Salazar verbrachte den ganzen folgenden Tag im Bett, stets unter dem besorgen Blick von Pater Timothy.
Timothy selbst war völlig übermüdet, doch er wollte Salazar keine Sekunde aus den Augen lassen. Die nächtlichen Ereignisse nagten an der jungen Seele, mehrmals war Salazar schreiend aus dem Schlaf aufgeschreckt und jedes Mal hatte Timothy ihn in die Arme gezogen, um ihm beruhigend über den Rücken zu streichen.
Mittlerweile schlief der Junge schon fast eine Stunde durch. Der Geistliche erlaubte sich ein leises, frustriertes Seufzen.
Vor ihm lag eine heimatlose Waise und Timothy konnte nichts für ihn tun, außer für ihn da zu sein. Doch war das genug?
Immer wieder spielte er in Gedanken den vergangenen Tag durch, jede verdammte Sekunde darauf bedacht herauszufinden, ob er eine Chance gehabt hätte, Salazars Eltern zu retten.
Doch das Ergebnis war immer gleichsam frustrierend: Vermutlich hätten sich die Dörfler nicht aufhalten lassen.
Timothy glaubte sogar, dass eine regelrechte Verschwörung gegen die Familie stattgefunden hatte, schließlich wusste jeder, dass Ophiuchus und Viviane den Dorfmarkt stets am ersten Samstag des Monats besuchten.
Dennoch, der Zweifel ließ sich nicht aus Timothys Gedanken verscheuchen, obwohl er wusste, dass er nichts hätte unternehmen können.
Was wäre passiert, hätte er sich zwischen die Dorfbewohner und die Slytherins gestellt?
Hätten sie ihn genauso kaltblütig ermordet, wie die beiden Magier?
Unwillkürlich erschauderte Timothy. Zwar war es unwahrscheinlich, schließlich war er ein angesehenes Mitglied des Kollegialstifts, doch konnte er völlig ausschließen, dass die Bauern, rasend vor Zorn, Freund und Feind noch unterscheiden konnten?

Ein kurzer Blick auf Salazar sagte Timothy, dass der Junge scheinbar traumlos und ruhig schlief.
Timothy stand leise auf, hantierte an dem provisorischen Vorhang - seinem Schlafgewandt - herum, bis auch der letzte Sonnenstrahl aus dem Zimmer verbannt war und schlich zur Tür der kleinen Zelle.

Im Kreuzgang begegnete Timothy keinem seiner Brüder. Ein rascher Seitenblick aus einem der hohen Gewölbefenster reichte: Es war kurz vor Sonnenuntergang. Seine Brüder würden bei der Vesper sein, was ihm Zeit genug gab um das Kloster ungesehen zu verlassen. Natürlich war es ebenso seine Pflicht die abendliche Liturgie auszuüben, doch Timothy hatte heute ein anderes Ziel vor Augen.

Weder Hector, noch sein Herrchen Barrow, bemerkten wie Timothy die Stufen hinab in Richtung des Dorfes eilte und kurz vor dem Dorfrand die Richtung wechselte, hinein in den dichten Wald.

Timothy wollte nicht, dass einer der Dörfler ihn sah, wie er das Kloster zur Zeit des Abendgebetes verließ. Es hätte nur lästige Fragen aufgeworfen und womöglich - nein, mit Sicherheit, hätten seine Brüder von seinem Ausflug erfahren.

Der Weg zum Familiensitz der Slytherins war steinig und beschwerlich, doch Timothy wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Innerhalb einer Stunde erreichte er die verkohlten Überreste des einst prächtigen Gebäudes.

Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, die Nacht war klar und der volle Mond beleuchtete mit gespenstischem, fahlen Licht die abgebrannte Ruine.

Die Grundmauern ragten wie Knochen aus dem schwarzen Schutt auf, Brandgeruch lag in der Lauft und leichte Rauchschwaden zogen wie Geisterschatten über die Ruine hinweg.

Timothy fröstelte trotz des dicken Wintermantels aus dicker, stinkender Schafswolle.

Langsam, den Blick gen Boden gerichtet, ging Timothy voran. Er wollte etwas finden, eine Erinnerung für Salazar. Doch am Boden lag nichts, was sein Aufsehen erregte. Alles war schwarz und verkohlt, sogar das Gras und die Pflanzen rund um das Anwesen waren verbrannt oder zumindest angesengt.

Timothy fand Reste einer Steinstatue, der der Kopf und die äußerlichen Extremitäten fehlen. Ein angelaufener Spiegel erschreckte ihn fast zu Tode, als ihm plötzlich zwei hellblaue Augen aus der Dunkelheit entgegenstarrten.

Steinquader versperrten ihm den Weg, beißender Brandgeruch ließ seine Augen tränen und der zunehmende, kalte Wind ließ Timothy nach einer Stunde mit leeren Händen den Rückweg antreten.

Er hatte nichts gefunden, mit dem der Junge noch etwas hätte anfangen können.

Auf dem Weg zurück ins Tal dachte Timothy an seine eigene Familie. Seine Eltern lebten zufrieden in der Nähe von Caerdydd, wo auch seine Schwester Faye mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebte. Sein Neffe war im gleichen Alter wie Salazar. Plötzlich spürte Timothy Panik aufsteigen, seine Kehle schnürte sich zu und er musste sich gegen einen Baum lehnen, um nicht zu fallen. Seine Beine drohten den Dienst zu versagen, bei dem Gedanken daran, dass seiner Schwester, seinen Eltern, seinem Schwager und Neffen das gleiche Schicksal drohte, wie auch den Slytherins.

Sie alle waren 'anders'. Sie waren Zauberer.

Ein leises Rascheln riss Timothy aus den Gedanken, er horchte auf, doch schien es ihm, als hätte ihm seine Wahrnehmung einen Streich gespielt. Dennoch wartete er einige Minuten still ab und da hörte es wieder.

Ein leises Rascheln, nicht weit von ihm.

Leise schlich Timothy in das Gebüsch neben dem Waldweg, immer darauf bedacht nicht auf einen Ast zu steigen, der seine Position - überhaupt seine Anwesenheit – hätte verraten können.

Er horchte weiter, zu dem Rascheln hatte sich mittlerweile ein leises Weinen gesellt. Timothy schluckte. Was würde ihn erwarten? Ein Kind? Hatte Salazar Geschwister? Soweit er wusste, nicht. Dennoch versetzte ihn der Gedanke, einen weiteren Waisen vorzufinden, einen Stich.

Vorsichtig lugte Timothy hinter einem Busch hervor und was er sah, verschlug ihm den Atem: Vor ihm auf dem Waldboden lag ein blutüberströmtes Geschöpf. Definitiv kein Mensch.

War es ein Dämon?

Die großen Augen des grünen Wesens waren vor Schmerz zusammengekniffen, die Ohren waren nur noch verkohlte Stümpfe und das Gesicht von Feuer und blutenden Wunden völlig entstellt.

Eine Woge des Mitleids überkam Timothy und bevor er wusste, was er tat, war er aus dem Gebüsch getreten und kniete sich nieder zu dem kleinen Geschöpf. Erst jetzt erkannte er, dass es sich um einen Hauself handeln musste. Ein völlig harmloses, magisches Wesen, wie auch der goldene Greif einige in seinen Diensten hatte. Der Hauself sah auf und Timothy erkannte, dass es nur noch ein Auge hatte. Dort, wo das rechte Auge hätte sitzen sollen, sah Timothy nur eine schwarze, blutverkrustete Höhle.

Die charakteristischen Ohren waren nicht mehr zu erkennen, die sonst grüne Haut war völlig rußgeschwärzt und angekohlte Stoffstücke klebten in den nassen Brandwunden.

In dem Augenblick, als der Hauself Timothy sah, fing er an panisch zu schreien und zu zappeln. Von dieser Reaktion völlig überrascht verlor Timothy das Gleichgewicht und kippte rückwärts.

"Nein, shhh! Ich tu' dir nichts", stotterte Timothy aufgeregt und hob beschwichtigend die Hände.

Zitternd vor Angst senkte das Wesen seinen Kopf, schlang seine Arme darüber und fing an unzusammenhängende Sätze zu brabbeln.

"Es tut mir leid, Meister, so schrecklich leid!", wimmerte es, während Timothy es ratlos anstarrte.

"Was tut dir leid?", fragte er leise und rappelte sich auf, sodass er sich wieder vor das Wesen knien konnte.

"Ich lebe, Meister, es tut mir leid!", jammerte es nun lauter und fing haltlos an zu schluchzen.

Ratlos schüttelte der Priester den Kopf und zog seinen Wintermantel aus, um den Hauself darin einzuwickeln, doch er schreckte wimmend zurück.

"Nein, nicht mehr Strafen! Ardu hat verstanden, Ardu kommt in die Hölle!"

Langsam ließ Timothy den Mantel sinken und starrte den Hauself entgeistert an. "Was... Was hast du gerade gesagt?"

"Ja, Hölle!", heulte der Hauself auf, "Ardu ist Dämon! Ardu ist böse! Strafe! Fegefeuer!"

"Woher kennst du diese Wörter, Elf?", fragte der Priester nah an der Hysterie, "Wer hat euch das angetan?"

Mit schreckensgeweitetem Auge sah Ardu auf und es schien, als würde er nicht verstehen, was Timothy wissen wollte.

"Wer?", fragte der Hauself leise. Plötzlich veränderte sich seine Mimik: Aus Schmerz wurde Zorn und aus Angst Hass.

"Ihr!", schrie er außer sich und schlug wild um sich. "Ihr, Muggel! Die gleichen Roben haben sie getragen und umgebracht, ja, hinterlistig umgebracht meine Meister!"

Timothy schloss die Augen.

Innerlich sah er, wie seine Brüder nach der Vesper geschlossen das Kloster verließen. Sah, wie die Schlange mit den brennenden Fackeln durch das Dorf zog und immer mehr sich ihnen anschlossen.

Waren sie es wirklich alle?

Bruder William? Nein. Eine sanfte Seele, die jedes Leben achtete. Die vergangene Nacht hatte er gehört, wie er rastlos in der Nachbarzelle auf und ab lief.

Der junge Philip? Timothy war sich nicht sicher. Schließlich war Philip Wilcoxs Novize und Wilcox, das ahnte er, war der Antreiber dieses flammenden Kreuzzuges gewesen.

Und die anderen? Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Einigen von ihnen traute er es zu.

Bei Augustin und Edgar zweifelte er keine Sekunde an der Fähigkeit zur Grausamkeit. Beide waren fanatisch, das hatten sie bewiesen, als sie Sergius IV. Aufruf zu einem blutigen Feldzug gegen die Muslime ohne Bedenken folgten. Doch schon zwei Monate nach ihrer Abreise kamen sie enttäuscht zurück. Sergius hatte mit dem Zerstörung von Pisa und dem damit verbundenen Verlust der Waffen einen erheblichen Rückschlag hinnehmen müssen und erklärte seinen Aufruf rückwirkend für nichtig.

Timothy sah zu dem Hauself, der nun doch den Wintermantel angenommen hatte und sich nun zitternd und röchelnd darin eingewickelt hatte. Waren sie, seine Brüder, fähig ein hilfloses Wesen so zuzurichten?

Tief in seinem Inneren kannte er die bittere Antwort.

"Tot", flüsterte der Elf verzweifelt "Salazar, Kind..."

"Salazar ist nicht tot, Ardu", sagte Timothy leise, "Er ist im Stift, es geht ihm gut."

"Du bist nicht wie die Muggel, Muggel", murmelte der Elf und wirkte plötzlich überrascht, "Du bist ein Zauberer!"

Plötzlich fühlte sich Timothy unwohl in seiner Haut, nickte aber dennoch und sah, wie der Hauself das Gesicht verzog. Zu einem Lächeln, wie es schien.

"Ihr passt auf Salazar auf, nicht wahr?"

Timothy nickte und brachte ebenfalls ein kleines Lächeln zustande. "Hör zu, Elf. Ich werde dich nicht hier lassen, du kommst mit mir mit. Zu Salazar. Verstehst du?"

Der Hauself schüttelte traurig den Kopf. "Ardu geht zu den anderen Elfen. Und zu Misstress und Meister Slytherin!"

Erst jetzt sah Timothy, dass der Mantel sich mittlerweile mit dem Blut des Elfen vollgesogen hatte.

Er nahm den Mantel samt Elf vorsichtig auf den Arm und hoffte im Stift, mit Hilfe der Kräuter und Salben, noch etwas für den Elf tun zu können.

Ardu war jemand aus Salazars Vergangenheit, vielleicht könnte er dem Jungen helfen die Geschehnisse zu verarbeiten.

Doch Ardu schaffte es nicht mehr. Timothy lief, so schnell es mit dem verletzten Hauself auf dem Arm ging.

Zweige und Äste rissen blutende Striemen in sein Gesicht, doch Timothy kümmerte sich nicht darum. Er spürte wie die Atmung des Hauself schwächer wurde. Das Blut des Wesens bedeckte seine Hände, lief seine Unterarme hinab und tränkte sein Habit.

Ardu starb auf den Stufen, die in den Stift führten, in Timothys Armen.

Timothy begrub Ardu im fahlen Mondlicht unter einem Kirschbaum, den man von seiner Zelle aus sehen konnte. Auch, wenn es ein magisches Geschöpf war, das es vermutlich gar nicht wollte, fühlte Timothy die Pflicht ihn zu segnen.

In die Stille sprach er, dass Ardu ein mutiger Elf gewesen war, seinen Herren treu und loyal, immer fleißig und bemüht seine Pflichten zu erfüllen.

Er wusste nicht, ob dem so war, doch Timothy glaubte daran.

Noch vor Morgengrauen, vor dem Laudes, betrat Timothy die geweihten Mauern und schlich sich zurück zu seiner Zelle. Mit einem kurzen Blick in Salazars Schlafzelle versicherte er sich, dass der Junge wohlauf war und schlief.

Nachdem Timothy sein blutiges Habit ausgezogen hatte, sich das Gesicht und die Arme gewaschen hatte, kroch er unter die dünne Baumwolldecke seiner Pritsche.

Zum ersten Mal zweifelte er an seinen Brüdern.

An seinem Glauben.

An Gott.

Und an sich selbst.

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