Kapitel 7
Verstehen
Weihnachten lief glatt wie Seide. Ich hatte befürchtet, daß ich nicht für jeden ein Geschenk finden würde, denn dieses Jahr habe ich jemanden zu meiner Liste hinzugefügt: Draco Malfoy.
Ja, ich habe ihm ein Weihnachtsgeschenk besorgt. Der Gedanke war absurd: Ich, und Draco Malfoy etwas schenken. Was schenkt man jemandem, der sich alles leisten kann? Aber ich habe ihm eine Kleinigkeit besorgt, nur um ihm meine Dankbarkeit zu zeigen. Ich habe mich nicht getraut, es abzuschicken. Nicht, solange er noch zu Hause ist! Wer weiß, was für Schwierigkeiten entstehen könnten, sollten seine Eltern das Geschenk sehen. Wie dem auch sei, die Schüler kommen heute mit dem Zug zurück. Morgen fängt der Unterricht wieder an.
Ich freue mich tatsächlich ihn wiederzusehen.
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Ginnys Augen schweiften über die Menge, auf der Suche nach einem bestimmten blonden Slytherin. Er stach hervor wie ein wunder Daumen – was immer das heißen sollte.
Wenn man vom Teufel spricht … In diesem Moment kam er durch die Tür, die Lippen zusammengepreßt. Er saß neben Crabbe, der die Ferien auch zu Hause verbracht hatte. Sie begannen eine Unterhaltung, wahrscheinlich darüber, was sie so vorhatten. Dann setzte sich Pansy Parkinson neben Draco. Ginny bemerkte, daß er sich von ihr wegneigte, so daß er Crabbe mehr zugewandt war. Pansy versuchte ununterbrochen, seine Aufmerksamkeit zu erlangen, doch dann blaffte Draco sie an, woraufhin Pansy zurückwich. Was um alles in der Welt hatte er gesagt?
Dann blickte Draco von seinem Essen auf. Bildete sie es sich ein, oder sah er sie mit verengten Augen an? Es war ein sehr seltsamer Blick. Er unterhielt sich weiter mit Crabbe. Ginny beschloß, ihn an diesem Abend zu besuchen.
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Draco starrte auf das kleine Päckchen auf seinem Bett. Es war in braunes Papier verpackt und dreifach mit Schnur umwickelt. Er war gerade vom Essen in der Großen Halle zurückgekehrt. Er hatte sie gesehen und schnell den Blick abgewandt. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Seit Neujahr betrug die Zahl seiner Opfer sieben. Ein Paar, das für den Geheimdienst des Ministeriums gearbeitet hatte.
Er riß die Karte von dem Päckchen ab und las:
Für Draco Ich hoffe, Du kannst hiermit verlorene Stunden nachholen. Schöne Ferien! Ginny
Draco zerriß die Verpackung. Es war eine Packung Schnarchtee – „Garantiert Ihnen volle neun Stunden Schlaf!"
Also hatte sie gewußt, daß er aufgeblieben war, um für die UTZs zu lernen. Und sie konnte sich wahrscheinlich denken, daß er auch während der Ferien unter Schlafmangel gelitten hatte, wegen seines … „Bereitschaftsdienstes". Es war eines der wenigen durchdachten Geschenke, die er je bekommen hatte – neben den Büchern seiner Mutter. Verdammt, sie hatte ihm etwas geschenkt.
Ein Klopfen kam von der Tür. Draco legte das Geschenk aufs Bett und ging zur Tür. War es ein Schüler oder ein Lehrer?
„Ja, bitte?" rief er für den Fall, daß letzteres zutraf. Er öffnete.
„Das fasse ich einfach nicht!" Pansy stürmte herein, geradewegs an ihm vorbei. „Wie kannst du es wagen, mich so zu behandeln? Ich bin nicht der Dreck unter deinen Fingernägeln!"
„Meine Fingernägel sind nicht schmutzig." Er rollte mit den Augen. Aber sie ignorierte seinen Kommentar.
„Ich grüße dich mit ‚hallo' und du sagst mir, ich soll es mir sonstwohin stecken? Was ist dein Problem!?"
„Du." Er stieß die Tür zu. „Ein kleiner Rat, Parkinson. Wenn du einen anonymen Brief schreibst, verstell deine Handschrift." Es dauerte einen Moment, bevor sie sprach.
„Wovon redest du?"
„Ich hab die „Nachricht" gesehen, die du meinem Vater geschickt hast", knurrte er. „Ich bin ja so froh, daß du dir Sorgen machst."
„Nun, das tue ich", erwiderte Pansy beleidigt. „Und ich hab keine Nachricht."
„Ach, hör schon auf! Sogar ein Weasley wäre klug genug, seine Schrift zu verstellen. Ich würde deine mädchenhafte Handschrift überall wiedererkennen!" Sie lächelte höhnisch.
„War ja klar, daß du die Weasleys erwähnen würdest. Ich hätte nicht gedacht, daß sie dir so wichtig sein könnte. Du bist ein Dummkopf."
„Und du bist ein gefühlloser, hirnloser Idiot", gab Draco zurück. „Das ist nichts Neues. Jetzt verschwinde, bevor du mich ansteckst."
„Warum? Willst du mich nicht hier haben, wenn deine rothaarige Kleine kommt?"
Es klopfte an der Tür. Draco packte Pansy am Unterarm und zerrte sie hinter die Tür.
„Wenn du auch nur geräuschvoll atmest", brummte er und drückte sie an die Wand, „ werde ich dir die Lunge durch den Mund rausreißen."
Pansy biß sich auf die Lippe, und Draco öffnete die Tür. Wie konnte es anders sein, Ginny stand vor seiner Tür. Ein sanftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. ‚Oh Gott, bitte sieh mich nicht so an', flehte er im Stillen.
„Hallo Draco", grüßte sie ihn.
Er blieb regungslos stehen und hielt die Tür nur halboffen. Sie räusperte sich.
„Mach dir keine Sorgen, mir ist niemand gefolgt. Ich wollte nur sehen, wie es dir geht." Er schwieg, also fuhr sie fort. „Wie waren deine Ferien?" Ginny konnte die Spannung zwischen ihnen spüren, und sie trat von einem Fuß auf den anderen. Draco analysierte die Situation. Ginny wollte Zeit mit ihm verbringen, aber Pansy war in seinem Zimmer. Er wußte, er mußte Pansy ein für allemal zum Schweigen bringen. Vielleicht, wenn er Ginny sagte, er würde sie später treffen … Das würde Pansy nicht davon abhalten, Gerüchte zu verbreiten. Dann wäre er ganz sicher dran und Ginny auch. Er umklammerte den Türgriff fester. Es ging nicht anders.
„Versuchst du dich an Smalltalk?"
„Ahmm … gewissermaßen", stammelte Ginny. „Erinnerst du dich, was wir besprochen haben, bevor du abgereist bist?"
‚Jeden Tag.' „Nicht wirklich. Muß mir entfallen sein. Das passiert mir mit unwichtigen Dingen."
Ginny schluckte. „Geht's dir gut?"
„Mir geht es blendend. Und das ist ein Wort, das mir bei deinem Anblick nicht einfällt." Er lachte in sich hinein.
Ginny sah ihn unter zusammengezogenen Brauen heraus an. War das hier derselbe Draco, der sanft ihre Wange berührt und Schneeflocken weggewischt hatte?
„Was ist los mit dir?"
„Nichts." Und Draco grinste das hämische Grinsen, das sein Markenzeichen war. „Weißt du, Wiesel, es hat Spaß gemacht, aber hast du ehrlich geglaubt, daß ich ernsthaft deine Gesellschaft wollen würde?" Er lachte. „Das hast du, oder? Das ist süß." Ginny klappte der Unterkiefer leicht herunter.
„Ich … Entschuldige, daß ich dich gestört habe."
„Ok, und jetzt geh und komm mir nie wieder näher als sechs Meter. Du bist eine Verschwendung wunderbar sauberer Luft." Und er schlug die Tür zu.
Ginny stand betroffen auf der Stelle. Was war gerade geschehen? Vor zwei Wochen waren sie befreundet gewesen. Jetzt war sie Luft für ihn. War ihm in den Ferien etwas zugestoßen? Warum war er ihr gegenüber so feindselig? Ginny bemerkte, daß sie durch das Portraitsloch kletterte. Ihr liefen bereits die Tränen übers Gesicht und hinterließen Spuren auf ihren Sommersprossen.
Ron, der auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum saß, begrüßte sie.
„Hi, Gin." Er stockte, als er ihr Gesicht sah. „Was ist!?"
„Stop!" rief sie. „Hör auf, Ron! Frag mich nicht, was passiert ist."
„Aber …"
„Frag mich nicht, wie mein Tag war oder wo ich war", flehte sie. „Frag mich gar nichts. Bleib einfach da sitzen."
Ron, unsicher was er tun sollte, nickte nur. Ginny setzte sich zu ihm und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Sie begann, heftiger zu weinen. Alles, was Ron tun konnte, war, einen tröstenden Arm um sie zu legen.
‚Du hast dir was vorgemacht', rügte eine Stimme in ihrem Kopf. ‚Du bist selber Schuld.' Es gab keine Verpflichtungen. Das hatte sie ihm selbst gesagt. Sie hatte ihm gesagt, er solle es einfach sagen, wenn er sie nicht mehr sehen wolle. Und genau das hatte er getan. Es gab keine Hintergedanken, es waren keine Gefühle beteiligt. Aber sie konnte das Gefühl nicht unterdrücken, das seine Berührung in ihr geweckt hatte. Es war elektrische Magie. Sie spielte die Szene in Gedanken jede freie Minute durch, seit er gegangen war. Keine Erpressung, Abmachungen oder Verpflichtungen …
Ginny weinte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß es so wehtun würde.
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Sie blieb im Bett, die Decke bis an die Nasenspitze gezogen. Ginny wollte heute nicht zum Unterricht gehen. Sie wollte nicht zum Frühstückstisch gehen. Sie würde einfach in ihrem Bett bleiben und mit niemandem reden.
Ginny runzelte die Stirn. sie wußte, sie mußte aufstehen. Wenn sie das nicht tat, würde Ron sie ausfragen, was passiert sei. Hermine würde ihr damit auf die Nerven gehen, daß arbeiten für die Schule sie auf andere Gedanken bringen würde. Harry würde wahrscheinlich zu ihren Eltern gehen und ihnen erzählen, daß ihre kleine Tochter ein schluchzendes emotionales Wrack geworden war. Was war los mit ihr? Warum saß sie hier und blies Trübsal? Sie waren schließlich kein Liebespaar oder so was! Sie war stärker als das!
Am Frühstückstisch setzte sie sich neben Hermine, mit dem Rücken zum Slytherin–Tisch. Ihre Augen waren rot und verquollen und ihre Haut blaß.
„Geht's dir wieder gut, Gin?" fragte Ron.
Ginny lächelte nur. Sie wollte nicht ein Wort darüber verlieren. Es war schließlich nicht so, daß Malfoy wichtig wäre. Genau, MALFOY. Er hatte sie Wiesel genannt, also besser noch: Frettchen. Das Frettchen war unwichtig.
Ein Waldkauz schoß auf den Gryffindor–Tisch nieder. Im Sturzflug ließ er ein Päckchen direkt vor Ginny fallen.
„Merkwürdig … Es ist ein bißchen spät für Geschenke", bemerkte Hermine.
Ginny nickte zustimmend und zog die Karte hervor. Sie öffnete sie, und ihre Augen weiteten sich:
An Red
Sie stand hastig auf und ging hinaus, auf die Statue von Godric Gryffondor zu.
An Red, Ich weiß, es ist spät für Weihnachtsgeschenke. Versuch einfach, es zu verstehen.
Ginny holte tief Luft. Draco schickte ihr ein Weihnachtsgeschenk? Was stimmte nicht mit ihm? Hatte er nicht gerade alles getan, um sie zu meiden? Sie holte noch einmal tief Luft und riß das Papier ab.
Es war das herrlichste Buch, das sie je gesehen hatte. Es war in rotes Leder gebunden, mit einem Elfenbeinrahmen auf dem Umschlag. Auf der Vorderseite stand in goldener, altenglischer Kalligraphie Shakespeares Sonette. Sie bemerkte eine Delle in dem Buch, als wäre etwas zwischen die Seiten gezwängt worden. Als sie es aufschlug, fand sie ein verblichenes schwarzes Haarband. Es dauerte einen Augenblick, bis sie erkannte, daß es das war, das sie in der Schneeballschlacht mit Draco verloren hatte. Bedeutete das, er hatte es die ganze Zeit aufgehoben?
Ginny las das Sonett, das sie aufgeschlagen hatte.
Gesteh ichs nur: gesondert bleiben wir,
Wie auch unteilbar unsre Herzen schlagen.
So kann ich ohne Hilfe dann von dir
Die Flecken meines eignen Wesens tragen.
In unsern Herzen ist nur ein Gefühl,
In unsern Leben zwistiger Verdruß:
Zwar irrt er nicht der Liebe reines Ziel,
Doch süße Stunden raubt er dem Genuß.
Nicht überall darf ich mich zu dir kehren,
Wo mein beweint Vergehn dir Schmach zu bringen schien
Noch du mit öffentlicher Gunst mich ehren,
Willst du nicht deinem Namen Ehr entziehn.
Doch, tu es nicht! Ich halte so dich wert,
Daß, wie du selbst, mir auch dein Ruf gehört.
Als sie zu Ende gelesen hatte, holte sie tief Luft. Wenn dieses Gedicht seine Gefühle ausdrückte …
Sie mußte ihn sehen, keine Frage. Sie wünschte, sie könnte. Aber sie wußte, daß es nur alles komplizieren würde, wenn sie das tat. Auch wenn er kein Wort sagte oder irgendwas erklärte, das Gedicht schien ihr alles zu sagen: Sie bedeutete ihm viel, aber … Wie auch immer, es tat trotzdem weh. Ginny konnte den leichten Schmerz in der Brust nicht verleugnen.
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Ginny rannte. Sie hatte verschlafen und hastete zu Verwandlung. Als sie um eine Ecke in eine leere Halle einbog, riß ihre Tasche an der Unterseite. Sie fluchte vor sich hin und kniete sich hin, um ihre Bücher einzusammeln.
Plötzlich blickte sie auf und sah diese zu vertrauten grauen Augen auf sich gerichtet. Draco hockte neben ihr und hob ein kleines Buch auf. Ginny versuchte, die übrigen Bücher mit den Armen zusammenzuhalten, als sie aufstand.
„Dra… Malfoy."
Draco stand auf, sah das Buch an, dann wieder sie. Er musterte das rote Lederbuch.
„Shakespeares Sonette", sagte er. „Liest du das für Muggelkunde?" Ginny schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich trage es immer bei mir." Sie schenkte ihm ein leises Lächeln. „Es bedeutet mir sehr viel."
Draco hob eine Augenbraue, als wäre er leicht überrascht. Dann grinste er, legte das Buch auf den gewaltigen Stapel in ihren Armen und ging davon.
Ende Teil 1
Anmerkungen:
Das hier ist vorerst das letzte Kapitel. Aber kein Grund zum Verzweifeln, es gibt eine Fortsetzung. Der Titel lautet "Undivided".
Im Original sagt Pansy eigentlich nicht rothaarige Kleine, sondern Raggedy-Ann (etwa in der Mitte dieses Kapitels). Wenn ihr das mal bei Google sucht, werdet ihr sehen, was das ist. :D