Kapitel IX


Ein unfreiwilliger Laut, fast schon ein gequältes Stöhnen, dringt mir über die Lippen, als ich das nächste Mal die Augen wieder aufschlage. Die Luft ist stickig und das Gefühl von verrutschter, spannender Kleidung auf meiner Haut ekelt mich an. Ich schlafe nie mit mehr als meiner Shorts. Klamotten sind zu unbequem. Ich sehne mich nach einer Dusche und mein kratzender Hals lässt mich husten als ich mich aufsetze, mir verschlafen mit der Hand übers Gesicht reibe. Nicht mein Bett. Couch - Squalls Zimmer. Und dann kommen die Erinnerungen von letzter Nacht zurück. Mein Blick zuckt zum Bett hinüber und da sitzt er. Squall ist bereits wach, sitzt im Schneidersitz auf dem Bett, die weiße Decke über den Beinen ausgebreitet, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Die Hände liegen in seinem Schoß, regungslos und es scheint so, als sitze er dort schon eine Weile, in Gedanken versunken, bis mein Aufwachen ihn zurück in die Realität geholt hat.

Ich schwinge die langen Beine von der Couch, fahre mir notdürftig durch die Haare und lehne mich zurück. "Hey", begrüße ich ihn, immer noch heiser. Es fühlt sich unangenehm an zu sprechen. Das gezwungene Schlucken schafft kaum Abhilfe. Ich verschränke die Hände und stütze die Ellenbogen auf den Knien ab, leicht vorgebeugt und überlege, was ich zu gestern sagen soll. Oder ob ich überhaupt etwas dazu sagen sollte. In diesem Moment kommt Doc ins Zimmer, mustert mich kurz, dann Squall auf dem Bett.

"Endlich wach? Du musst ziemlich müde gewesen sein." Das vertraute Leuchten von Zauber lässt mich aufschauen. Squalls tägliche Energieration.

"Wie spät ist es?", will ich wissen.

"Fast elf. Ich war vorhin schon hier, aber dich scheint nichts so leicht zu wecken." Eigentlich stimmt das nicht. Ich muss schon ziemlich fertig gewesen sein, wenn ich so tief geschlafen habe. Wenn einem überall so viel Feindseligkeit entgegenschlägt wie mir seit dem Hexenkrieg, kann man sich gesunden Tiefschlaf nicht zu oft erlauben. Vielleicht macht mich der Garden zu weich. Das Gefühl von Sicherheit habe ich nicht überall. Ha, wie gut, dass das bald ein Ende findet. Wirklich großartig.

"Was soll ich sagen? Ich sehe nicht umsonst so unverschämt gut aus. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf", scherze ich, sehe von meiner Position auf und grinse verschlagen. Doc schenkt mir ein kurzes, spöttisches Lachen, hat sich wieder zu mir umgedreht. Hoffentlich sieht man mir nicht an, wie aufgewühlt ich noch immer bin.

"Quistis meinte, du bleibst heute hier. Es sei denn du möchtest zurück in dein Zimmer." Die Wahl fällt mir nicht schwer.

"Hey Doc, wer könnte schon auf meine Gesellschaft verzichten?" Es ist nicht so, als könnte ich ungehindert im Garden herumlaufen.

"Mit deinem Ego wirst du zumindest nicht introvertiert, mein Junge. Ich lasse dir was zu essen bringen."

Ich breite die Arme aus und lege sie auf der Rückenlehne der Couch ab, schaue zu ihr auf. "Fast schon wie Zimmerservice. Nur die Unterhaltung könnte besser sein", antworte ich und nicke in Squalls Richtung. Sie folgt meinem Blick und ich merke schnell, dass sie skeptisch wegen den gelösten Riemen ist. Ich bezweifle allerdings, dass der gute Leonhart in der Lage ist, allein wegzulaufen. Wohin sollte er gehen? Und vor allem, bis er seinen Weg gefunden hat, wohin auch immer, werden wir ihn längst eingeholt haben.

"Ich hoffe ihr Zwei legt es nicht auf Streit an. Ich habe heute keine Zeit dafür. Du hast mich verstanden, nicht wahr Seifer?" In ihren Augen werden wir wohl ewig die zwei ihre Grenzen suchenden Teenager bleiben.

"Wir sind friedlich", versichere ich, was ihr auch sagt, dass es mit Squall zu keinen Zwischenfällen gekommen ist. Ich frage mich was er Quisty getan hat, dass man ihm so viel Misstrauen entgegenbringt. Doc nickt mir zu und verlässt den Raum um nach ihren anderen Patienten zu sehen. Squall sitzt immer noch unverändert auf seinem Bett, scheinbar wieder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Frühstück klingt nach einer guten Idee, aber zunächst brauche ich etwas anderes. Das Verlangen danach mir das schwarze Shirt gleich über den Kopf zu ziehen unterdrückend, stehe ich von der Couch auf, strecke die Arme hoch und versuche verspannte Muskeln zu lockern. "Gleich zurück", informiere ich meinen schweigsamen Zimmergenossen und folge Doc hinaus.

"Gab es Probleme", fragt sie mich, als sie von ihren Unterlagen am Schreibtisch aufsieht. Ich schüttle den Kopf, schaue mich um.

"Er ist friedlich. Meiner Meinung nach hat sich nichts verändert." Ob das stimmt, kann ich nicht wirklich beurteilen, aber es gibt keinen Grund Besorgnis zu wecken. "Doc, was dagegen wenn ich mir was zum Umziehen besorge?" Sie mustert mich kurz, als überlege sie tatsächlich, ob ich meine Flucht plane.

"Ich kann dir jemanden rufen, der dich zu deinem Zimmer begleitet. Oder wir können dir was bringen lassen." Über das Angebot die Stirn runzelnd, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür.

"Wie lange dauert mein Aufenthalt hier?" Zeit ein paar Dinge zu klären. "Wie lange bis Ferris wieder aufwacht?"

"Das kann ich nicht genau sagen. Physisch ist er in Ordnung. Die Phönixfeder kam rechtzeitig. Wir können nur warten. Was die Befehle angeht, so bleibst du für weitere Untersuchungen erst einmal hier."

"Uh huh", antworte ich ein wenig nachdenklich, streiche mir das Haar aus der Stirn. "Ich sollte mir ein paar Sachen holen", beschließe ich dann.


„Fünf Minuten, Almasy. Mach es kurz." Damit betrete ich allein mein Zimmer. Es ist stickig und kam mir noch nie so wenig einladend vor wie jetzt. Im Grunde gibt es hier drin nichts was ich wirklich vermissen würde. Gerüstet mit einer Tasche die ich aus dem untersten Fach des Kleiderschranks hole, beginnt meine systematische Suche nach Dingen, die in den nächsten Tagen nützlich sein könnten. Ein paar Sachen aus den übrigen Fächern des Schrankes, ein paar Bücher aus dem Regal daneben, Utensilien aus dem Bad. Mein Blick wandert einmal mehr zum leeren Platz neben der Tür. Keine Zeit dafür. Was noch, was noch? Das Klopfen an meiner Tür holt mich wieder aus meinen Gedanken. „Zwei Minuten." Wenn der junge Mann dort draußen nicht das nötige Talent eines Berufssöldners hat kann er es immer noch als Zeitansager versuchen. Zur Hölle damit.

„Hey", rufe ich und die Tür geht auf. Kleiner Bastard hat mir tatsächlich über die Schulter geschaut als ich den Türcode eingegeben habe. Was sagt man dazu. „Ich brauch 'ne Dusche. Dauert nicht lang." Ich sehe ihm an, dass er alles andere als einverstanden damit ist. Seufzend lasse ich die Schultern hängen und bemühe mich um mein niedergeschlagenstes Gesicht. „Komm schon." Um das ganze optisch zu untermauern rümpfe ich die Nase als sei ich von meinem eigenen Zustand angewidert, als ich eine Handvoll meines Shirts greife und daran rieche.

„Na schön. Aber beeil dich." Hmm, ich könnte ihn fast mögen. Mit einem schiefen Grinsen ziehe ich mir das Shirt über den Kopf und werfe es aufs Bett. Der junge SEED in Uniform vor mir schaut einen Moment zulange zu mir herüber, eindeutig interessiert an dem was er sieht. Könnte reiner maskuliner Neid sein, als seine Augen über mein Sixpack wandern, an meinen Armen hinauf, könnte aber auch mehr sein. In jedem Fall schmeichelt es meinem Ego. Zum Dank dafür strecke ich mich ausgiebig während ich mich zur Badezimmertür umdrehe, gebe ihm eine gute Show und einen ungestörten Blick bevor sich die Tür hinter mir schließt.

Das heiße Wasser tut unglaublich gut nach dieser Nacht. Und ehrlich gesagt ist sie bitter nötig. Eitelkeit hin oder her, ich liebe einfach das Gefühl frisch geduscht zu sein. Ich habe nichts gegen schweißnasse Haut nach einem guten Kampf oder Training und sicherlich auch nicht nach gutem, hitzigem Sex aber die Dusche danach ist einfach fabelhaft. Hmm… vergessen neue Sache mit ins Bad zu nehmen. Sei's drum. Mit dem weißen Handtuch fest um meine Hüften gewickelt öffne ich die Tür zu meinem Zimmer wieder und sehe mich um. Mein Wachhund steht noch immer neben der Tür und wartet. Zumindest hat er jetzt den Anstand aus dem Fenster zu sehen während ich mich anziehe. Ein kurzer Blick in den Spiegel gibt mir Aufschluss über meinen jetzigen Zustand. Eindeutig besser. Ich schultere meine Tasche und verlasse mein Zimmer, unschlüssig, ob ich überhaupt noch einmal zurückkommen werde. Meine Eskorte wartet bereits und wir machen uns auf den Weg zurück zum Lazarett.


Dort angekommen wartet schon mein - eigentlich sollte ich es um diese Uhrzeit nicht mehr so nennen - Frühstück auf mich. Garden kennt kein Pardon wenn es um die Ernährung seiner SEEDs geht. Auch wenn beinahe alles aus der Mensa abgehärtete Geschmacksnerven bedarf, um halbwegs nicht angewidert durch den Tag zu kommen, so kann man trotzdem davon ausgehen, dass in all dem Zeug zumindest der nötige Nährwert enthalten ist. Squall sitzt immer noch auf dem Bett. Nach der letzten Nacht weiß ich zumindest, dass er noch laufen kann, auch wenn er es nicht besonders gern zu tun scheint. Aber es gibt mir zu denken. Ich weiß, zu was Squalls Körper früher einmal fähig gewesen ist. Ich weiß, dass er einmal mein bester und wohl auch einziger Gegner unter den Anwärtern gewesen ist. Und ich weiß, dass diese Zeiten vorbei sind. Es ärgert mich, macht mich wütend.

„Squall." Eine leichte Kopfbewegung zeigt mir, dass er mich gehört hat. Ich stehe von der Couch auf und trage das Tablett zum Bett hinüber. Ich lasse genug Platz zwischen uns, damit er keinen Grund hat sich unsicher zu fühlen. Aber nach letzter Nacht weiß ich auch, dass obwohl Squall bisher darauf bedacht war sich von mir zu distanzieren, er trotzdem noch im Stande ist sich Sorgen um mich zu machen. Wenn dem so ist bedeutet das allerdings auch, dass wir immer noch zumindest in einem Teil der Beziehung sind, in der wir zusammen aufgewachsen sind. Trotz allem was zwischen uns passiert ist. Es wird Zeit, dass ich mich dementsprechend verhalte. Squall Leonhard ist immer noch mein kleiner Bruderersatz, das ähnlichste was ich als besten Freund aus meiner Kindheit bezeichnen würde. Und als Älterer von uns beiden liegt es an mir ein Auge auf ihn zu haben, neben anderen Dingen wie: ihn zurechtzustutzen, mich über ihn lustig zu machen und der obligatorischen Rauferei unter zwei Halbstarken mit zu viel aufgestauter Energie.

„Ich weiß ja nicht für wen die mich halten, aber wer zur Hölle soll all das essen? Wenn jetzt auch noch das Training wegfällt, kriege ich nicht einmal die Hälfte davon runter." Einen Blinden zu belügen ist vielleicht nicht die nobelste aller Taten und tatsächlich ist auf meinem Tablett nicht mehr als das, was jeder SEED-Anwärter zum Frühstück bekommt. Aber das muss er nicht wissen. „Nimm das." Ich fasse ihn am Handgelenk und reiche ihm das Sandwich, das für mich gedacht gewesen war. Er scheint unschlüssig zu sein. „Glaub mir, du siehst aus, als hättest du es wirklich nötiger als ich", helfe ich ein wenig nach. Ihm ein wenig mehr Freiraum verschaffend, stehe ich auf und suche mir ein Buch aus der Tasche die ich mitgebracht habe. Ein kurzer Blick über die Schulter lässt mich zufrieden feststellen, dass mein Zimmergenosse tatsächlich isst. Das war einfacher als gedacht. Mit dem Buch in der Hand beziehe ich Stellung am Bettende und greife mir den Apfel vom Tablett um meine kleine Lüge nicht sofort auffliegen zu lassen. Das Geräusch von umgeblätterten Seiten gibt Squall die Gewissheit, dass ich tatsächlich beschäftigt bin und ihn nicht beim Essen anstarre. Trotzdem wandert mein Blick viel häufiger zu ihm, als Squall wohl recht wäre. Der Kaffee ist mein und ich bin nicht geneigt ihn herzugeben. Kaffee am Morgen ist etwas an dem ich nicht vorbeikomme. Am Ende allerdings habe ich beinahe mein ganzes Frühstück Squall überlassen.