", fragte Tod, wie immer völlig emotionslos. Allerdings war sein Griff um die Sense fest. Auch er war nervös. „Sie hört nicht auf dich, das hast du doch vorhin sehen können, Sieger!"
Jeanne drehte sich um. Natsuki saß am Boden und sah hektisch von einem zum anderen. Dennoch griff sie nicht an, vielleicht, weil Krieg, Tod und Hunger immer noch bereit waren, sie auf der Stelle anzugreifen. Traurig blickte Jeanne auf das Wesen hinab, welches aus ihrer Tochter geworden war.
„Ist das denn ein Wunder?", fragte sie leise. „Welche liebende Mutter würde ihrem Kind mit einer Waffe gegenübertreten? Wie soll sie mir vertrauen, solange ich die Macht habe, sie zu töten?"
Dann, unter den erschrockenen Ausrufen der anderen Reiter, ließ sie ihr Gymnastikband fallen und griff an ihre Schleife. Ein Handgriff und die göttliche Pracht fiel von ihr ab. Nun war sie wieder Marron Nagoya, verletzlich und voll Angst. Aber auch die Mutter dieses Kindes. Natsuki starrte sie vollkommen verwundert an und Marron glaubte nicht, dass in diesem Moment Gottes Schmerz die volle Kontrolle über sie hatte. Scheu lächelte sie ihre Tochter an. Sie breitete die Arme aus.
„Siehst du, Natsuki? Jetzt bin ich wehrlos und du kannst mich töten. Willst du wissen, warum ich das getan habe? Weil ich nicht gegen mein eigenes Kind kämpfen werde, auch wenn deshalb die Welt untergeht. Und weil ich dir vertraue. Meine Natsuki würde nicht blindwütig töten, nur weil sie belogen wurde."
„Mutter..." Es schien Natsuki unglaublich schwer zu fallen, diese Worte auszusprechen, aber zumindest hatte sie die Kontrolle von Gottes Schmerz überwunden. Ihre Augen sprachen Bände. In ihnen war Angst, Scham, Zorn... aber auch Hoffnung zu lesen. „Sind... sind die Dinge wahr, die man mir erzählt hat? Über dich und Vater?"
„Ja", sagte Marron klar und deutlich. „Ich und Chiaki waren Kaito Sindbad und Kaito Jeanne. Wir haben gegen das Wesen gekämpft, das du gerade in dir trägst. Wegen uns sind unschätzbar wertvolle Kunstgegenstände verschwunden." Sie konnte sehen, wie Hunger noch blasser wurde, als sie es bisher gewesen war und vermutlich ging es den anderen Reitern auch nicht anders. Sie scherte sich nicht darum. „Sieh mich an, Natsuki! Sind das Gründe, mich und Chiaki zu töten?" In ihre Augen traten wieder Tränen und ihre Stimme fing an zu schwanken. „Haben wir dir jemals etwas angetan, Natsuki? WAS haben wir dir angetan, außer, dass wir dir unsere Vergangenheit verschwiegen haben? Frag dich selbst, meine Tochter: Hast du wirklich einen Grund, uns zu hassen? Einen Grund, uns zu töten?"
„Aber..." Natsuki hielt sich die Hände an den Kopf, als hätte sie Schmerzen. „Ich... ich weiß es nicht... ich weiß überhaupt nichts. Ich fühle so viel Zorn... so viel Schmerz..."
Impulsiv trat Marron einen Schritt nach vorn, ging in die Knie und umarmte ihr Kind. Natsuki war so überrascht, dass sie steif wie ein Brett wurde, aber sie tat auch nichts, um ihre Mutter wegzustoßen. Auf die erschrockenen Laute der anderen achteten die beiden nicht.
„Dann teile diesen Schmerz mit mir, Natsuki", schlug Marron vor und ihre Stimme war sanft wie der Wind. „Befreie dich von dem Hass, der in dir ist. Du kannst das, ich weiß es, weil du diese Stärke von mir hast. Du brauchst diesen Hass nicht und du brauchst diese unmenschliche Stärke nicht. Ich möchte so gern, dass du wieder meine kleine Natsuki wirst, auf die ich so stolz bin."
„Mutter..." Marron fühlte, wie nasse Flecken auf ihrem Rücken entstanden, als Natsukis Tränen von ihren Wangen tropften. Zitternde Kinderhände schlossen sich um den Körper ihrer Mutter und drückten sie dann so fest, als hätten sie Angst, Marron würde davonfliegen. „Mama... es tut mir Leid."
„Schon gut", murmelte Marron und wiegte Natsuki sanft, wie ein Baby. „Bald können wir wieder nach Hause, Natsuki. Und dann entschuldigst du dich bei Shinji und dann ist alles wieder in Ordnung."
Marron fühlte die Veränderung, die in ihrer Tochter vor sich ging, aber sie konnte nicht mehr reagieren. Nun hielten sie wieder die unmenschlich starken Arme von Nemesis fest und Hass ging in Wellen von ihm aus. Auch die anderen Reiter fühlten es, wagten es aber nicht einzugreifen, aus Angst, sie zu verletzen.
Dumm, bemerkte Gottes Schmerz. Wirklich dumm, Eva. Fast hättet ihr mich besiegt. Beinahe hätte ich diesen Körper verlassen müssen. Hättest du nur nicht Shinji erwähnt... Natsuki hasst ihn noch immer, weißt du? Weil er sie betrogen hat. Dadurch konnte ich wieder Macht über sie erlangen. Und damit du sie nicht noch einmal gegen mich aufwiegelst...
Ein Arm schnellte in die Höhe, zur Klaue gekrümmt und zielte auf Marrons Rücken. Sie konnte nicht ausweichen, weil sie der andere immer noch festhielt. Sie bekam Panik, versuchte, sich loszureißen, aber es war aussichtslos. Gottes Schmerz war viel zu stark. Sie spürte den Widerwillen, den der Körper ausstrahlte, der gerade seine Mutter töten wollte, aber der göttliche Wille, der ihn beherrschte, war zu stark. Die Arme spannten sich.
Und Natsukis Körper krümmte sich ein weiteres Mal zusammen. Kurz wurde Yumemi sichtbar, die ihre Waage hochhielt. Aber die Waagschale schien sich ihren Fingern entgegenzusetzen. Lange konnte sie die Bauchschmerzen nicht aufrechterhalten, wie ihr angespanntes Gesicht bewies. Aber Tod und Krieg benötigten auch keine lange Einladung. Die Sense fuhr hernieder und schlug die erhobene Hand beiseite und Krieg machte einen Ausfallschritt und riss das strahlende Schwert hoch. Es zielte genau auf Natsukis Rücken.
„Stirb!", brüllte er.
„NEIN!", schrieen Marron und Natsuki gleichzeitig. Aber das Schwert fiel. Und traf.
Natsuki brauchte einen Augenblick um festzustellen, dass sie es gar nicht war, die getroffen worden war. Im selben Moment prallte der Körper, der den tödlichen Hieb abgefangen hatte, auch schon gegen sie und riss sie von ihrer Mutter weg. Sie fiel auf den Boden und der stöhnende Körper rutschte von ihr ab und fiel schlaff wie ein leerer Sack neben ihr hin. Sie brauchte nur einen Blick, um zu erkennen, wer ihr Retter war.
„SHINJI!"
Der Junge sah furchtbar aus. Kriegs gewaltiger Hieb hatte seine Schulter gespalten, seinen linken Arm nahezu abgetrennt und war offenbar durch mehrere Rippen gegangen, auch wenn er das Herz nicht erreicht hatte, denn Shinji atmete noch. Allerdings wahrscheinlich nicht mehr lange, denn die Atemstöße kamen abgehackt und irgendwie feucht. Blut rann aus seinem Mund und die Augen starrten Natsuki blicklos an. Zitternd hob der Junge einen Arm, krächzte etwas und ließ die Hand vor ihr auf den Boden fallen. Dann konzentrierte er sich offenbar darauf zu atmen und am Leben zu bleiben. Die Kraft verließ die Hand und die Finger öffneten sich. Natsukis Augen weiteten sich, als sie sah, was darin lag.
Viele hatten sich schon über die Legende von Natsukis Geburt lustig gemacht, aber ihre Mutter wie auch ihr Vater hatten die heiligsten Eide geschworen, dass der schwarze Ohrring, der Natsukis größter Schatz war, tatsächlich bei ihrer Geburt in ihrer Hand gelegen hatte. Marron hatte ihr, sobald sie alt genug gewesen war, lächelnd prophezeit, dass sie den zweiten wahrscheinlich irgendwann einmal von ihrem Liebsten bekommen würde. Eine Kleinmädchengeschichte, hatte Natsuki beschlossen, als sie noch älter geworden war, wenn auch eine schöne. Dennoch hatte sie den Anhänger viele Nächte hindurch studiert. Daher erkannte sie seinen Zwillingsbruder sofort, als er aus Shinjis geöffneter Hand kullerte. Sie schrie entsetzt auf.
Und diesen Moment wollte Gottes Schmerz nutzen, um wieder Gewalt über sie zu erlangen. Er war verzweifelt, das merkte man, da er mit aller Macht versuchte, sie wieder zu übernehmen, aber diesmal war es anders. Natsuki hatte all seine Anschuldigungen als falsch erkannt, als Marron ihre Vergangenheit zugegeben und Shinji ihr das Leben gerettet hatte. Und der schwarze Anhänger besiegte jeden Hauch eines Zweifels. Shinji hatte sie geliebt. Immer. Tränen der Wut in ihren Augen griff Natsuki nach dem Anhänger und ballte die Faust.
„VERSCHWINDE!", schrie sie mit aller Macht, die sie aufbringen konnte. Jetzt fühlte sie, was ihre Mutter gemeint hatte... etwas, das tief in ihr war, das sie aber ihr ganzes Leben lang für selbstverständlich gehalten hatte. Eine Macht, die unendlich groß war... und vor der die andere Kraft, die sie benutzt hatte, zurückschreckte. „Verschwinde aus mir oder ich vernichte dich! Du hast Shinji auf dem Gewissen!"
Gottes Schmerz versuchte erst gar nicht, mir ihr zu reden. Er wusste, dass sie ihm nicht mehr glauben würde. Statt dessen warf er alles gegen ihren Willen, das er hatte. Natsuki stöhnte, als sie der Hass wieder zu übermannen drohte, aber sie hielt den Anhänger fest, sodass er sich in ihre Haut schnitt. Dieser Schmerz erinnerte sie an Shinji und sie lenkte ihren Zorn auf Gottes Schmerz, der sich daraufhin von einem Teil seiner eigenen Kraft bedroht sah: Gottes Macht, die er Eva geschenkt hatte. Voll Panik bemerkte er, dass er gegen diese Kraft nichts ausrichten konnte, denn Gott hatte Eva geliebt. Gottes Schmerz wählte den letzten Fluchtweg. Er verließ Natsukis Körper. Das Mädchen brach erleichtert weinend über Shinjis Körper zusammen.
„Jetzt haben wir dich!"
Krieg sprang sofort hoch, als er den schwarzen Schatten sah, der sich von Natsuki löste und ließ seine eigene Macht frei. Die Schwärze prallte zurück, als ihr eine lodernde Feuerwand plötzlich den Weg versperrte. Als sie sich in eine andere Richtung wenden wollte, stand dort Hunger mit ihrer gnadenlosen Waage, die sich immer mehr in Richtung Schmerz bewegen zu schien und die letzte Richtung blockierten Tods schwarze Schwingen. Wohin sich Gottes Nemesis auch wenden wollte... der Weg war versperrt.
Ein körperloser Angriff auf Tod wurde mit einer gleichzeitigen Attacke von Krieg und Hunger vergolten. Rasend vor Schmerz hielt die Schwärze inne und suchte nach einem Weg, auf dem sie entkommen konnte. Aber es gab keinen. Jetzt konnte Gottes Schmerz nur noch warten, bis Sieger ihre Niederlage besiegelte. Vielleicht war das gar nicht so schlecht... dann waren die Schmerzen endlich zu Ende.
„Sieger!", rief Krieg triumphierend und schwang drohend sein Schwert hin und her. „Du hattest Recht! Jetzt, da Natsuki von Gottes Schmerz befreit ist, steht uns nichts mehr im Wege! Komm her und lass uns die Erde von diesem Ungeheuer befreien!"
Aber Marron war neben ihrer weinenden Tochter niedergekniet und hatte die Hand auf ihre Schulter gelegt, stumm mit ihrem Mädchen leidend. Sie stand nicht auf.
„Marron!" Zum ersten Mal, seit er die Macht des Todes besaß, nannte Zen sie bei ihrem Namen. War das die Vorfreude auf Frieden? „Komm! Lass uns die Sache hinter uns bringen. Gott kann Shinji danach sicher helfen."
„Denkst du?" Marrons Stimme war so bitter, dass alle, selbst Chiaki und Noyn, erstaunt ihre Köpfe hoben und sie ihr zudrehten. „Er konnte damals auch Fynn nicht retten. Wieso sollte er heute Shinji retten können? Er ist tot."
„Sieger, es wäre dumm anzunehmen, dass wir dieses Wesen ohne Opfer besiegen könnten", versuchte Hunger sie zu überreden. „Aber wenn du Shinji rächen willst... jetzt hast du die Gelegenheit dazu. Er war auch der Freund unserer Wirtskörper, das weißt du. Sie würden es billigen."
„Töten! Immer nur töten!" Jetzt stand Marron wütend auf und warf den Reitern vernichtende Blicke zu. „Ich bin es leid, dass Leute sterben müssen, um das Böse zu besiegen! Das Morden muss endlich aufhören!"
„Heißt das, du willst dieses Monster am Leben lassen?" Krieg war völlig fassungslos. „Aber gerade wegen ihm ist Shinji gestorben! Er wird nicht eher ruhen, bis die gesamte Menschheit tot ist, begreifst du das nicht?"
„Er hat Recht, Jeanne." Noyn hatte sie beinahe vergessen, aber der schwer verwundete Dämonenritter hatte sich hochgestemmt und sah Marron ungläubig an. „Alles, was er sucht, ist Erlösung... von seinem Schmerz, dem Schmerz Gottes! Und dazu... müssen die Menschen sterben, die ihm seine Kraft geben! Du musst ihn töten,... oder er tötet alle Menschen!"
Warum bittest du für mich, Eva? Die Stimme von Gottes Nemesis klang diesmal nicht so furchterregend wie zuvor, eher überrascht. Sie haben mit allem Recht. Ich werde ALLES tun, um mich mit meinen Schmerzen auszulöschen, und der einzige Weg dazu ist der Tod der Menschheit. Aber du weißt das. Warum setzt du dich für mich ein, mich, der deine eigene Tochter gegen dich wandte?
„Weil ich es bin, wegen dem du leiden musst." Marron sah zu Boden, als die Erinnerung an das Gespräch mit Gott sie traf, als er ihr mitteilte, dass er in Eva verliebt gewesen war und sie Evas letzte Reinkarnation darstellte. „Gott hat sich von dir getrennt, weil er glaubte, die Einsamkeit nicht ertragen zu können, als meine erste Inkarnation ihn verließ. Du willst nicht morden, du möchtest nur Erlösung finden." Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann dich nicht töten."
Du MUSST! Seltsamerweise klang die Stimme nun flehend. Marron sah verwundert auf. Auch die Reiter waren offensichtlich verblüfft. Ich ertrage den Schmerz nicht mehr! Die Menschen können mit ihren Schmerzen fertig werden, aber ich habe nicht die Kraft dazu! Du hast Recht, ich will die Menschheit nicht vernichten, schließlich bin ich ein Teil Gottes. Aber ich BIN der Schmerz! Entweder setzt du meinem Leiden ein Ende... oder ich mache es selbst und vernichte die Welt!
„Marron!", drängte Zen. „Wir müssen ihn jetzt töten! Er blufft nicht!"
„Warum vertraut ihr meiner Frau nicht?", fragte eine leise Stimme plötzlich. Verwundert drehten sich alle außer dem bewusstlosen Shinji und der weinenden Natsuki zu ihm um. Chiakis Gesicht wirkte seltsam friedlich, als hätte er diese Entwicklung vorhergesehen. „Marron hat bisher doch noch immer einen Ausweg gefunden, oder? Und nie musste sie dafür jemanden töten. Denk nach, Marron", wandte er sich an seine Frau. „Er sagt, er hätte nicht genug Kraft, sich seinem Schmerz zu stellen. Aber ihr habt von Gott genug Kräfte erhalten, um mit ihm fertig zu werden. Was sagt dir das?"
Er grinste sie gewinnend an. Einen Augenblick lang weigerte sich Marron, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen, aber dann glomm die Erleuchtung in ihren Augen. Sie sah zum Himmel auf.
„Gott!", rief sie laut aus. „Ich weiß, dass du wieder existierst, weil ich dir meine Macht zurückgegeben habe! Komm hierher! Ich möchte dich etwas fragen!"
„Was soll das, Sieger?", fauchte Hunger, während sie nervös die Schwärze im Auge behielt. Diese schien allerdings selbst viel zu überrumpelt zu sein, um anzugreifen. „Wieso willst du mit Gott sprechen? Er selbst kann dieses Monster nicht vernichten, das hat er doch gesagt."
Marron ignorierte sie und lächelte Chiaki an. Er nickte zufrieden und legte seinen Kopf wieder auf den Boden. Sie hatte verstanden, was er gemeint hatte. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Sache erledigt und er in einem Krankenhaus war. Es würde eine nette Abwechslung sein, einmal nicht dort arbeiten zu müssen. Er lächelte bei dem Gedanken, sein Vater könnte ihn behandeln.
Hunger hat Recht, Marron, erklang die Stimme, die der von Gottes Nemesis so ähnlich war. Und doch war sie anders. Gott sprach zu ihnen. Und im nächsten Moment erschien auch schon ein Glimmen in der Luft, das zwar nicht so stark wie üblich, aber unzweifelhaft Gott war. Ich kann euch nicht helfen. Was willst du also?
Marron sah die Kugel fest an. „Ich will", sagte sie mit klarer Stimme, „dass du deine Einsamkeit wieder aufnimmst."
Bist du von Sinnen? Gott war sichtlich schockiert, genau wie alle anderen, seine Nemesis eingeschlossen. Ich kann nicht mit ihm leben! Ich würde wahnsinnig werden vor Schmerz! Bist du dir im Klaren, was ein verrückter Gott anrichten könnte?
Marron sah ihn entschlossen an. „Ich glaube nicht, dass du verrückt werden würdest", antwortete sie fest. „Menschen müssen auch in ihrem Leben manchmal großen Schmerz ertragen. Ich selbst habe fast meine gesamte Jugend in Einsamkeit verbracht, bis Fynn und schließlich Chiaki kamen." Sie lächelte ihrem Mann liebevoll zu, dann sprach sie weiter: „Du hast jedem Menschen die Stärke gegeben, mit seinem Schmerz fertig zu werden. Wieso glaubst du, dass du selbst das nicht kannst?"
Ich habe Eva geliebt, Marron! Gott schrie nun und alle zuckten zusammen, als die gewaltige mentale Stimme sie traf. Marron allerdings verschränkte die Arme und blieb stur stehen. Sie würde nicht nachgeben! Ich kann sie nicht vergessen, wenn ich jeden Tag dein Gesicht sehe! Ich würde durchdrehen! Vielleicht würde ich sogar die Welt vernichten, wie meine Nemesis!
„Liebst du denn nur mich, Gott?", fragte Marron leise und senkte den Kopf. „Bedeuten dir die anderen Menschen denn gar nichts? Ich bin aber nicht Eva. Eva wird es nie wieder geben. Aber jeder Mensch trägt ein Stück von ihr in sich, weil sie die Mutter der Menschheit war." Sie sah auf und glaubte sogar, dass das Licht schwächer funkelte, als müsste Gott intensiv nachdenken. Triumph keimte in ihr auf. „Ist es nicht so?"
Ja, das stimmt, gab Gott fast widerwillig zu. Aber...
„Kein Aber!", sagte sie so bestimmt, dass hinter ihr einige Leute vor Schreck einatmeten. Immerhin sprach sie mit GOTT! „Die Menschen waren Adams und Evas Kinder, das heißt, dass sie Nachkommen deiner großen Liebe sind! Heißt das nicht, dass sie deine Liebe verdienen? Würdest du tatsächlich die Kinder Evas töten, nur weil sie selbst sich entschied, mit Adam zu gehen? Verdienen sie nicht alle dieselbe Chance, dich zu lieben, Gott?"
Einige Augenblicke lang war es auf der Lichtung fast völlig still, nur Natsukis leises Weinen durchbrach sie. Das Mädchen schien taub für alles zu sein, was nicht mit Shinji zu tun hatte. Marron krampfte sich das Herz zusammen, aber zuerst musste diese Sache geregelt werden. Die Augenblicke zogen sich in die Länge wie Kaugummi, aber schließlich fing Gott wieder an zu sprechen. Seine Stimme klang sehr nachdenklich.
Denkst DU, dass wir zwei vereint unseren Schmerz besiegen könnten? wandte er sich an seine Nemesis, die offenbar ebenso aufgewühlt war wie er selbst. Glaubst du, wir könnten Eva wirklich in den Menschen wiederfinden?
Ich weiß es nicht, antwortete sein Gegenstück langsam. Aber Marron glaubte, aus seinen Worten wilde Hoffnung heraushören zu können. Nun, wer hatte mehr Grund, auf Erlösung zu hoffen als Gottes Schmerz? Aber sie hat Recht. Jeder Mensch kann seinen Schmerz bezwingen, wenn er etwas hat, das lieben kann. Warum sollte Gott... uns... das verwehrt sein? Die Menschen haben diese Stärke... und sie geben uns die unsere.
Wieder sprach einige Momente lang niemand etwas, aber man konnte die Spannung beinahe knistern hören. Als es dann schließlich geschah, erfolgte es so schnell, dass es beinahe niemand sehen konnte. Yumemi, Seijuro und Zen keuchten erschrocken auf, als die Macht der Apokalypse von ihnen genommen wurde und zu Gott zurückfloss. Bevor allerdings jemand etwas sagen konnte, entstand ein greller Lichtblitz, der die gesamte Lichtung, ja den gesamten Garten Eden in gleißende Helligkeit zu tauchen schien. Einige der Menschen schrieen auf, aber Marron hielt lediglich stumm lächelnd ihre Augen geschlossen. Sie konnte wie jeder andere fühlen, wie Gott und Nemesis in einem Augenblick zu existieren aufhörten... und dafür etwas unvorstellbar Altes wieder zu neuem Leben erwachte. Das Wesen, das den Menschen näher gewesen war, als Gott es jemals sein könnte, weil es Schmerz und Leid kannte, war nun an seine Stelle getreten. Der Vater Adams und Evas war wiederauferstanden.
„Was war das?", fragte eine Mädchenstimme zitternd... Yumemi. „Sind sie jetzt... vereint?"
„Ja", verkündete Marron zufrieden, während sie die Hände blinzelnd von den Augen nahm. Sie hatte es geschafft! Niemand hatte sterben müssen! „Wir haben es geschafft. Jetzt ist auch das letzte absolut Böse verschwunden. Es ist wieder Teil Gottes geworden, wie es zu Anfang aller Zeiten war."
„Gott?", fragte nun auch Yumemis Bruder nach, als er der abwechselnd in allen Farben schimmernden Energiekugel gewahr wurde, die vor ihnen schwebte. „Wie... wie geht's dir?" Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Marron über diese Frage vermutlich gelacht. Aber jetzt nicht.
Ich weiß es nicht. Diese Stimme klang ebenso vertraut wie neu, aber das war ja nicht verwunderlich. Seltsamerweise schien sie nicht sehr viel Schmerz auszudrücken, eher ein Gefühl von... Zufriedenheit. Freude, wieder ein Ganzes zu sein. Marrons Herz jubilierte und diesmal waren die Tränen, die in ihre Augen traten, Tränen der Freude. Aber wir... ich... werde mich eine Weile von euch zurückziehen,... bis ich meinen Schmerz akzeptiert und überwunden habe, wie du es mir geraten hast Marron. Wieder einmal hast du mir geholfen. Danke.
„Schon in Ordnung, Gott." Marron grinste wie eine Heranwachsende. „Du kannst mir ja mal einen Blumenstrauß vorbeibringen, wenn du in der Gegend bist."
Zaghaftes Lachen ertönte, welches allerdings von Chiakis nörgelnder Stimme durchbrochen wurde: „Wenn ihr mit Flirten fertig seid, könnt ihr mir dann vielleicht mal aufhelfen? Ich muss Gott jetzt zum Duell fordern, sonst lässt er Marron nie in Ruhe!"
Ein schier ohrenbetäubendes Lachen ertönte und es klang warm und war voller Zuneigung. Marron war sich ganz sicher, dass dieser neue Gott sie nicht enttäuschen würde. Du wirst dich wohl niemals ändern... Chiaki. Er schien zu akzeptieren, dass Adam und Eva nicht dieselben Personen wie Chiaki und Marron waren. Warte, ich helfe dir.
Chiaki keuchte kurz, als ein Kribbeln seinen gesamten Körper durchfuhr. Er fühlte, wie seine Verletzungen in Sekundenschnelle heilten, während Gottes Kraft seinen Körper durchfuhr. Probeweise setzte er sich auf und ballte die Fäuste. Dann klopfte er sich ab und nickte zufrieden. Keine Schmerzen. Als er allerdings aufstehen wollte, wurde er von einem jauchzenden Etwas angefallen, welches ihn stürmisch umarmte und zu Boden zurückriss.
„Chiaki!" Marron drückte ihren Mann so fest, dass er fast keine Luft mehr bekam, aber sie konnte nicht anders. Ihr war, als könnte sie die gesamte Welt umarmen. „Mein Chiaki! Du bist wieder gesund! Ich hatte solche Angst um dich!"
„Marron", japste ihr Mann, der nicht wusste, ob er über diese Umarmung glücklich oder unglücklich sein sollte. „Wenn du mich nicht loslässt, sterbe ich dir noch unter den Händen weg!" Als Marron den Griff daraufhin lockerte – aber nur ein bisschen! – atmete er befreit auf und schloss seine Frau ebenfalls in die Arme. Sanft drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn und genoss ihr glückliches Kichern. „Ich bedeute dir also doch noch etwas", neckte er sie. „Ich dachte schon, du hättest mich über diesen ganzen okkulten Typen völlig vergessen."
Marron fuhr ihm durchs Haar, schmiegte sich an ihn und gab ihm einen langen, fordernden Kuss, den er sofort erwiderte. Es störte ihn nicht, dass die Leute dabei zusahen. Er hatte solche Angst um sie beide gehabt, dass er beschloss, Marron nicht wieder loszulassen, wenn sie sich nicht selber löste. Zu seiner Enttäuschung tat sie das aber – schon 2 Minuten später, als sie Zen hörten, der Gott gerade etwas fragte. Schuldgefühle überwältigten ihn, als er Seijuro, Yumemi und den Engel sah, die gerade versuchten, Natsuki zu trösten. Wie hatte er seine Tochter nur vergessen können!
„Gott, kannst du denn nichts tun?", wollte der Engel wissen. „Kannst du Shinji nicht dieses eine Mal das Leben sofort zurückgeben? Natsuki und er haben so sehr gelitten... es erscheint mir nicht gerecht, dass sie nun auf ihr nächstes Leben warten muss, um ihn wiederzusehen!"
Du willst wissen, warum ich ihn nicht geheilt habe? fragte der neue Gott. Sieh doch selbst. Er hat meine Hilfe nicht mehr nötig.
Verwundert sahen alle zu dem Jungen hin, auch Natsuki, welche die Worte gehört hatte und sich langsam von Shinji löste. Ihre Augen waren voll von Unglauben, als sie sah, dass die schwere Verwundung, die jeden Menschen hätte töten müssen, verschwunden war.
„Aber...", stotterte sie, unfähig, irgendetwas zu tun. „Wieso?... Wie ist das nur...?"
Hast du es denn nicht gemerkt, Natsuki?, fragte Gott sanft und die Kugel erstrahlte, als würde sie lachen. Die Kraft, mit der du das Böse aus deinem Körper vertrieben hast, ist weg. Die Kraft der Wiedergeburt. Du hast sie mit deinen Tränen weitergegeben.
Auf den Gesichtern um ihn wuchs die Hoffnung ins Unermessliche. „Heißt das...?", fragte Chiaki leise, aber er verstummte sofort, als er jemanden stöhnen hörte. Natsukis Freudentränen bestätigten seinen Verdacht. Es war Shinji.
„Shinji!", schrie das Mädchen außer sich vor Freude und riss den Körper des Jungen vom Boden hoch, direkt an ihre Brust. „Shinji! Du lebst! Du lebst noch!" Nach diesen Worten fing sie haltlos an zu lachen, während sie gleichzeitig Tränen vergoss. Shinji, der in diesem Moment langsam wieder zu Bewusstsein kam, war anscheinend gar nicht klar, dass er endlich am Ziel seiner Wünsche angekommen war, denn er glotzte nur blöde umher. Chiaki musste sich sehr beherrschen, um nicht laut herauszulachen.
„Geh zu ihnen, Marron", sagte er zu seiner Frau und stupste sie an. „Ich weiß doch, dass du sie beide umarmen willst, bis sie blau anlaufen."
Marrons Gesicht strahlte, als sie es ihm zuwandte. Sie schien so glücklich über das neue alte Liebespaar zu sein, dass sie seine Worte anscheinend fast nicht verstanden hätte. Die Rührung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Und du? Shinji ist schließlich auch dein Freund und Natsuki deine Tochter."
„Ich komme gleich nach", versprach er. Er grinste. „Und dann werde ich euch alle zusammen erdrücken! Aber vorher muss ich noch was erledigen."
Er genoss noch einige Sekunden lang das Bild, welches sich ihm bot, als Seijuro und Yumemi, die sich an Natsukis und Shinjis Hals geworfen hatten, noch einmal von Marron umarmt wurden. Das Lachen war scheinbar allgegenwärtig, die Tränen der Rührung ebenfalls. Sogar Zen, der höflich abseits stand, wischte sich verstohlen die Augen. Dann wandte Sindbad der Dieb sich um und ging auf die Person zu, die beinahe alle vergessen hatten und die die glücklichen Menschen melancholisch betrachtete.
„Na, Noyn", meinte er, während er sich niederließ. „Wie geht's jetzt mit dir weiter?"
„Was soll schon passieren?", fragte der Dämonenritter ruppig. Allerdings merkte Chiaki, dass ihm der Schweiß in Strömen herunterrann und das Atmen schien ihm ebenfalls schwer zu fallen. „Der Dämon in mir... kann ohne das Böse nicht existieren... Darum werde ich sterben... Jetzt hast du Jeanne endgültig für dich allein."
„Kann Gott dich nicht heilen?" Sindbad fragte sich verwundert, wieso er sich Sorgen um seinen ehemaligen Rivalen machte. Vielleicht, weil an einem solchen Tag niemand leiden sollte.
„Das würde... nichts nützen." Noyn wurde vor seinen Augen immer schwächer. Nur noch der Wille, Marrons Glück zu genießen, hielt ihn aufrecht. „Der Dämon ist tot... Also wird mein Körper die Jahre zurückfordern... die ich ihm gestohlen habe. Ich werde... immer älter, bis ich sterbe. Dagegen... kann nicht einmal Gott etwas tun, denn... er braucht seine Kraft, um seinen... Schmerz zu kontrollieren." Er hustete Blut. Chiaki sah ein, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Er konnte dem Dämonenritter nicht mehr helfen.
„Kann ich noch etwas für dich tun?", fragte er dennoch. „Oder für Silk?"
Noyn lachte leise und sah zu seinem Drachen hin, der in Ohnmacht gefallen war. Sein Blick war beinahe liebevoll. „Nein. Silk wird... zusammen mit mir sterben... Schade um ihn... Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich..." Noyn drehte Chiaki noch einmal sein Gesicht zu. Jetzt wirkte es sehr ernst. „Sindbad... bitte versprich mir... dass du und Marron von nun an glücklich sein werdet."
Chiaki nickte. „Das verspreche ich. Und sie wird dich nicht vergessen, Noyn. Du weißt das."
Bevor Noyn eine Antwort geben konnte, runzelte Chiaki plötzlich die Stirn und drehte den Kopf. Ihm war, als hätte er eine bekannte Stimme gehört, die nach Shinji schrie, aber das war doch... Er riss erstaunt die Augen auf, als er tatsächlich Miyako sah, die nacheinander Marron, Seijuro und Yumemi zur Seite drängte und ihren Sohn stürmisch umarmte. Dieser war ebenfalls völlig perplex und wusste nicht recht, ob er Natsuki jetzt loslassen sollte oder nicht. Die beiden Frauen schienen aber zufrieden damit zu sein, ihn zu teilen... zumindest jetzt noch. Auch Yamato war inzwischen bei dem Menschenknäuel angekommen, aber er begnügte sich damit, Shinji mit leuchtenden Augen auf die Schultern zu klopfen. Aber wo waren die beiden hergekommen?
Er wusste nicht, ob es eine Vorahnung war, aber er drehte sich langsam wieder um. Im selben Moment begann Noyn zu husten, als er erschreckt hatte einatmen wollen. Und tatsächlich. Neben ihnen war ein Engel gelandet, der Noyn musterte. Er kannte diesen Engel.
„Rill-sama! Was machst du denn hier?"
„Einen Schwur einlösen, Sindbad", entgegnete der Erzengel, ohne seinen Blick von Noyn zu nehmen. „Den Schwur, meinen Anführer nicht im Stich zu lassen. Erinnerst du dich noch daran, Noyn Claude?"
Jetzt erst schien der Dämonenritter den Engel wirklich zu erkennen und er riss die Augen auf. „René?", hauchte er völlig fassungslos. „Bist du das... wirklich? Wie ist das... möglich?"
„René?" Chiaki runzelte fragend die Stirn. „Das ist doch ein französischer Name, oder?"
„Richtig", stimmte Rill zu, als er neben dem Dämonenritter niederkniete und ihn aufmunternd anlächelte. „Ich war einer der Männer, der im Krieg zwischen Frankreich und England unter Noyn Claudes Kommando kämpfte. Ich war auch einer der wenigen, die wussten, dass er und Jeanne d'Arc ineinander verliebt waren. Und ich war ebenso dabei, als Noyn versuchen wollte, Jeanne vor dem Scheiterhaufen zu retten und einem Dämonenritter in die Hände lief." Er legte den Kopf schief und öffnete die Augen. „Allerdings erfuhr ich erst nach meinem Tod von Gott, was damals wirklich mit dir passiert ist, Noyn."
„René", wiederholte Noyn murmelnd, der offenbar nichts von dieser Erklärung verstanden hatte. Er war noch immer viel zu fassungslos. „Wieso... bist du jetzt hier?"
„Weil ich dich retten will, Noyn", erwiderte der Erzengel sanft. „Jahrhundertelang habe ich meine Energie gesammelt, ohne einmal wiedergeboren zu werden, weil ich wusste, dass ich sie irgendwann brauchen würde. Jetzt ist es soweit." Er hob die Hände.
„Nein!", rief Noyn plötzlich, als er verstand, was Rill damit meinte. „Nein", wiederholte er etwas leiser, nachdem er wieder fertiggehustet hatte. „Das würde... nichts bringen, René. Du kannst mich nicht retten. Keiner kann das. Ich... werde sterben, so oder so."
„Aber ich besitze sehr viel Energie, Noyn", widersprach Rill, aber diesmal war ein Hauch von Zweifel in seiner Stimme. „Wenn du nur am Leben bleiben willst, können wir es schaffen."
„Nein." Noyn drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. „Es ist nicht möglich. Du kannst... mich nicht retten, René. Spar dir deine Kraft."
„Vergiss es!", brauste Rill auf. Chiaki hatte den Erzengel erst einmal so wütend gesehen und das war damals gewesen, als er Gott angeschnauzt hatte. „Ich werde dich nicht hier sterben lassen, nachdem ich so lange auf diesen Moment gewartet habe!"
„Und ich... werde nicht zulassen, dass du deine Energie verschwendest." Auch Noyns Stimme klang fest, obwohl sie immer schwächer wurde. Einen Moment lang hielt er stur seine Augen geschlossen, aber dann schien ihm eine Idee zu kommen. Er sah Rill nachdenklich an. „Aber du könntest... mir einen letzten Wunsch erfüllen... mein Freund."
„Heraus damit!"
Noyn ließ den Kopf sinken und musterte Silk, der noch immer bewusstlos neben ihm lang, leidend, aber unfähig zu sterben, solange Noyn lebte. Eine einzelne Träne erschien in seinen Augen. Offenbar kam nun wieder der Mensch in ihm zum Vorschein, nachdem der Dämon gestorben war.
„Gib deine Energie nicht mir", verlangte Noyn mit fester Stimme. „Gib sie Silk. Ich habe... ihn immer schlecht behandelt... und er verdient es nicht, wegen mir zu sterben. Mit deiner Kraft... kann er als Mensch wiedergeboren werden. Das soll... mein Versöhnungsgeschenk an ihn sein." Noyns Kopf fiel zum Boden zurück, als sei seine Kraft erschöpft.
„Bist du dir sicher?", fragte Rill nach, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seinem Freund zu helfen oder seinen letzten Willen zu respektieren. „Dann wirst du vergehen!"
„Tu es", antwortete Chiaki, der sah, dass Noyn seine letzten Kräfte dafür schonte, am Leben zu bleiben. „Schnell! Er stirbt so oder so, aber Silk kann vielleicht gerettet werden. Mach schon! Er hat dir einen letzten Befehl gegeben, René! Gehorche!" Er wusste es nicht genau, aber er glaubte, dass Noyn ihm zugelächelt hatte.
Rill zögerte noch eine Sekunde, aber dann legte er dem kleinen Drachen seine Hände auf und schloss die Augen wieder. Licht begann um die beiden zu pulsieren, als der Erzengel seine Kraftreserven mobilisierte, um dem kleinen Geschöpf Leben einzuhauchen. Chiaki wendete die Augen ab, als das Licht ihn zu blenden begann. Bitte, dachte er. Lass ihn Erfolg haben.
Er machte die Augen erst wieder auf, als ein Zischen ertönte und das Licht auf einmal verschwand. Silks und Noyns Körper waren verschwunden und dort, wo Erzengel Rill gekniet hatte, schwebte nun ein völlig entkräfteter Schwarzengel. Chiaki hielt die Hand auf, damit er landen konnte.
„Danke", verkündete Rill schwach, während er sich auf die Handfläche sinken ließ.
„Hast du es geschafft?", fragte Chiaki sofort.
„Ja", bestätigte Rill nickend. Er wirkte völlig ausgepowert. „Silk wird wiedergeboren werden und Noyn... er hat nun seinen Frieden gefunden, denke ich. Hoffe ich."
„Ich glaube schon", meinte Chiaki und stand auf. „Komm, wir gehen jetzt zu den anderen hinüber. Ich muss dich jetzt deinem neuen Boss vorstellen. Außerdem will ich meiner Tochter endlich ihre versprochene Tracht Prügel verpassen."
Als er das ungläubige Gesicht des Schwarzengels sah, musste Sindbad der Dieb lachen. Das Lachen vermischte sich mit dem der anderen, die sich noch immer umarmten und gleichzeitig mit Neuigkeiten überhäuften. Für einen Moment schien es Chiaki, als empfände sogar dieser Wald selbst Freude darüber, dass er endlich vom Bösen befreit war. Er sah nun wahrhaftig das Paradies. Dann jedoch setzte er sich in Bewegung und tauschte es ohne zu zögern in eine Umarmung seiner Liebsten ein. Jetzt war die Welt wieder in Ordnung.
„Alles Gute, ihr beiden!", verkündete Yamato überschwänglich und prostete Chiaki und Marron zu. Der Mann hatte eindeutig schon einige Drinks zu viele intus, denn er schwankte bereits bedenklich, aber seine Frau hielt ihn geduldig fest. „Macht nur weiter so, dann habt ihr Miyako und mich bald abgehängt!"
Miyako, die etwas rot geworden war, knuffte ihn an. „Halt die Klappe, Yamato!", schimpfte sie. „Du machst uns vor allen Leuten hier lächerlich!"
Ihr Mann grinste sie selig an. Er war froh, dass er betrunken war, denn nüchtern hätte er sich niemals getraut, so zu reden. „Und das gefällt dir, stimmt's?", fragte er mit aufreizender Stimme. „Es gefällt dir, wenn du mich vor den Leuten niedermachen kannst, nicht wahr? Das turnt dich an, oder?"
Während die umstehenden Leute in heiteres Gelächter ausbrachen, gab die nun tomatenrote Miyako ihrem Mann einige auf den Kopf, was dieser mit geschauspielert wehleidigen Lauten abrundete. Marron genoss diese Stimmung. Es war zu lange her, dass sie alle vereint ein Fest gefeiert hatten.
„Gibt es da irgendetwas, das man über euer Intimleben wissen sollte, Miyako?", stichelte Chiaki grinsend. „Hört sich ziemlich schmerzhaft an, was Yamato da preisgegeben hat."
„Halt den Mund!", fuhr die streitlustige Frau ihn an und funkelte in die Runde, als wollte sie prüfen, ob noch jemand einen Kommentar abgeben wollte. „Das geht dich gar nichts an! Außerdem geht es hier nicht um mein, sondern um dein und Marrons Intimleben. Oder wieso sind wir sonst heute hier?"
Nun war es an Marron, etwas rot zu werden, während sie sanft über ihren Bauch strich, aber Chiaki legte ihr den Arm um die Schulter und grinste die Leute gewinnend an, was die Aufmerksamkeit von ihr ablenkte. Sie lehnte sich gegen ihn und genoss die entspannte Atmosphäre, während ihr Mann die Konversation mit den Gästen übernahm.
„Marron", wandte sich plötzlich jemand an sie. Sie machte die Augen auf und erblickte den glücksstrahlenden Kaiki, Chiakis Vater. Er hatte sein Gespräch mit Marrons Eltern abgebrochen und es Kagura und Yashiro überlassen, sie weiter zu unterhalten. Man sah ihm sein Alter zwar langsam an, aber die freudige Miene ließ ihn wieder jünger aussehen. „Wann wird es eigentlich soweit sein? Ich kann es kaum erwarten!"
Marron lachte fröhlich. „Da musst du noch etwas warten, Schwiegerpapa", antwortete sie bedauernd. „Ein halbes Jahr wird es schon noch dauern, bis du zweifacher Großvater wirst. Kommst du dir allmählich nicht alt vor?"
Kaiki zog einen Schmollmund, aber dann lachte er und gab seiner Schwiegertochter einen Kuss auf die Wange. „Ein bisschen spüre ich die Jahre schon", gab er zu. „Aber wenn mein Enkel erst wieder auf meinen Knien sitzt, werde ich wieder wie neu sein, glaub mir."
„Vater, versuchst du schon wieder, mir meine Frau auszuspannen?", mischte sich in diesem Moment Chiaki in ihr Gespräch. Er sah seinen Vater geschauspielert ärgerlich an. „Du alter Schwerenöter!"
„Gönn einem alten Mann doch seine kleinen Freuden, Chiaki", jammerte Kaiki hintergründig grinsend. „Außerdem habe ich herausgefunden, dass ich mich mit meinen Enkeln viel lieber beschäftige als mit Frauen. Sie machen weniger Probleme." Bevor die Damen in der Nähe empört etwas zum Besten geben konnte, hob er jedoch die Hände. „Das war nicht als Beleidigung gemeint, verehrte Frauen! Aber Natsuki ist in letzter Zeit so sehr über den Wolken, dass sie nicht einmal mehr darauf kommt, mir Streiche zu spielen. Das macht ihre Anwesenheit fast angenehm."
Als sich das Gelächter wieder gelegt hatte, blickte sich Marrons Mutter suchend um. „Wo steckt Natsuki eigentlich?" Sie und Marrons Vater waren richtiggehend vernarrt in ihre Enkeltochter, was auch auf Gegenseitigkeit beruhte, aber leider wohnten sie am anderen Ende der Stadt und konnten nicht so oft zu Besuch kommen, wie sie gerne wollten. Aber von dieser Feier, die Chiaki und Marron anlässlich von Marrons zweiter Schwangerschaft schmissen, hätten sie nicht einmal zehn Pferde weghalten können.
„Ich weiß nicht", gab Marron stirnrunzelnd zu. „War sie nicht vorhin mit Shinji zusammen?"
Chiaki seufzte. „Sag mir einen Zeitpunkt in den letzten drei Monaten, an dem die beiden NICHT zusammenwaren", versetzte er. „Vermutlich haben sie sich an ein stilles Plätzchen verzogen."
„Ich habe vorhin Seijuro und Yumemi bemerkt, die hinters Haus geschlichen sind", warf Kagura ein. „Ich schätze mal, sie sind den beiden nachgeschlichen." Er grinste unverhohlen. „Wir müssen was tun, Yashiro. Unsere Kinder werden zu Spannern."
Yashiro schnaubte amüsiert, während die anderen grinsten. „Das müssen sie wohl von dir haben", bemerkte die resolute Frau schnippisch. „ICH habe dir früher jedenfalls nicht jahrelang hinterhergeschaut, ohne dich anzusprechen!"
Marron war erleichtert zu sehen, dass die beiden anscheinend akzeptiert hatten, dass ihre Kinder etwas Besonderes waren. Vermutlich hatte es lange gedauert, bis Seijuro und Yumemi ihnen alles erklärt hatten, aber es sah so aus, als herrsche nun wieder bestes Einverständnis zwischen ihnen.
„Lasst sie doch", empfahl Marrons Vater lächelnd. „Wahrscheinlich wollen sie sich nur gewisse Grundkenntnisse von Natsuki und Shinji aneignen. Vielleicht haben sie ja selbst bald Verwendung dafür."
Das führte zu einer hitzigen Debatte zwischen Kagura, Yashiro und Marrons Eltern, an der sich auch Kaiki lauthals beteiligte. In der Zwischenzeit war Miyako jedoch an Marrons Seite getreten. Yamato hatte sie irgendwo auf einem Stuhl platziert.
„Marron", flüsterte sie ihrer Freundin verschwörerisch zu. „Habt ihr euch schon einen Namen für das Kind ausgesucht?"
Marron streichelte zärtlich ihren Bauch und sah auf ihn hinunter. Sie lächelte glücksselig. „Ja", sagte sie leise. „Er wird Hijiri heißen."
„Hijiri?" Miyako zog die Augenbraue hoch. „Wie unser alter Sensei? Ich dachte, du mochtest ihn nicht sonderlich?"
„Ich habe eben nachträglich bemerkt, dass er auch seine guten Seiten hatte", entgegnete Marron, still in sich hineinlächelnd.
„Und was, wenn es ein Mädchen wird?"
„Es wird ein Junge werden, Miyako", bekräftigte nun Chiaki. „Ganz sicher."
Marron lächelte Chiaki an und umarmte ihn. Chiaki blinzelte Miyako zu, die sich murrend wieder zu Yamato gesellte, der anscheinend versuchte, bei einem Gespräch mit Kaiki nicht den Anschluss zu verlieren. Dann legte er sein Kinn auf Marrons Kopf und zog sie an sich. Ja, es würde ein Junge werden. Ganz bestimmt. Aber hoffentlich hatte Rill daran gedacht, das Horn auf der Stirn zu entfernen.
Shinji hätte niemals geglaubt, dass er diese sonderbare Ruhe empfinden würde, wenn er mit Natsuki zusammen war. Als er sie noch von weitem beobachtet hatte, war er immer aufgeregt gewesen, nervös und mit einer Horde tollwütiger Schmetterlinge im Bauch. Jetzt fühlte er nichts davon. Er genoss einfach das Gefühl von Natsukis Kopf an seiner Brust, ihren Haaren, die sein Gesicht kitzelten und ihren Händen, die seinen Rücken umschlossen. Er war glücklich. Niemand auf der Welt konnte glücklicher sein als er.
„Shinji?"
„Ja?"
„Glaubst du, Seijuro und Yumemi beobachten uns wieder?"
Shinji lächelte. Vor zwei Monaten noch war er ausgeflippt, als er herausgefunden hatte, dass ihre Freunde sie bespitzelten. Vor einem Monat hatte er sie immer wieder gebeten, es bleiben zu lassen. Jetzt war es ihm im Grunde egal. Die beiden wussten, was Natsuki und er füreinander empfanden und das war ihre Art, an ihrer Freude teilzuhaben. Shinji hoffte, dass es für Seijuro nicht allzu schwer war, aber er glaubte, dass der Junge langsam über seine Gefühle hinwegsehen konnte.
„Ja, ich glaube, das tun sie", bestätigte er. „Sollen wir ihnen sagen, dass wir sie bemerkt haben?"
„Warum sich die Mühe machen?" Natsuki schnaubte und sah Shinji belustigt an. „Sie werden ja doch nach ein paar Minuten wiederkommen, oder?"
„Vermutlich", räumte Shinji ein und fuhr seiner Geliebten durchs Haar. Manchmal schien es ihm immer noch wie ein Traum, dass er hier saß und sie in seinen Armen lag. Er fragte sich tatsächlich oft, ob er nicht nach Kriegs Hieb gestorben war und Gott ihn in alle Ewigkeit diesen Traum träumen ließ.
„Ich weiß, was du denkst, Shinji", weckte ihn Natsuki aus seinen Tagträumen und berührte mit ihrer Hand seine Wange. Er seufzte leise. „Du versuchst gerade wieder herauszufinden, ob du im Paradies bist, nicht?"
„Ich bin mir nicht ganz sicher, ja", gestand er lächelnd. Er wusste genau, was jetzt kommen würde. Und er wartete schon darauf.
„Tja, was können wir dagegen machen?" Natsuki tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. Dann schnippte sie mit den Fingern und grinste ihn spitzbübisch an. „Natürlich! Jetzt weiß ich's!", rief sie und legte ihre Arme um seine Schultern. Sanft berührte sie mit ihrer Nase die seine, während Shinji gemäß den Regeln dieses Spiels seine Arme um ihren Rücken legte. „Schlafende weckt man durch einen Kuss."
Sie hatten sich schon so oft geküsst, seit Gott und seine Nemesis wieder verschmolzen waren. Vor Publikum und ganz allein. Bei Tag und bei Nacht. Zärtlich und fordernd. Lang und spielerisch kurz. Aber Shinji genoss jeden Kuss, als wäre es ihr erster und er wusste, dass das bei Natsuki nicht anders war. 15 Jahre lang hatte er darauf warten müssen, aber das war es wert. Jedes einzelne Mal. Aber manchmal fehlte ihm beinahe die fauchende, jähzornige Fynn, die ihn unbedingt verprügeln wollte. Er grinste hinterhältig.
„Sag mal, Natsuki... legst du die Ohrringe nachts eigentlich immer ab?"
Natsuki runzelte die Stirn. „Sicher. Nachts würden sie stören. Warum?"
„In die Schmuckschachtel in deinem Schreibtisch, nicht wahr?"
„Woher weißt du das?" Ihre Augen wurden erst groß, dann zogen sie sich gefährlich zusammen. „Du hast doch nicht etwa...?"
„Doch." Shinji grinste, obwohl er wusste, was ihn erwartete. „Ich habe zugesehen, wie du sie abgenommen hast. Zusammen mit allem anderen."
Das Mädchen wurde puterrot. Einen Moment später allerdings fletschte sie schon die Zähne und hob die Hände. Shinji konnte einen Schlag gerade noch abwehren, als auch schon der nächste seinen Kopf traf. Er grinste immer noch, obwohl Natsuki mit aller Kraft zuschlug. Das hatte ihm gefehlt, ja. Er musste völlig wahnsinnig sein.
„Du Mistkerl!", rief sie. „Spanner! Hast du denn überhaupt keinen Anstand? Wie konntest du das nur wagen...?"
Einige Male ließ er sie zuschlagen, bevor er lachend um Gnade bat und zugab, dass er lediglich in Natsukis Zimmer gewesen und die Schmuckschachtel gesehen hatte. Das Mädchen war immer noch wütend und misstrauisch, aber Shinji hielt sie sanft fest und schwor ihr hoch und heilig, dass er sie viel zu sehr liebte, um ihr nicht auch ihre Privatsphäre zu lassen. Wieder wurde Natsuki rot, diesmal allerdings senkte sie den Kopf und schämte sich, weil sie ihm misstraut hatte. Sanft zog er sie an sich heran und strich ihr das Haar zurück. Dann flüsterten sie eine Weile nur noch, denn ALLES mussten Seijuro und Yumemi nun auch nicht erfahren. Zusammen genossen sie den Schatten, den der mächtige Baum im Vorgarten des Hauses spendete, während die Erwachsenen auf der anderen Seite tratschten, vermutlich über sie. Wenn es nach ihnen ging, hätte man sie auch vergessen können. Sie wussten, dass in diesem Moment auch Gott nicht glücklicher sein konnte als sie.
Die Party war natürlich wieder viel zu schnell vorüber und Shinji musste mit seinen Eltern wieder heim. Aber das machte nichts, sagten Natsukis Augen, als sie sich voneinander verabschiedeten. Denn sie hatten noch viel Zeit. Ein ganzes Leben. Und danach... wer wusste das schon?
Ende