Diego:
Leonora berührte mich sanft an der Schulter, so daß ich aus meinem Schlaf erwachte. „Die Sonne geht auf, Diego," sagte sie leise.
Ich lächelte sie zärtlich an. „Das heißt, daß unsere Nacht zuende ist."
„Ja, aber es werden noch andere folgen," meinte sie, und ich war nicht so ganz sicher, ob sie freudig oder resigniert klang.
„Ich giere schon jetzt danach." Ich küßte sie zärtlich auf die Nasenspitze. „Aber jetzt willst du sicherlich Manrico aus dem Turm lassen, oder?"
„Du läßt mich ihn sehen?" Sie setzte sich auf.
„Das scheint dich zu überraschen." Warum sollte ich Manrico jetzt noch bekämpfen? Leonora gehörte mir. Da konnte sie sich auch von ihm verabschieden. Soll er doch davonlaufen und sich irgendwo verstecken.
„Ich habe nur nicht geglaubt, daß du erlaubst, daß ich mich von ihm verabschiede."
„Es würde dich unglücklich machen, es nicht tun zu können, und ich will keinesfalls, daß du unglücklich bist." Ich erhob mich vom Bett, ging hinüber ins Ankleidezimmer und holte meine Sachen, um mich anzuziehen. „Der Schloßkaplan wird uns heute abend trauen. Entspricht das auch deinen Wünschen?"
„Ja, das tut es." Ihre Stimme klang traurig. „Ich werde mich bemühen, dir eine gute Ehefrau zu sein."
„Du wirst eine wundervolle Condesa sein." Ich schloß mein Hemd. „Und eine phantastische Ehefrau."
Sie begann, sich ebenfalls anzuziehen. „Ich habe Angst."
„Noch immer vor mir?" Ich sah ihr beim Anziehen zu.
„Nein, vor ihm." Sie lächelte nervös. „Können wir gehen?"
Wir verließen mein Gemach und gingen zum Turm hinüber. Die Wachen öffneten die Türen, ohne daß ich irgendeine Bewegung machen mußte. Vor der Zelle, in der sich Manrico und Azucena befanden, bedeutete ich der Wache, die Tür aufzuschließen. Leonora wandte sich zu mir um, und als ich nickte, trat sie in die Zelle.
Ich blieb draußen auf dem Gang stehen, wo ich einiges sehen und alles hören konnte. Nach der letzten Nacht war ich sogar in der Lage, ohne Wimpernzucken zuzusehen, wie Manrico Leonora in die Arme schloß und ihr Liebesworte ins Ohr flüsterte. Sie hatte sich so sehr in meine Hand begeben, daß ich keine Angst mehr hatte, sie zu verlieren.
„Daß mir diese Freude noch vergönnt ist," murmelte Manrico. „So kurz vor dem Tode noch einmal glücklich zu sein."
„Du wirst nicht sterben," erwiderte Leonora. „Ich habe dich gerettet."
„Gerettet?"
Sie deutete zur Tür. „Du solltest nicht zögern. Geh!"
„Allein? Ohne dich?"
„Ich werde hierbleiben."
„Was?" rief er aus.
„Du mußt fliehen. Jedes Zögern kann dein Leben kosten," flehte Leonora.
„Ohne dich gehe ich einfach nicht."
„Du mußt."
Manrico blickte sie forschend an. „Sieh mich an, Leonora. Ich gehe, und du wirst bleiben?" Er packte sie bei den Schultern. „Was war der Preis dafür? Die Bettgenossin meines Rivalen zu werden?"
„So ist es nicht, Manrico." In ihren Augen blitzten Tränen.
„Doch, ich kann es in deinen Augen lesen," schrie er. „Du hast unsere Liebe verkauft an diesen... diesen Dreckskerl."
„Nein." Es war ein richtiger Verzweiflungsschrei, den sie ausstieß. Es schmerzte mich furchtbar, sie leiden zu sehen, aber auf diese Weise würde sie ihm wenigstens nicht nachtrauern.
„Du hast geschworen, mir treu zu sein," brüllte Manrico. „Für Frauen wie dich gibt es einen Namen: Huren!"
„So kann ich nicht leben," seufzte Leonora außer sich vor Verzweiflung. „Ich liebe dich, Manrico, aber ich begehre ihn. Aber ich will lieber sterben, als ohne dich und mit ihm zu leben, wenn du so von mir denkst." Sie führte ihre Hand zum Mund und nahm den Stein ihres Ringes zwischen die Lippen. Ich verstand nicht, was sie damit bezweckte.
Manrico auch nicht. „Verschwinde!" fuhr er sie an. „Ich hoffe, du wirst glücklich mit deinem mörderischen Luna."
Leonora versuchte, auf ihn zuzugehen, schwankte jedoch und fiel zu Boden. Noch immer verstand ich nicht, was in der Zelle wirklich vor sich ging.
„Jetzt ist nicht mehr die Zeit, mich zu verdammen. Du solltest lieber für mich beten," brachte sie mühsam hervor.
„Leonora, was ist mir dir?" Manrico fiel neben ihr auf die Knie.
„Ich habe nicht geglaubt, daß es so schnell gehen würde." Sie klammerte sich an ihm fest. „Mein Ring enthielt ein tödliches Gift."
„Nein!" schrie Manrico, und ich klammerte mich verzweifelt am Türrahmen fest.
Sie hatte Gift genommen, sie starb für ihn! Hatte sie alles nur getan, damit ich ihn freiließ, um mich dann zu betrügen? Nein, das konnte nicht sein. Dann hätte sie abgewartet, bis Manrico entflohen war. Es mußten seine Vorwürfe gewesen sein, die sie zur Einnahme des Giftes gebracht hatten.
Tränen schossen in meine Augen, und mein Magen rebellierte. Gleichzeitig formten meine Lippen tonlos ihren Namen. Es war seine Schuld, daß sie es getan hatte, redete ich mir ein, ganz allein seine Schuld. Ohne seine albernen Vorwürfe wären sie und ich glücklich geworden.
„Leb wohl, mein Geliebter," hauchte Leonora. Aus der Richtung ihres Blickes war nicht zu erkennen, ob sie Manrico oder mich damit meinte. Mit einem langgezogenen Seufzer starb sie in seinen Armen.
Außer mir vor Verzweiflung und Wut stürmte ich in die Zelle hinein, stieß Manrico beiseite und riß Leonoras Körper in meine Arme. Manrico stand auf und blieb mitten im Raum stehen, als wäre er versteinert.
„Schafft ihn zum Schafott!" schrie ich den Wachen zu, die ihn an den Schultern packten.
Er schüttelte ihre Hände ab und sagte mit ersterbender Stimme: „Ihr erweist mir damit eine Gnade, Conde. Ohne sie will ich auch nicht mehr leben." Er wandte sich um und verließ in Begleitung der Wachen die Zelle.
Ich wiegte Leonoras Körper in den Armen und hatte das Gefühl, vor Schmerz verrückt werden zu müssen. „Meine einzig Geliebte," schluchzte ich. Der Gedanke, sie selbst in den Selbstmord getrieben zu haben, erschien mir unerträglich. So etwas konnte ich nicht getan haben. Es mußte Manricos Schuld sein, weil ich es nicht ertragen konnte, die Verantwortung selbst dafür zu tragen.
In ihrer Ecke gab Azucena ein undefinierbares Geräusch von sich, was mich aufsehen ließ. Sie war genau die Person, die ich benötigte. An ihr konnte ich meinen Schmerz betäuben und Rache üben.
Ich ließ Leonora vorsichtig zu Boden gleiten, erhob mich, ging hinüber zu Azucena und riß sie auf die Füße.
„Wo... wo ist mein Sohn?" wollte sie mit verwirrtem Blick wissen.
„Ich zeige dir deinen Sohn," erwiderte ich brüllend. „Er geht dem Tod entgegen."
„Das könnt Ihr nicht tun," schrie sie zurück.
„Ich werde dir zeigen, daß ich es tun kann." Obwohl sie sich verzweifelt wehrte, zerrte ich sie aus den Turm hinaus auf die Zinnen, von wo wir den Hof mit dem Schafott gut einsehen konnten.
Manrico hatte das Gerüst gerade betreten und kniete vor dem Block nieder. Ich packte Azucena bei den Haaren und zwang sie auf diese Weise hinzusehen. Sie hatte aufgehört, sich zu wehren, und starrte bewegungslos auf den Hof herunter, als Manrico den Kopf auf den Block legte, der Henker ausholte und zuschlug. Das Blut spritzte in alle Richtungen, und der Kopf fiel mit einem grauenerregenden Geräusch in den Korb hinein.
„Er ist tot," sagte ich kalt.
„Und er war dein Bruder," schleuderte Azucena mir entgegen.
„Nur einer der Bastarde meines Vaters," entgegnete ich ohne Gefühl.
„Ein bedauernswerter Irrtum, Conde." Sie lachte laut. „Er war Don Garcia Nuño, das Kind, das ich raubte."
„Du lügst. Garcia ist verbrannt," schrie ich und wußte doch ganz genau, daß sie die Wahrheit sprechen mußte.
Azucena schwankte. „Er ist das Kind, das ich entführte," wiederholte sie. „Ich habe mein eigenes Kind ins Feuer geworfen."
Ganz langsam sank ich zu Boden. Alles gab einen Sinn, wenn Manrico mein Bruder Garcia gewesen war. Ich hatte den Befehl meines Vaters ausgeführt. Ich hatte Garcia lebend gefunden, und hatte gleichzeitig den Beweis seines Todes erbracht, indem ich ihn selbst töten ließ. Wie sollte ich damit leben können?
Mit blinden Augen sah ich zu, wie Azucenas Bewegungen immer unsicherer wurden. „Du bist gerächt, Mutter," flüsterte sie laut. Dabei geriet sie ins Straucheln, wollte nach einer der Zinnen greifen und verfehlte diese. Ich weiß nicht, ob sie das Gleichgewicht verlor oder sprang, ich weiß nur, daß sie im nächsten Moment in die Tiefe stürzte, und mit einem lauten Geräusch unten auf dem Hof aufschlug.
Ich kann nicht so ganz genau sagen, was ich in den Tagen tat, die auf diese entsetzlichen Stunden folgten. Ich begrub Leonora, meinen Bruder und Azucena auf dem Friedhof von Aliaferia, ich betrank mich und ertrank in Selbstmitleid.
Vielleicht habe ich diesen Bericht begonnen, um diesem Selbstmitleid entfliehen zu können. Ich wollte mir klarmachen, daß gar nicht ich das unschuldige Opfer all dieser Ereignisse bin, sondern sie überhaupt erst ausgelöst habe.
Eigentlich ist es ganz klar. Hätte ich damals, als Saviya meinen Bruder verfluchte, rechtzeitig geschrieen, oder hätte ich die Entführung Garcias verhindert, dann wäre nichts von all dem geschehen.
Garcia wäre als mein jüngerer Bruder aufgewachsen, es hätte uns niemals auf unterschiedliche Seiten dieses Krieges verschlagen, und es hätte keinerlei Rivalität um Leonora gegeben, weil ein jüngerer Sohn des Hauses Nuño längst nicht so aufregend gewesen wäre wie ein geheimnisvoller Troubadour.
Aber es ist nicht nur diese Schuld, die ich damals als kleiner Junge auf mich geladen habe. Auch als Erwachsener habe ich soviel Unaussprechliches getan... Ich hätte bei Pelilla meine Männer zurückrufen müssen, ich hätte keinen Versuch machen dürfen, Leonora aus dem Kloster zu entführen, und vor allem hätte ich sie niemals zwingen dürfen, mir zu Willen zu sein. Selbst wenn man das, was ich ihr antat, nicht Vergewaltigung nennen will, war es nur wenig moralischer als das.
Mir hätte bewußt sein müssen, daß sie, mit ihrem Hang zu großen Gesten, etwas dramatisches tun würde...
Ja, offenbar bin ich wirklich dieses Monster, als das ich erscheinen muß, und mit dieser Erkenntnis kann ich unmöglich weiterleben. Vor mir auf dem Schreibtisch liegt mein Schwert. Vielleicht, nein, ganz bestimmt ist das auch eine Möglichkeit, den Fluch ein für alle Mal auszulöschen, der auf dieser Familie lastet.
Es ist eine Sünde, aber ich habe in meinem Leben beinahe nur Sünden begangen, so daß eine mehr oder weniger daran auch nichts ändern kann. Es ist auf jeden Fall besser, es hier und jetzt zu beenden, als mich und alle anderen Personen weiterhin mit meiner Anwesenheit auf dieser Welt zu quälen...
XXX
Es ist jetzt fast ein Jahr her, daß ich die obigen Zeilen schrieb. Meine Sicht der Ereignisse hat sich seitdem nicht sehr verändert, aber es scheint so, als hätte ich eine andere Möglichkeit als den Selbstmord gefunden, damit umzugehen.
Ich hatte mein Schwert bereits in der Hand, als Ferrando in mein Gemach stürmte. „Legt das Schwert sofort hin, Herr," befahl er mir.
„Du wagst es, mir Befehle zu geben?" fuhr ich ihn an.
„Ich weiß nur zu gut, was in Euch vorgeht," sprach er sehr ruhig weiter. „Vor vielen Jahren stand ich am Burggraben und wollte mit allen ein Ende machen. Erinnert Ihr Euch, Herr, wie mich jemand vor einer Dummheit bewahrte?"
„Das ist nicht zu vergleichen."
„Nein? Wenn Ihr es jetzt tut, werdet Ihr keine Gelegenheit mehr haben, es als das zu erkennen, was es ist." Ferrando kam langsam auf mich zu. „Es ist nicht nur dumm, sondern auch feige, sich auf diese Weise aus der Verantwortung zu stehlen."
„Verantwortung?" Ich begann zu toben und dabei hysterisch zu lachen. „Für wen soll ich noch Verantwortung übernehmen? Es ist niemand mehr da. Für wen soll ich denn noch weiterleben?"
Ferrando blickte mich an, und in seinen Augen lag eine große Zärtlichkeit. Seine rechte Hand ergriff mein Handgelenk, und mit großer Kraft zwang er mich, das Schwert fallen zu lassen. „Warum nicht für mich, Diego?" fragte er leise.
Ich konnte nicht anders und begann, hemmungslos zu schluchzen. Die Tränen liefen in wahren Sturzbächen über mein Gesicht, und irgendwie, ohne daß ich mich erinnern kann, wie es genau kam, lag ich in Ferrandos Armen und weinte dort alles aus mir heraus, was sich in den Jahren meines Lebens in mir aufgestaut hatte.
Mit Ferrandos Hilfe gelang es mir, mich nach allem wieder etwas zu fangen. Es dauerte jedoch eine Weile, bis wir wieder zu jener Intimität zurückfanden, die früher zwischen uns geherrscht hatte.
Inzwischen sind wir aber so weit, ehrlich zu unserer Beziehung zu stehen. In gewissen Weise beinhaltet sie die Beendigung des Fluches, der auf meiner Familie liegt, da ich wohl kaum Kinder haben werden, auf die er sich übertragen kann, zum anderen ist es auch eine Art Bestrafung für mich. Durch die Ressentiments, denen wir durch unser Zusammensein ausgesetzt sind, büße ich gewissermaßen für meine Taten.
Der Ort, an dem ich diese letzten Zeilen dieses Berichts schreibe, weckt Erinnerungen in mir. Wir sind an dem See, an dem wir vor so vielen Jahren schon einmal lagerten. Auf diese Weise hat sich nun also der Kreis geschlossen.
Auf der anderen Seite des Feuers hat Ferrando gerade die Augen aufgeschlagen, und sein Blick scheint mich aufzufordern, Feder und Papier aus der Hand zu legen, um zu ihm herüber zu kommen. Dieser Aufforderung kann ich unmöglich widerstehen...