Kapitel 4
Als Tio am nächsten Morgen erwachte, vernahm sie von außerhalb des Zeltes Trommelwirbel. Neben sich erblickte sie einen der Soldaten, die sie beschützen wollten oder sollten, der mit dem Gesicht zum Ausgang des Zeltes stand. Sie setzte sich auf, was für einen Moment Kopfschmerzen bei ihr verursachte. Vorsichtig tastete Tio nach dem Verband um ihren Kopf, dann sah sie wieder zu dem Soldaten.
"Wie geht es Oberst Mullen?", erkundigte sich das Mädchen leise bei ihm.
Der Angesprochene drehte
sich zu Tio um. „Schön, das du wach bist. - Der Oberst ist
draußen bei den Truppen und leitet die Trauerfeier für
unsere Gefallenen. Möchtest du zusehen?"
Da Tio nickte half
ihr der Soldat beim Aufstehen. Gemeinsam standen sie einen Moment
später vor dem Zelt. Tio erblickte die Garlyle Truppen, die in
mehreren Quadratischen Formationen aufgeteilt standen. Alle blickten
in die gleiche Richtung, offenbar zu einer aufgestellten Steintafel.
Neben der Tafel erkannte Tio Mullen. Er musste von einem seiner
Männer gestützt werden und war gerade dabei, einige Worte
an seine Truppen zu richten.
„Das Leben als Soldat birgt stets
Risiken. Niemand kann sagen, welche Aufgaben oder Schwierigkeiten
einem begegnen werden. Es gibt Zeiten des Friedens, in denen wir
einfachen Verpflichtungen nachgehen. Aber es gibt auch Tage, an denen
man gezwungen ist, um sein Überleben zu kämpfen. Ihr alle
hier habt euch dennoch den Garlyle Truppen angeschlossen. Jeder aus
eigenen Beweggründen und Zielen. Die einen hat vielleicht der
hohe Sold gereizt, die Anderen haben vielleicht nach einer
Herausforderung im Leben gesucht. Doch eines haben wir alle
gemeinsam: Wir wollen irgendwann zu den Menschen zurückkehren,
die wir Lieben. Leider hat sich dieser Wunsch nicht für alle
Erfüllt.
Wir haben gemeinsam in vielen Schlachten gekämpft.
Unsere Truppen sind daran gewachsen und zu einer starken Einheit
geworden. Doch immer wieder haben wir auch Kameraden verloren. Jedes
mal habe ich gehofft, das es das letzte Mal sein würde. Und
jedes mal wenn wir einen verlustreichen Sieg erreicht haben habe ich
mich gefragt, ob es das wert gewesen ist. Ich weis um den Schmerz,
den ihr fühlt, den auch ich fühle ihn. Und nicht nur wir,
sondern auch diejenigen, die auf die Heimkehr derer warten, die
ausgezogen sind um Soldat zu werden und ihr Leben im Einsatz verloren
haben. Es gibt nichts schlimmeres, als den Kummer der
Hinterbliebenen, die vergeblich auf die Rückkehr geliebter
Menschen warten. Das Leben ist das kostbarste Gut, das wir besitzen
und unsere Gefallenen Kameraden haben ihres bei der Erfüllung
ihrer Pflicht gegeben. Wir haben nicht erwartet, noch einmal kämpfen
zu müssen, doch das Schicksal hat uns vor eine letzte Aufgabe
gestellt. Die Familien der tapferen Soldaten, die bei dem Versuch
gestorben sind, sie und uns alle zu beschützen, werden Tränen
vergießen. Doch wenn wir nicht weiterkämpfen, werden noch
viel mehr Familien Tränen vergießen müssen.
Darum
wollen wir uns nun von den tapferen Männern verabschieden, die
ihr Leben viel zu früh verloren haben. Wir werden ihnen die
letzte Ehre erweisen."
Mullen zog sein Schwert und erhob es zum
Gruß.
„Hört mir zu, ihr mutigen Soldaten, die ihr von
uns gegangen seid: Wir werden was in unserer Macht steht tun, um die
Menschen zu beschützen. Euer Opfer wird nicht sinnlos gewesen
sein, wir werden euren Kampf fortführen. Diese beherzten Männer
hier vor mir mögen die Letzten sein, die die selbe Uniform
tragen, wie ihr es getan habt, doch ich weis, das ich mich auf jeden
einzelnen von ihnen verlassen kann. Wir werden kämpfen, damit
eure Familien und Freunde auch weiterhin in Frieden leben können.
Und damit niemand mehr vor der Zeit sterben muss, wie ihr.
GARLYLE SOLDATEN! ERWEIST IHNEN DIE LETZTE EHRE!"
Wie auf Knopfdruck schlugen alle Soldaten gleichzeitig die Hacken zusammen und Salutierten. Auch der Soldat neben Tio tat dies. So verharrten sie schweigend einen Moment. Von Irgendwo her vernahm Tio ein Abschiedslied, wie es auch immer auf Militärischen Beerdigungen gespielt wurde. Erst, als dieses zu Ende war, löste sich die Formation auf.
Währen der Rede hörte Tio ganz genau zu und beschloss, mit dem Soldaten, der sie stütze nach vorne zu Oberst Mullen zu gehen. Sie stellte sich direkt vor ihn und lächelte ihn leicht an, dann versuchte sie selbst zu salutieren.
"Es waren tapfere Männer..."
Mullen lächelte. "Ich danke dir für deine Anteilnahme."
"Jedes verlorene Leben ist bedauernswert", sagte Tio leise.
Plötzlich zuckte sie zusammen und drehte sich hastig um. Was war das für ein Geräusch gewesen? Ohne zu zögern lief sie darauf zu.
Mullen war verwirrt, über
das Verhalten von Tio. Gerade hatte er ihr eine Antwort geben wollen
und jetzt lief sie plötzlich weg? Und der Soldat Brayne mit
einem leisen Fluch hinterher. Aber offenbar schien sie wirklich keine
ernsten Verletzugen zu haben, da sie allein gehen konnte.
"Oberst
Mullen, sie sollten sich jetzt wieder hinlegen. Sie müssen sich
so schnell wie möglich erholen!"
"Warten wir auf
Tio. Ich bin sicher, das sie gleich zurückkommt, und ich muss
dringend mit ihr reden."
Brayne trat neben Tio, die
stehengeblieben war und zu grübeln schien.
"Was ist
los?", fragte er nur. Er hatte sich bereits daran gewöhnt,
das sein Schützling oft ohne erkennbaren Grund davonlief.
Tio
schwieg eine Weile. Sie war sich sicher gewesen, das dieses
merkwürdige Geräusch von hier gekommen war. Doch hier war
nichts. Hatte sie sich das eingebildet? Schließlich drehte sie
sich zu dem Soldaten um und lächelte leicht.
"Es ist nichts."
Tio machte sich langsam wieder auf den Weg zurück zum Oberst und ließ einen verwunderten Brayne zurück. Als sie schließlich wieder vor Mullen stand, hielt sie den Kopf gesenkt und sagte kein Wort.
Mullen wiederum sah Tio
direkt an, während er mit ihr sprach.
"Es freut mich zu
sehen, das dir nichts wirklich ernsthaftes passiert ist, Tio. Und...
wir beide sollten jetzt einmal in Ruhe miteinander reden. Ich glaube,
das ist dringend erforderlich, und für uns beide
wichtig."
"Sir?", unterbrach der Hauptmann, der
Mullen schon die ganze Zeit über stützte. "Sie sollten
sich für die Besprechung in ihr Zelt zurückziehen, und
-wenn sie sich schon nicht hinlegen wollen- zumindest setzen."
"Ich
denke, das ich duchaus..." "Nein, Sir! Sie haben mir
gestern gesagt, das sie meinem Urteil vertrauen, und das ich
außerhalb ihres Zeltes derzeit den Befehl führe. Daher
bitte ich sie noch einmal: Schonen sie sich!" Das klang wirklich
fast nach einem Befehl, doch Mullen musste lachen.
"Gut, sie
haben recht. Wenn ich von meinen Mänern verlange, das sie sich
bei einer Verletzung schonen sollen, dann sollte ich selbst auch mit
gutem Beispiel vorrangehen.
Dann werden wir unser Gespräch
eben dort führen, Tio." Damit begab sich die kleine Gruppe
von vier Personen zu besagtem Zelt. Nachdem sich Mullen gehorsam auf
einem Stuhl niedergelassen, und Tio sich auf die Bettkante gesetzt
hatte, schickte Mullen die Anderen jedoch wieder hinaus. Der Soldat
bezog vor dem Eingang Stellung, um zumindest in Rufweite seiner
Schutzbefohlenen zu sein.
Tio warf Mullen einen zögerlichen Blick zu. "Um was geht es denn? Ist es wegen Gaia?"
"Ja, um Gaia",
bestätigte Mullen "Aber nicht nur. Ich weis, das wir
vermutlich nicht mehr viel Zeit haben, daher werde ich gleich zur
Sache kommen.
Zuerst möchte ich von dir gerne erfahren, woher
du von dem Ganzen weist. Das ist nicht unbedingt etwas, was man
nebenbei beim Einkaufen erfährt. Ich möchte dir gerne
vertrauen, Tio, aber du bist für mich fast wie ein Buch mit
sieben Siegeln. Dein Verhalten ist so wiedersprüchlich.
Als
wir uns das erste mal gesehen haben, hast du auf mich einen, nun
nicht ängstlichen, aber doch zögernden Eindruck gemacht.
Später dann hast du mich vor meiner Versammelten Truppe
zugrechtgewiesen, mit einer Entschlossenheit, die ich den Wenigsten
zutraue. Und du hast gleichzeitig so besorgt um die Leben der
Menschen geklungen. Dann, im Kontrollraum, hast du ohne
Schwierigkeiten Zugriff auf unser System elangt und die
Selbstzerstörung auslösen können. Ich nehme an, das es
etwas mit Gaia zu tun hat. Wobei ich auch hier über eine
genauere Erklärung von dir dankbar wäre, warum du es getan
hast. Du hast mir erzählt, das du einen Teil deiner Erinnerungen
verloren hast, und nicht weist, wie und wo du bist, geschweige denn,
wie du überhaupt hier her gelangen konntest. Da ist es
eigenartig, das du so genau bescheid weist, wie unsere Anlage
funktioniert. Auch von meinen Leuten kannten nur wenige den Zugriff
auf die gesicherten Daten. Außerdem hast du mit dem Auslösen
viele Menschen in Gefahr gebracht, was wieder nicht zu deinem
bisherigen Verhalten passt.
Du musst zugeben, dass das Ganze
ziemlich verdächtig ist. Woher wusstest du über alles so
genau bescheid?
Dann ist da noch die Sache mit dieser Unbekannten
Gruppe, die angeblich hinter dir her ist, und die Sache mit der Neu
Parm Basis.
Ich habe dir meine Hilfe angeboten, weil ich einen
zusammenhang zu etwas gesehen habe, was mir vor wenigen Tagen von
einer mir wichtigen Person erzählt wurde, aber das sagte ich dir
ja bereits. Aber ich werde aus dir und deinem Handeln nicht schlau.
Du musst mir genau sagen, was du weist, und mir reihnen Wein
einschenken, sonst kommen wir nicht weiter. Wenn Baal wirklich noch
am Leben ist, und jemand die Wiederauferstehung von Gaia vorbereitet,
müssen ALLE zusammenarbeiten. Ich weis, das Baal es uns nicht
leicht machen wird, aber noch können wir ihn aufhalten."
"Ich bin kein normaler Mensch, wie ihr anderen alle...desshalb muss ich mich bei ihnen entschuldigen, das ich so viele Schwierigkeiten gemacht habe. Ich weis, das etwas nicht mit mir stimmt. Und mit meinen Erinnerungen. Ich kann mich bis zu einem gewissen Zeitpunkt an alles erinnern, aber an die Vorfälle mit Gaia, und wie ich hier her gelangt bin nicht. Das heißt, irgendwie weis ich es schon, aber es fühlt sich so an, als wären das nicht meine eigenen Erinnerungen, sondern vielmehr ein Wissen, das ich habe, ohne das ich sagen kann wieso. Und irgendwas ist da in mir, das mich daran hindert, das zu erzählen was ich noch weis. Es ist..." Tio suchte einen Augenblick nach Worten.
"Es ist, als wenn es da eine Sperre in mir gibt. Ich kann sehen, was auf der Anderen Seite ist, aber ich kann nicht hinüber."
Mullen brauchte einen
Augenblick, um über Tios Aussage nachzudenken. Kein 'normaler'
Mensch? Wie war das gemeint? War sie wie Leen und ihre
Zwillingsschwester Feena etwas besonderes? Und der zweite Teil
dessen, was sie gesagt hatte, verwirrte ihn ebenso. Er konnte sich
keinen Grund vorstellen, warum man nicht über gewisse Dinge
reden konnte. Nicht WOLLEN, ja. Aber nicht können? Auch ohne
seine langjährige Erfahrung hätte er sagen könenn, das
dieses Mädchen mehr als verdächtig war, das man ihr nicht
vertrauen sollte. Aber seltsamer weise war es genau das, was er tat:
er war sicher, das Tio die Wahrheit sagen würde. Die ganze
Situation war einfaeh nur konfus, entzog sich seinem Verständniss,
aber etwas sagte ihm, das Tio ihm gerade die Warheit gesagt hatte.
Erst als er ihren unsicheren Blick auf sich fühlte, erinnerte er
sich daran, das er in keinster Weise auf ihre letzte Aussage
geantwortet hatte.
"Ich bin mir nicht sicher, was du damit
meinst, kein 'normaler' Mensch zu sein, aber das macht dich und dein
Leben nicht weniger wertvoll", begann er daher. "Ich
glaube, das du die Wahrheit sagtst, und das ist das Wichtigste. Du
weist mehr über die Aktuelle Lage als wir, und daher sind wir
auf dich Angewiesen. Was immer du erzählen kannst, sag es, denn
jede noch so kleine Information kann entscheidend sein. Daher bitte
ich dich in aller Form, uns zu unterstützen."
Tio öffnete den und, wollte etwas sagen, aber dann schloss sie ihn gleich wieder, blickte Mullen einen Moment lang in die Augen. Schließlich nickte sie leicht. "In Ordnung, ich werde helfen."
Mullen lächelte etwas, und wartete darauf, das Tio erzählen würde, was sie wusste. Das Mädchen legte den Kopf schief, und schien zu überlegen. Geduldig wartete der Oberst ab. Er wollte sie nicht drängen. Wenn sie wirklich, wie sie sagte, etwas daran hinderte, über gewisse Dinge zu sprechen, wäre es betimmt nicht hilfreich, sie unter Druck zu setzen.
"Darf ich...einen Moment...?" Tio blickte zum Ausgang des Zeltes. Sie brauchte einen Augenblick frische Luft; irgendwie war ihr beklommen zumute. So ähnlich hatte sie sich gefühlt, kurz bevor sie die Komando Zentrale betreten hatte. Bekolommen und...Fremd. Mullen war überrascht über die unerwartete Bitte. Aber gut, Tio war ein Zivilist; da konnte es durchaus sein, das sie sich in so einer Situation unwohl fühlte. Er konnte das nicht genau einschätzen. Und er wollte sie ja nicht zwingen, etwas zu sagen. Sie sollte von sich aus sprechen; schon damit sie wirklich alles sagen konnte, was sie wusste.
"Geh nur. Aber wie du selbst sagtest: Wir haben nicht viel Zeit übrig..."
"Ich...es dauert bestimmt nicht lange..." Tio stand auf, verließ das Zelt. Brayan, der nach wie vor außerhalb des Zeltes Wache hielt, machte einen halben Schritt hinein und warf einen fragenden Blick zu seinem Befehlshaber. Als dieser nickte, folgte er Tio.
Diese stand am Rand des Lagers; blickte zu einigen Baumwipfeln empor. Der Wind streifte sie sacht und sie entspannte sich. Das fremde Gefühl in ihr löste sich. Als sie ihren 'Schatten' hinter sich bemerkte, seufzte sie ein wenig.
"Lassen sie mich bitte einen Moment allein."
"Ich darf es nicht.. Es tut mir leid M´am" sagte der, machte aber ein paar Schritte zurück. Tio nahm es dankbar zur Kenntniss, schloss die Augen.
Genau das tat auch der
Oberst in diesem Moment: er schloss die Augen. Einmal mehr wünschte
sich Mullen, das Leen endlich zurückkehren würde. In dieser
Situation hätte er ihren Rat und ihren Beistand wirklich
gebraucht. Und langsam machte er sich sorgen, warum sie mit ihrer
Truppe noch nicht zurückgekehrt wahr.
Und er selbst...im
Moment wusste er nicht, was er hätte tun können. Er wusste
nicht, wo der Feind war, er wusste nicht, wie viele Gegner sie
hatten. Er wusste nicht, wie Tio hier her gelangen konnte. Er wusste
nicht, was in der Neu Parm Basis geschehen war, und er wusste nicht,
warum dieser schwere Fehler mit dem Selbstzerszörungsmechanismuss
aufgetreten war. Wunderbar. Er hatte also absolut keine Ahung!
"Was
bin ich doch für ein grandioser Truppenführer!",
meinte er sarkastisch. Im Moment war er keine große Hilfe, im
Gegenteil: ER war es, dem geholfen werden musste.
Und im Moment
konnte er nichts weiter tun, als darauf zu warten, das Tio ihm eine
Information gab, nach der er die Anweisungen für seine Leute
richten konnte. Um alles weitere kümmerte sich der Hauptmann,
bis er selbst wieder genesen war. Noch nie hatte Mullen sich so
nutzlos gefühlt, es war zum verzweifeln!