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Author's note:

Die Szene zwischen Javert und Villefort nimmt Bezug auf die Kapitel XLVIII, XLIX und LIII des „Grafen von Monte Cristo". Es spricht nichts dagegen, daß Javert an der „Ermittlung" beteiligt gewesen sein könnte...

3. Kapitel

Javert hatte ein ganze anstrengende Nacht lang versucht, die das fortsetzte, was auf der Chaiselongue begonnen hatte, Valjean davon zu überzeugen, daß es wirklich keine gute Idee war, wenn er Lucien Danois begegnete, doch wenn Valjean wollte, konnte er ohne weiteres so stur sein, wie er es Javert immer wieder vorgeworfen hatte.

Also hatte Javert schließlich nachgegeben, und Sergeant Danois einige Tage später in ihre Wohnung bestellt. Immerhin waren sich beide einig gewesen, daß Valjeans Vergangenheit und Violettas Kenntnisse darüber nichts waren, was der junge Mann wissen mußte. Es würde auch schon so schwer genug werden.

Lucien Danois betrat den Salon pünktlich und sichtbar nervös. Er war überrascht, sich dort nicht nur Javert, sondern auch einem ihm fremden Mann gegenüber zu sehen, der ihn nicht ohne Mißtrauen anblickte.

„Lucien," begann Javert, „darf ich Ihnen M. Fauchelevent vorstellen, Vorsitzender der Fantine-Stiftung. Diese Stiftung kümmert sich um Frauen, die es nicht leicht im Leben hatten, und versucht, ihnen anständige Arbeit zu besorgen. Violetta ist durch diese Stiftung in diesen Haushalt gelangt." Im weitesten Sinne war dies sogar die Wahrheit. „Da Violetta weder Eltern, noch andere ältere Verwandte hat, haben wir in loco parentis einige Fragen an Sie."

„Selbstverständlich, Messieurs." Danois wurde womöglich noch nervöser.

Valjean begann, ihm eine Menge Fragen zu stellen über Einkommen, Größe der Wohnung, Familie, all jene Fragen, die er eigentlich einem Bewerber um Cosettes Hand hatte stellen wollen, doch aufgrund der Ereignisse Marius nie gestellt hatte. Die Antworten stellten keinen Grund dar, aus dem man den Bewerber hätte zurückweisen müssen.

„Violetta hat es im Leben immer schwer gehabt. Sie hat nicht den geraden Weg genommen, bis sie dorthin kam, wo sie jetzt ist," erklärte Valjean.

„Man macht keine Fehler, wenn man dem Weg des Herren folgt, und dem Weg des Gesetzes," erwiderte Danois, und Javert seufzte.

Dieser Junge war so verblendet, so in seinen Vorstellungen von Recht und Gesetz gefangen, daß Javert das Gefühl hatte, sich selbst gegenüber zu stehen. „Jeder kann fehlen."

Valjean lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete Javert intensiv.

„Sie nicht, Monsieur l'Inspecteur, Sie doch nicht."

„Gerade ich, Lucien." Javert warf Valjean einen kurzen Blick zu und schöpfte Kraft aus dessen aufmunterndem Nicken. „Mein ganzes Leben lang habe ich geglaubt, was Sie glauben. Doch ich bin gefallen, tiefer als jeder andere fallen konnte. Ich bin so tief gefallen, daß ich mich eines Tages auf dem Grund der Seine wiederfand."

„Ich verstehe nicht..."

„Jean Valjean ist mir nicht entkommen. Ich habe ihn gehen lassen."

„Was?"

„Er hatte mir auf der Barrikade das Leben gerettet. Ich konnte damit nicht leben, einen Verbrecher entkommen zu lassen, und ich konnte ihn nicht festnehmen. Ich habe mich von einer Brücke in die Seine gestürzt, ich wollte sterben – und Jean Valjean ist hinterher gesprungen, um mich herauszuziehen. Daraufhin habe ich aufgehört, ihn zu jagen."

Man konnte förmlich sehen, wie das Entsetzen auf Danois' Gesicht zunahm, während sein Idol in ruhigen, aber eindringlichen Worten ein Versagen schilderte, das der junge Polizist nie für möglich gehalten hatte.

„Was ich Ihnen damit sagen möchte, Lucien, ist folgendes: Wenn man seinen moralischen Maßstab so hoch setzt, daß ihn niemand erreichen kann, wie Sie das tun, und ich getan habe, sind zwei Dinge sicher. Erstens ein tiefer Fall, denn es kommt immer der Moment, wo man selbst diesen Maßstab nicht mehr erreicht. Zweitens bleibt man zwangsläufig allein, denn keine Frau, kein Freund wird dem Maßstab auf Dauer standhalten können. Ich will, daß Sie dies in Erinnerung behalten, wenn Sie gleich in die Küche hinuntergehen und mit Violetta sprechen."

„Sie verwirren mich."

„Es wird sich aufklären, mein Junge," sagte Valjean. „Und nun gehen Sie hinunter."

Lucien Danois verließ sehr durcheinander den Salon.

Kaum war er draußen, verlor Javerts Körper seine Anspannung, die Schultern sanken herab, er begann zu zittern. Valjean war mit wenigen Schritten bei ihm und nahm ihn wortlos in die Arme. Er hielt ihn ganz fest, bis er spürte, daß der Körper in seinen Armen sich wieder beruhigte.

„Das war härter als alles, was ich seit der Seine und Toulon getan habe," flüsterte Javert heiser.

„Das war absolut heldenhaft," erwiderte Valjean und wischte mit dem Daumen fürsorglich etwas, das wie eine verstohlene Träne aussah, aus Javerts Augenwinkel.

„Ja, und wie die meisten Heldentaten ein wenig dumm. Wenn er so ist, wie ich es in Montreuil war, dann wird er mich, ohne nachzudenken, anzeigen."

„Glaube ich nicht. Und wenn er es tut, dann flüchten wir halt. Diesmal gemeinsam."

Fast hätte die Vorstellung, wie zwei alternde Männer gemeinsam vor der Polizei davon liefen, Javert zum Lachen gebracht. Trotzdem war er in tiefer Sorge, ob er nicht zuviel riskiert hatte. Für sich selbst war dies seine Entscheidung, aber Valjean unnötig in weitere Gefahr gebracht zu haben, war bereits als Vorstellung schwer erträglich.

Unten wurde die Haustür lautstark ins Schloß geworfen. Beide Männer lauschten, ob Violetta nach oben kam, doch statt dessen klingelte es zwei Minuten später heftig. Violetta öffnete die Tür, und dann waren nur ein paar geflüsterte Worte und dazwischen vielsagende Stille zu vernehmen. Es dauerte weitere zehn Minuten, bis die Tür erneut, diesmal leiser, schloß und Violetta im Salon stand, wo sie von zwei sehr neugierigen Augenpaaren empfangen wurde. Sie wirkte erschöpft, aber eindeutig nicht zerstört von dem, was sich in der Küche abgespielt hatte. „Ich habe es ihm gesagt," begann sie. „Nicht nur Pierre, ich habe ihm auch gesagt, was ich getan habe, um ihn durchzubringen. Und ich habe ihm Pierre vorgestellt."

„Und?" Valjean und Javert stellten die Fragen gleichzeitig.

„Es ist gegangen, er sagte, er müsse nachdenken. Und dann kam er wieder zurück und meinte, er müsse nicht mehr nachdenken, er wisse, was er tun müsse. Ich glaube, ich kann mich als verlobt betrachten."

Ohne sich um Violettas Anwesenheit zu kümmern, legte Valjean die Arme um Javerts Nacken und küßte ihn. Javert errötete etwas. Valjean gab ihn wieder frei und rief nach Champagner für Violetta und sich und einem Glas Wasser für Javert, welcher sich streng an sein in Toulon abgelegtes Gelübde hinsichtlich Alkohols hielt; die Folgen waren einfach zu demütigend gewesen.

XXX

Drei Tage später wurden Valjean und Javert in den frühen Morgenstunden unsanft dadurch geweckt, daß jemand ausgiebig an der Haustür klingelte. Wie bei allen Menschen, die lange auf der Flucht gewesen waren, saß Valjean sofort senkrecht im Bett, Panik im Blick und bereit, unverzüglich durchs Fenster zu verschwinden.

Javert strich ihm beruhigend durchs Haar, schwang sich aus dem Bett und in seinen Morgenmantel. Eilig stürmte er die Treppe hinunter und öffnete die Tür, während Violetta aus ihrem Zimmer neugierig hinausblickte. Draußen stand keine Armee von Polizisten, sondern nur ein kleiner Junge mit einem Brief. Javert nahm den Brief entgegen, suchte vergeblich in seinem Morgenmantel nach einer Münze und holte diese dann aus der Küche. Hektisch entfaltete er den Brief, las die drei Zeilen und kehrte mit einem Grinsen, das nicht besonders intelligent wirkte, ins Schlafzimmer zurück.

Valjean hatte eine Haltung angenommen, die ihm im Notfall eine sofortige Flucht gestattet hätte. Als er sah, daß Javert allein zurückkehrte, ließ er sich nach hinten in die Kissen fallen.

„Du kannst dich entspannen, Großvater."

„Du mußt nicht gleich beleidigend werden, nur weil ich ein paar Jahre älter bin als... Was hast du gerade gesagt?"

Das Grinsen auf Javerts Gesicht wurde noch breiter, als er Valjean den Brief reichte. Der griff nach seinen auf dem Nachttisch liegenden Augengläsern und begann zu lesen. „Messieurs, ich habe die Freude, Ihnen die Ankunft Ihrer Enkel- und Patentochter Marie-Eponine Pontmercy anzuzeigen. Sie ist mindestens so anbetungswürdig wie ihre Mutter, die Sie grüßen läßt. Marius Pontmercy."

„Ich bin Großvater," flüsterte Valjean kaum hörbar.

„Was meinst du, ist es zu früh, der jungen Damen deine Aufwartung zu machen?" fragte Javert.

„Nein," Valjean wurde plötzlich hektisch, „ich kann auch keinen Moment mehr warten."

Die Sonne ging über Paris auf, als die beiden Männer die Rue Plumet erreichten. Marius persönlich öffnete ihnen die Tür. Der junge Baron war völlig überdreht und redete in einem fort, wie wunderbar seine Frau und seine Tochter seien, was für ein unglaubliches Gefühl es sei, Vater zu sein, und wie glücklich er wäre. Erst als sie oben an der Tür zu Cosette Zimmer waren, holte Marius lange genug Atem, daß Valjean and Javert ihm ihre Glückwünsche aussprechen konnten.

Ohne zu zögern, betrat Valjean das Zimmer und kniete neben dem Bett seiner Tochter nieder. Cosette lächelte ihn glücklich, wenn auch erschöpft an.

Javert blieb unsicher an der Tür stehen. Er fühlte sich fehl am Platz, was in aller Welt hatte in einem Geburtszimmer zu suchen? Selbst, wenn er noch so sehr der Pate des winzigen Menschenbündels in Cosettes Arm werden sollte, war dies doch eine Familienszene. Er wollte gerade das Zimmer verlassen, als Cosette die Hand hob und ihn heranwinkte.

Zögernd kam er näher, ergriff Cosettes ausgestreckte Hand, beugte sich darüber und nahm dann Marie-Eponine in Augenschein. Hatte er jemals bewußt schon einmal ein Neugeborenes betrachtet? Sie war so klein, so zart, so hilflos, und als sie die Augen öffnete, schien sie anstatt zu schreien, Javert aufmerksam zu betrachten. „Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, sie kommt ganz nach dir, Valjean," stieß er ungläubig hervor.

Valjean blickte auf und lächelte. „Wie kommst du darauf?"

„Sie hat keine Angst, mich anzusehen."

Von diesem Moment gab es in Javerts Leben eine zweite Person, für die er, ohne zu zögern, in die Hölle und wieder zurück gegangen wäre.

XXX

Einen Monat später saß M. Gillenormand in der Kirche und sah zu, wie seine Urenkelin getauft wurde. „Marie" als Name war ja vollkommen in Ordnung, aber woher kam dieses merkwürdige „Eponine"? Und daß dieser sonderliche Ex-Polizist das Kind über das Taufbecken hielt, mißfiel dem alten Mann irgendwie, auch wenn er hinsichtlich André Cheniers Ermordung erfreulich vernünftige Ansichten hatte. Aber was konnte man schon von Zeiten erwarten, in denen sich alle paar Wochen irgendwelche Studenten erhoben, um Revolution zu spielen?

Die jüngste Generation war auch schon völlig verweichlicht, denn Marie-Eponine begann in dem Moment, in dem das Wasser auf ihre Stirn getropft wurde, herzzerreißend zu weinen, und ihr Pate wirkte mit einem Mal ziemlich überfordert. Doch dann geschah etwas überraschendes. Er übergab das Kind nicht etwa seiner Mutter, sondern beugte sich hinunter, flüsterte einige leise Worte, und prompt hörte die Kleine auf zu schreien. Offenbar hatte dieser Ex-Polizist auch noch andere Fähigkeiten, als seiner Umgebung mit seinem Gnadengesuch für diesen Jacques Valjacques, oder wie der auch immer hieß, auf die Nerven zu gehen.

Als sie alle nach der Taufe vor der Kirche standen, stützte M. Gillenormand sich auf den Arm seines Enkels, als Javerts zu ihnen trat. „Wie geht Ihre Mission voraus, junger Mann?"

„Gut, es fehlt mir nur noch die Unterschrift des zuständigen Staatsanwaltes," antwortete Javert. „Der verzögert die Sache allerdings schon eine ganze Weile."

„Ich weiß jetzt auch, wer das ist," warf Marius ein. „Staatsanwalt de Villefort, und er hat das Gesuch schon seit Wochen auf dem Tisch."

Javert starrte ihn an, und seine Lippen kräuselten sich triumphierend. „Das Gnadengesuch hat die längste Zeit auf seinem Schreibtisch gelegen. Ich bin sicher, daß ich die Begnadigung schon in wenigen Wochen in Händen halte." Sein Blick wanderte zu Valjean, der in einiger Entfernung mit Cosette stand. Als hätte dieser gewußt, daß Javert ihn ansah, hob er den Kopf, und ihre Blicke trafen sich.

„Was macht Sie so zuversichtlich?" wollte Marius wissen.

„Mir ist etwas bekannt, von dem ich vermute, daß M. de Villefort vermeiden möchte, daß es noch mehr Leute zu Ohren kommt."

„Sie wollen einen Staatsanwalt erpressen?" Marius war wirklich schockiert. „Ihre Verbundenheit mit Valjean in allen Ehren, aber da gehen Sie ein wenig zu weit."

„Ich denke, in diesem speziellen Fall kann ich verantworten, was ich tue."

Auf dem Heimweg bemerkte Valjean: „Wäre Marius nicht dabei gewesen, hätte man vermuten können, du plantest mit dem alten Gillenormand eine royalistische Verschwörung."

„Ich verspreche dir hoch und heilig, wir planen keine royalistische Verschwörung," erwiderte Javert mit einem Lächeln.

XXX

Zwei Tage später hatte Javert es geschafft, einen Termin bei Staatsanwalt Villefort zu erhalten. Er kannte ihn flüchtig, wie halt ein Polizeiinspektor einen Staatsanwalt kannte, aber trotz seines alten Respekts vor Höhergestellten hatte er Villefort nie leiden können. Der Mann war ein unerträglich arroganter, aalglatter Ehrgeizling. Von einer Liebe oder wenigstens Respekt vor dem Recht, wie Javert sie selbst besaß oder Marius sie hatte, war bei ihm nichts zu spüren.

„Inspecteur Javert," begrüßte Villefort seinen Besucher, „was führt Sie zu mir? Ich hörte, Sie haben Ihren Abschied genommen. Wie konnten Sie der Strafverfolgung Frankreichs nur einen so tödlichen Streich versetzen?"

„Das waren sehr persönliche Gründe," antwortete Javert abweisend. Villefort war mit Sicherheit einer der letzten Personen, mit der er irgend etwas so Privates, wie die Umstände seines Abschiedes von der Polizei erörtern wollte.

„Was kann ich dann für Sie tun?"

„Es gibt da einen alten Fall, der mich nicht ruhen läßt," begann Javert sehr bedächtig, „wobei, eigentlich ist es ja gar kein Fall, denn es hat niemals einen offiziellen Vorgang dazu gegeben."

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zur Sache kommen könnten."

„Ich bin dabei, Monsieur le Procureur. Ich war noch ein sehr junger Polizist, gerade in die Reihen der Polizei aufgenommen, nachdem ich zuvor in Toulon zu den Wachen des Gefängnisses gehörte, als ich das erste Mal mit einigen Kollegen zu Ihnen gerufen wurde. Ich glaube, es dürfte im Frühjahr des Jahres 1818 gewesen sein, als ich von Ihnen den Auftrag erhielt, in einer kriminalpolizeilichen Ermittlung die Spur einer Frau zu verfolgen, die aus einem Waisenhaus ein sechs Monate altes Baby abgeholt hatte. Die Spur dieser Frau und des Kindes verlor sich in Chalon. Sie waren sehr zornig, daß wir die Frau und das Kind nicht finden konnten."

„Sie sprechen in Rätseln, Javert."

So, so, dachte Javert mit einen innerlichen Lächeln, es ist also nicht mehr „M. Javert" oder „Inspecteur Javert". Auf Villeforts Gesicht hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, seine Gesichtsfarbe war blaß geworden. Er würde nicht lange durchhalten.

„Ich glaube, Sie wissen sehr genau, daß ich das nicht tue, Monsieur le Procureur. Ich stellte dann, als ich endgültig in die Dienste der Pariser Polizei trat, fest, daß es niemals eine kriminalpolizeiliche Ermittlung gegeben hat, in welcher eine Frau, die Anfang 1818 ein Kind aus einem Waisenhaus holte, eine Rolle spielte." Er warf Villefort den Blick zu, der kleine Kinder zum Weinen und wenig abgebrühte Verbrecher zum Gestehen bringen konnte. „Sie kennen mich, und Sie kennen auch den Ruf, der mir vorauseilt. Wenn ich beginne zu graben, finde ich meist auch etwas. Und ich habe diese fatale Neigung, mich in Ermittlungen richtig verbeißen zu können, bis ich etwas finde. Meinen Sie, daß es sich lohnt, wenn ich einmal zu suchen beginne, warum Sie ohne jegliches Verfahren ein Heer von Polizisten ausschwärmen ließen, um eine Frau und ein Baby zu suchen?"

Die Blässe im Gesicht des Staatsanwaltes hatte jetzt auch seine Lippen erreicht. „Ich habe nie geglaubt, daß Sie sich zu einem ordinären Erpresser entwickeln würden. Wieviel wollen Sie?"

„Wäre es Geld, was ich verlangte, wäre ich schon vor Jahren hiergewesen, Monsieur le Procureur," entgegnete Javert nicht im Mindesten beleidigt. „Nein, ich will lediglich Ihre Unterschrift auf einem Gnadengesuch, was schon eine ganze Weile Ihnen vorliegt. Es betrifft einen flüchtigen Sträfling namens Jean Valjean, bekannt als Nummer 24601 in Toulon, später Nummer 9430 und Maire Madeleine in Montreuil-sur-mer."

„Ich habe das Gesuch gelesen. Und ich weiß, daß dieser Fall bei Ihnen eine Besessenheit darstellt. Was, zur Hölle, verdanken Sie diesem Mann, daß Sie ernsthaft versuchen, einen Staatsanwalt zu erpressen?"

„Alles, was ich heute bin, Monsieur le Procureur."

„Ein mieser, kleiner Erpresser."

„Ja, in gewisser Weise auch das." Javerts Stimme war nicht frei von Selbstironie. Er wandte sich zum Gehen. „Ich gehe also davon aus, daß ich die Begnadigung bis Ende Mai in Händen halte. Ansonsten werde ich danach beginnen zu ermitteln."

„Fahren Sie zur Hölle, Javert!"

„Ihnen auch einen schönen Tag." Mit diesen Worten verließ Javert das Büro des Staatsanwalts. Den ganzen Weg nach Hause über grübelte er darüber nach, was er getan hatte, und warum sich seine Gewissensbisse in Grenzen hielten. Es war kurz vor der eigenen Haustür, als er wußte, warum.

Villefort war viel zu sehr ins Schwitzen geraten, als daß es sich nur um einen Mißbrauch des Polizeiapparates zu privaten Zwecken handeln konnte. Da steckte etwas anderes dahinter, etwas Größeres, vermutlich ein Verbrechen, von dem der Staatsanwalt wußte, wenn er nicht gar an ihm beteiligt gewesen war.

Es war eine Sache, Valjean begnadigen zu lassen und dabei einige unkonventionelle Wege zu gehen, aber einen Staatsanwalt mit einem Verbrechen davonkommen zu lassen widerstrebte Javert. Andererseits konnte er nicht, wenn er die Begnadigungsurkunde erhielt, mit Ermittlungen beginnen, das wäre seiner nun wahrlich nicht würdig gewesen. Für einen Moment überlegte er, Lucien Danois auf die Sache anzusetzen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Das war dann doch zu heikel.

Schließlich, er stieg bereits die Treppe hinauf, erinnerte er sich an einen merkwürdigen Brief, den er vor einigen Wochen erhalten hatte. Ein Graf mit italienischem Namen und Absender Rom hatte dort angefragt, ob er bereit sei, gegen eine fürstliche Entlohnung Ermittlungen über die Herren Danglars, Mondego und Villefort anzustellen. Seit sein Ausscheiden bei der Polizei bekannt geworden war, kamen ständig Anfragen von Leuten, die sich seine Nase für Verbrechen zunutze machen wollten. Er ignorierte diese Anfragen in der Regel und heftete sie ab, aber das Schreiben dieses Grafen war ihm in Erinnerung geblieben, weil ihm der Name Villefort bekannt war und der Ton des Briefes klang, als habe der Schreiber einen sehr persönlichen Groll gegen die genannten Herren.

Valjean war unterwegs und rettete wieder einmal eine Seele für seine Stiftung, so daß Javert sich unbeobachtet an seinen Schreibtisch setzen konnte. Er fand den Brief dort, wo er ihn abgelegt hatte, und begann seinerseits, einen Brief zu schreiben. „Monsieur le Comte, Sie haben mir in Ihrem Schreiben angeboten, mich in Ihre Dienste zu nehmen. Dieses Angebot muß ich leider ablehnen. Allerdings habe ich Grund zu der Annahme, daß es für Sie von Interesse sein könnte, Staatsanwalt de Villefort unter die Lupe zu nehmen hinsichtlich seines Verhaltens im Jahre 1818, als er, kriminalpolizeiliche Ermittlungen vorschützend, ein Heer von Polizisten losschickte, um eine Frau zu verfolgen, die ein Kind aus einem Waisenhaus abgeholt hatte..."

XXX

Villefort wartete bis zum Ende der ihm gesetzten Frist, doch dann übersandte er die Begnadigungsurkunde am 31. Mai an Javert. Dieser ging mit der ungeöffneten Mappe in die Küche und fragte Violetta, ob er kurz ihr Zimmer benutzen dürfe, während seine Hände zitterten.

„Ist es das, was ich denke, was es ist?" fragte sie, die Augen fest auf die Mappe gerichtet.

„Ich hoffe es, aber ich will es mir in Ruhe ansehen, ohne Erklärungen abgeben zu müssen." Er blickte hoch zur Decke, um anzudeuten, daß er die Mappe zunächst ohne Valjean öffnen wollte.

Ohne ein weiteres Wort öffnete Violetta die Tür zu ihrem Zimmer. Javert trat ein, schloß die Tür und starrte für eine halbe Minute die Mappe an, bevor er sich traute, sie zu öffnen. Es war das, was er erhofft hatte.

Er hatte es geschafft! Valjean war nicht mehr länger auf der Flucht. Er war frei. Keine Angst mehr, wenn es nachts läutete, kein instinktives Fortdrehen beim Anblick eines Polizisten...

Javert schloß die Mappe vorsichtig wieder. Jetzt einfach nach oben zu gehen, und Valjean ganz profan mitzuteilen, daß er nun sicher sei, erschien ihm der Feierlichkeit des Moments nicht angemessen.

Während Javert noch überlegte, klingelte es an der Tür. Wenige Sekunden später hörte Javert Lucien Danois' Stimme. Die Hochzeit war für den 8. Juni angesetzt. Was würde Danois tun, wenn er vorher erfuhr, daß Violetta mit Jean Valjean unter einem Dach gelebt hatte? Valjean würde nur mit Schwierigkeiten davon abzuhalten zu sein, sofort seinen Namen wieder zu tragen. Es war vielleicht besser, bis nach der Hochzeit zu warten.

Der 9. Juni... Einen besseren Tag konnte es gar nicht geben, um Valjean den Inhalt der Mappe zu geben!

Javert straffte sich und verließ das Zimmer wieder.

„Oh, M. Javert, Lucien und ich würden gerne kurz mit Ihnen und M. Fauchelevent sprechen," sagte Violetta.

„Sicher, ja, Sie wissen ja, er ist oben." Javert wirkte ein wenig zerstreut.

Gemeinsam gingen sie nach oben, wo Valjean gerade seine Post durchging. Als er sah, daß Javert und Violetta nicht allein waren, nahm er die Brille ab und begrüßte Danois.

„Violetta und ich würden Sie gern um etwas bitten," begann dieser. „Wir dachten, da Sie für uns beide soviel getan haben... Monsieur l'Inspecteur, darf ich wagen, Sie zu bitten, mein Trauzeuge zu werden?"

Trauzeuge, Pate, Javert war in den letzten Wochen mehr familiäre und freundschaftliche Bindungen eingegangen als in seinem gesamten vorherigen Leben. Das war sehr verwirrend. „Ja, sehr gerne," sagte er trotzdem.

Danois' Gesicht leuchtete sehr erfreut auf.

„Sie wissen, ich bin allein auf der Welt, ich habe außer Pierre keine Familie." Violetta nestelte an ihrer Schürze. „Monsieur," sie sah Valjean direkt an, da sie nicht wagte, ihn wie üblich anzusprechen, „würden Sie mich zum Altar geleiten?"

Valjean schluckte. Er hatte die Gelegenheit verpaßt, Cosette zum Altar zu führen, nun bat ihn ein anderes Mädchen darum. Wie konnte er da ablehnen? Genau das sagte er Violetta.

XXX

„Dieses blödsinnige Halstuch fällt einfach nicht richtig." Die Frustration in Javerts Stimme war mehr als deutlich, als er das Tuch zum wiederholten Male entknotete.

Valjean war natürlich bereits fertig, sein Halstuch saß perfekt, und selbstverständlich sah er aus wie aus dem Ei gepellt. Es hatte schon seine Gründe, warum Javert mit Vorliebe seine Uniform trug, da mußte man sich nicht mit derartigem Blödsinn herumärgern.

Kurz bevor Javert das Halstuch zerknüllen und in die Ecke werfen wollte, hatte Valjean endlich ein Einsehen. „Laß mich das machen," sagte er, nahm das Tuch und band es innerhalb von Sekunden zu einem ansehnlichen modischen Knoten. Es amüsierte ihn, diesen kleinen Zug von Eitelkeit bei Javert entdeckt zu haben.

Sie gingen zusammen nach unten, wo Pierre in seinem neuen Anzug in der Küche saß. Im gleichen Moment ging die Tür auf, und Violetta kam aus ihrem Zimmer. Sie trug das elfenbeinfarbene Brautkleid, das Valjean bezahlt hatte, und sah wunderschön aus.

„Oohhh," machte Pierre, während die beiden Männer ihre Bewunderung etwas eloquenter äußerten.

Sie fuhren gemeinsam zur Kirche, in die sich nicht allzu viele Gäste verirrt hatten. Violetta besaß keine Verwandte, ein paar Freundinnen von der Fantine-Stiftung waren da, Cosette war erschienen und hatte Marius mitgeschleift. Auf Seiten des Bräutigam waren einige Kollegen von der Polizei gekommen sowie seine Schwester Anne mit ihrem Mann Georges Levasseur.

Javert nahm seinen Platz neben Lucien Danois ein, dessen Strahlen sämtliche Kerzen in den Schatten stellte. Vor Violetta, die an Valjeans Arm den Gang entlang schwebte, kam Pierre mit einem Kissen, auf dem sich die Ringe befanden. Die Zeremonie nahm ihren Lauf, und nach weniger als einer Stunde war aus Violetta Madame Danois geworden.

Die Feier fand im Garten des Hauses in der Rue Plumet statt und war fröhlich und voller Ausgelassenheit. Ein wenig irritierte es nur, daß der Schwager des Bräutigams, Sergeant Levasseur von der Polizei von Toulon, aus unerfindlichen Gründen permanent versuchte, mit Valjean, den er merkwürdigerweise mit „Dupont" und „du" ansprach, Geschichten aus dem Polizeialltag auszutauschen. So war Valjean ebenso konsequent auf der Flucht vor Levasseur, wie dieser versuchte, erneut ein Gespräch zu beginnen.

Das Brautpaar fuhr schließlich zu sehr fortgeschrittener Stunde zusammen mit Pierre in ihre neue Wohnung. Die anderen Gäste gingen nach und nach, bis nur noch Valjean und Javert anwesend waren. Nun drängte auch Valjean zum Aufbruch.

Marius ließ seinen Wagen anspannen, um die beiden nach Hause bringen zu lassen. Er reichte Javert die Mappe, die dieser bei ihm deponiert hatte, damit Valjean sie nicht versehentlich fand, während sich Valjean von Cosette verabschiedete.

Als Valjean Marius die Hand reichte, wollte Javert sich wie üblich von Cosette mit einem Handkuß verabschieden, doch sie legte ihm einfach die Arme um den Nacken, drückte ihn fest an sich und flüsterte ihm ins Ohr: „Marius hat mir gesagt, was diese Mappe enthält. Ich wünschte, es gäbe Worte, die in der Lage wären auszudrücken, wie dankbar ich Ihnen bin." Sie drückte einen sanften Kuß auf Javerts Wange und gab ihn wieder frei, während er zu seiner Schande heftig errötete.

Aufmerksam registrierte Valjean diese Szene, wie ihm auch die Übergabe der Mappe nicht verborgen geblieben war, und ihm auffiel, daß Javert das Einsteigen in die Kutsche deutlich in die Länge zog, während er selbst schon Platz genommen hatte. Er konnte hören, daß Javert dem Kutscher eine Anweisung gab, aber er konnte nicht verstehen, was diese Anweisung beinhaltete. Doch er wußte auch, daß Javert nichts sagen würde, bevor er es aus freien Stücken wollte. Ihn zu drängen, war ein sinnloses Unterfangen.

Daher begann Valjean nach einigen Minuten, munter darauf loszuplaudern. „Ich gönne Violetta alles Glück der Welt, aber ich muß schon betonen, daß ich es sehr anstrengend finde, daß wir uns nach einer neuen Haushälterin umsehen müssen. Würdest du morgen oder in den nächsten Tagen mit mir losgehen, damit wir uns umsehen können?"

„Wenn du jemand mit der gleichen Profession suchst, solltest du daran denken, daß Paris' Straßenhuren im Sommer weniger elend wirken als an einem Novembertag," erwiderte Javert mit einem Anflug von Ironie in der Stimme.

„Du meinst also, ich soll nicht nach einer Frau in katastrophalem Zustand suchen, sondern nur in schlechtem Zustand? Das könnte tatsächlich...," Valjean unterbrach sich. „Wieso halten wir?"

„Weil ich den Kutscher darum gebeten habe."

Valjean sah aus dem Fenster und erkannte, daß sie auf einer Brücke hielten, genauer gesagt, auf der Brücke. „Was hast du vor? Was genau willst du hier?"

„Laß uns aussteigen, dann sage ich es dir."

Valjean zuckte mit den Schultern und stieg aus. Javert folgte ihm und gab dem Kutscher einen Wink, der daraufhin davon fuhr.

Die Szenerie war vertraut, zwei Männer in hereinbrechender Morgendämmerung auf der Brücke, ein davon fahrender Wagen... „Wenn du versuchst, mich an etwas zu erinnern, ist das überflüssig," sagte Valjean. „Wie könnte ich diese Brücke je vergessen?"

„Du weißt nicht, welcher Tag heute ist, oder?"

„Der 8., nein, inzwischen der 9. Juni."

„Es ist genau ein Jahr her, daß wir hier gestanden haben."

„Oh, Gott," stöhnte Valjean auf, „ja, du hast recht. Ich hätte nie geglaubt, daß du derjenige von uns bist, der an so etwas denkt."

„Es ist ein Jahr her, daß du mir hier auf dieser Brücke ein neues Leben geschenkt und mir gezeigt hast, was Leben auch sein kann." Javerts Stimme war sehr feierlich.

„Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst," begann Valjean, doch Javert legte ihm den Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Als du mich fragtest, wo ich die Tage über war, von denen du nicht wußtest, wohin ich ging, habe ich dir nur die Hälfte der Wahrheit gesagt. Ich habe nicht nur Lucien von dir abgelenkt, ich habe auch noch etwas anderes gemacht. Ich hatte ein wenig Hilfe von deinem Schwiegersohn und M. Gillenormand, und viel Lauferei, aber es ist von Erfolg gekrönt gewesen. Vor zehn Tagen habe ich es erhalten, aber um des... theatralischen Effekts habe ich bis heute gewartet. M. Jean Valjean, ich habe hier Ihr neues Leben." Er reichte Valjean die Mappe.

Dieser nahm die Mappe entgegen und schlug sie auf. Er überflog die wenigen Zeilen, las sie noch einmal und noch einmal. „Wie..." Valjean versagte die Stimme, aber er versuchte es erneut. „Wie hast du... Javert, du..." Es war unmöglich weiterzusprechen, denn die Entbehrungen, Demütigungen und die Verzweiflung von vierzig Jahren in Haft und auf der Flucht verlangten ihr Recht. Valjean begann, hilflos gegen die aufsteigenden Tränen, zu weinen.

Javert zog ihn an sich, barg seinen Kopf an seiner Schulter und hielt ihn einfach nur fest. Es kümmerte ihn nicht, daß sein Rock und das so sorgfältig geknotete Halstuch innerhalb von Minuten durchnäßt waren, ebensowenig, wie es ihn kümmerte, daß auch in seinem Hals ein Kloß saß.

Es dauerte lange, bis Valjean sich wieder beruhigt hatte und den Kopf hob, um Javert anzusehen.

„Wenn ich eine solche Reaktion vorausgesehen hätte, dann hätte ich mir überlegt, dir die Mappe zu geben," murmelte Javert. „Dich weinen zu sehen, ist zuviel für mich."

„Dann hätte ich das vielleicht schon vor dreißig Jahren versuchen sollen." Das Schluchzen war aus Valjeans Stimme noch nicht verschwunden, aber er lachte durch die Tränen hindurch. „Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber ich danke dir."

Javert zog sein Taschentuch hervor und reichte es Valjean. „Es ist vorbei, du bist frei, keine Flucht mehr."

„Keine falschen Namen mehr," flüsterte Valjean, während er sich die Tränen abwischte. „Ich bin Jean Valjean. Endlich wieder und für alle."

Valjean und Javert blieben noch lange aneinandergelehnt auf der Brücke stehen und sahen zu, wie über Paris die Sonne aufging. Für beide war es der erste Morgen, über dem kein Schatten der Vergangenheit mehr lag. Sie waren endlich angekommen in der Gegenwart.