Eine neue Zuflucht

Fury kletterte über eine Felskante, streckte den rechten Arm aus und zog sich an einem hervorstehenden Stein nach oben. Ein kalter Wind pfiff in ihren Ohren, doch die bereits hoch am Himmel stehende Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen direkt auf ihre Haut und bildete einen seltsam angenehmen Kontrast zur abweisenden Kälte des Berges. Fury legte eine Hand über die Augen und schaute sich um.

Wie ein Adler saß sie dort oben auf dem schmalen Grat, der über den Hang hinausstach und ihr eine bessere Sicht der Umgebung ermöglichte. Dann, als sie genug gesehen hatte, ließ sie sich plötzlich nach hinten fallen und machte einen Rückwärtssalto, bevor sie elegant auf dem Boden landete. Nora konnte ein erschrockenes Keuchen nicht unterdrücken.

„Wie sieht´s aus?", fragte Markus. Er hatte sich während der Pause neben Anne hingekniet, die mit dem Rücken an einem Baum hinabgerutscht war und stand nun wieder auf. Seine Stiefel bohrten sich in den Schnee, als er ein paar Schritte auf Fury zuging.

„Gut", antwortete die Reiterin. Sie wischte sich mit der Hand den Schnee von der Schulter und machte dann eine auffordernde Bewegung. „Gehen wir, es ist nicht mehr weit."

Nora drehte sich bereits um und wollte Fury tief in ihre Jacke gehüllt folgen, als Markus sie zurückhielt.

„Nein"

Fury hielt inne und schaute ihn fragend an.

„Anne braucht eine Pause", sagte er: „Wir machen Rast. Sobald wir wieder zu Kräften kommen, gehen wir weiter."

Mit diesen Worten setzt er sich neben Anne auf dem Boden. Fury hingegen blieb stehen. Sie waren bereits den gesamten Morgen marschiert und die Sonne, die sich ähnlich zu jener auf der Erde zu verhalten schien, näherte sich bereits ihrem Zenit. Schon vor einer Stunde hatten sie die Waldgrenze erreicht und waren seither stets zwischen kleinen, doch immer größer werdenden Bäumen entlanggewandert. Manche hatten Nadeln, andere waren kahl und abgestorben. Doch die Ausläufer des Waldes bedeuteten, dass sie sich einem Gebiet näherten, in dem Leben wieder möglich war und das war eine gute Nachricht.

„Siehst du die Wolken?", fragte Fury und zeigte nach rechts hinaus in den Himmel. Eine graue Masse braute sich dort zusammen und es war schwer zu sagen, in welche Richtung sich der Sturm bewegte. Markus folgte ihrem Blick, sagte jedoch nichts.

„Wenn die uns einholen bevor wir von diesem Berg runter sind, dann wars das mit euch", rief Fury ungeduldig. Nora schaute mit ängstlichen Augen zu ihr auf und selbst Anne schien sich erschöpft zu regen, bevor Markus eine beruhigende Hand auf ihre Schulter legte.

„Wir rasten. Dann gehen wir weiter."

Seine Worte hatten etwas Finales, etwas Bestimmendes in sich und für einen Moment glaubte Nora, dass ihm Fury zornig widersprechen würde Die flammenden Haare der Reiterin wehten im Wind. Doch dann zuckte sie nur mit den Schultern und drehte sich um. Schweigend ging sie hinaus an die Felskante und spähte in die Ferne, die Arme vor der Brust verschränkt.

Nora schaute ihr einen Moment lang nach, bevor sie sich neben Markus auf den Boden setzte. Der Schnee war immer noch tief, doch hier unten begann die Sonne bereits an ihm herum zu fressen und so hatte die weiße Decke mit jedem Schritt, den Nora getan hatte an Tiefe verloren. Sie hörte ihren eigenen Atem, der jedoch von Annes erschöpften Keuchen übertönt wurde.

„Wie fühlst du dich?", fragte Markus und beugte sich etwas nach vorne. Anne hob ihren Kopf und bemühte sich um ein flaches Lächeln.

„Geht schon", flüsterte sie zwischen zwei Atemzügen. Sie war schwach, Nora konnte es genau sehen. Aber das waren sie alle. Der Abstieg hatte Anne einen Großteil ihre Kräfte gekostet, doch aus ihren Augen sprach neben Müdigkeit auch Durchhaltewillen. Sie war entschlossen weiterzugehen.

„Nur damit du´s weißt", sagte Markus: „Wir stehen diese Sache gemeinsam durch und passen aufeinander auf. Wenn du Hilfe brauchst zögere keinen Moment zu fragen."

„Danke", murmelte Anne. Sie setzte sich etwas angenehmer hin und legte den Kopf in den Nacken, die Augen geschlossen. Immer noch hob und senkte sich ihre Brust unter schweren Atemzügen. Markus schaute kurz hinüber zu Fury, die ihnen den Rücken zugedreht hatte und gedankenverloren in die Ferne starrte. Ihr rechtes Bein war etwas angewinkelt auf einem Fels platziert. Sie hielt Wache und wie immer schenkte sie ihnen kaum mehr Aufmerksamkeit als wirklich nötig. Es sollte ihm recht sein.

„Leonard, der alte Mann." Markus bemühte sich um eine behutsame Stimme. „Kanntest du ihn?"

Anne öffnete die Augen wieder und schaute ihn an. Er konnte Trauer erkennen, doch sie hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich war die Frau bereits zu sehr an Verlust gewöhnt.

„Ja", murmelte Anne: „Flüchtig. Er hat mich und meinen Mann vor drei Wochen in einem U-Bahntunnel gefunden. Wir hatten uns dort vor den Dämonen versteckt. Dachten schon, sie würden uns alle Zerfleischen, als er durch einen Spalt gekrochen kam und uns einen Weg nach draußen gezeigt hat. Er hat uns drei das Leben gerettet." Sie legte eine kurze Pause ein und seufzte. „Sein Tod ist bedauerlich. Aber so ist es halt in der Apokalypse."

„Es tut mir leid", murmelte Markus. Dann hob er den Kopf und strafte die Schultern. „Ist dein Mann auch durch das Portal gegangen?"

„Ja"

„Dann werden wir ihn finden", sagte Markus bestimmt: „Ich bin sicher er ist zusammen mit den anderen irgendwo unten im Tal herausgekommen."

Natürlich hatte er keine Ahnung was mit den anderen Menschen passiert war, doch er wusste, dass Anne jetzt Hoffnung brauchte, mehr als alles andere. Vielleicht wäre es dazu auch besser, das Thema zu wechseln.

„Wie seid ihr eigentlich nach Haven gekommen? Hat Leonard euch dorthin gebracht?"

„Nein", antwortete Anne: „Das war Fury. Wir haben sie in einem Hochhaus getroffen, in das wir geflüchtet sind, nachdem wir uns an ein paar Dämonen vorbei geschlichen hatten. Ich dachte bereits jetzt wär´s aus mit mir, als sie mich entdeckt hat mit ihren weißen Augen."

„Zum Glück bist du an die Richtige geraten", kommentierte Nora. Anne drehte ihr den Kopf zu.

„Ja, zum Glück."

„Whoa, ich weiß noch wie sie mich entdeckt hat", erzählte Nora und schüttelte sich, als sie sich daran erinnerte: „Ich habe mich unter einem alten Krankenwagen versteckt, nachdem ich ein paar Dämonen entwischt bin. Ich weiß gar nicht mehr wie lange ich da gelegen bin. Jedenfalls habe ich Schritte gehört und dann hat sie plötzlich den Wagen aufgehoben. Einfach so, als wäre er aus Karton. Und als ich sie gesehen habe, habe ich geschrien wie am Spieß. Wenn ich daran zurückdenke wundere ich mich beinahe, dass sie das Auto nicht einfach auf mich zurückgedonnert hat."

Ein Grinsen flog über Noras Lippen und auch Annes Mundwinkel schossen in einem leichten Kichern nach oben. Die Heiterkeit war wie ein Leuchtfeuer in der Finsternis.

„Das muss schrecklich ausgesehen haben", lachte Markus und Nora bestätigte: „Ich dachte, sie wäre ein Dämon und würde mir den Kopf abreisen."

„Ich glaube, das dachten wir alle am Anfang", sagte Anne: „Wie hat sie dich eigentlich gefunden unter dem Auto?"

Nora dachte kurz nach, bevor sie antwortete: „Keine Ahnung."

„Du hast geweint."

Alle drei drehten sie ihre Köpfe hinüber zu der Reiterin, deren Stimme die Luft durchschnitt wie ein Schiff den Ozean. Fury drehte den Kopf ein wenig nach rechts, ohne ihnen allerdings ihr Gesicht zu zeigen.

„Wie ein kleines Kind. Das hätte jeder Dämon in einer Entfernung von zweihundert Metern gehört."

Markus hatte nicht erwartet, dass Fury ihnen zuhören würde. Die Reiterin war doch stets auf Abstand geblieben, sowohl im räumlichen als auch im sozialen Sinne. In den wenigen Momente, die er sie in Haven erlebt hatte, hatte sie sich niemals sonderlich für die Probleme der Menschen interessiert, abgesehen von ihrer bevorstehenden Vernichtung und auch da hatte sie ihr Einschreiten nur mit ihrer Aufgabe begründet, als Markus sie gestern in der Höhle gefragt hatte. Mitgefühl schien nichts damit zu tun zu haben.

Das Lächeln auf Noras und Annes Lippen war wieder verschwunden und auch Fury schwieg. Für eine ganze Weile war der Wind der lauteste Redner auf dem Berghang, bis schließlich Markus das Wort ergriff.

„Du hast wohl einiges erlebt."

Nora nickte stumm.

„Keine Sorge. Du bist nicht allein in dieser Hölle."

Anne tastete vorsichtig nach Noras Hand und ihre Finger verschränkten sich nach einem Moment. Dann drehte sie sich zu Markus hinüber.

„Hat sie dich auch zu Ulthane gebracht?"

„Nein" Markus schüttelte den Kopf. „Nachdem meine Mutter gestorben ist, habe ich mich in einem alten Hotel versteckt. Ich war sogar ziemlich lange dort, unbehelligt von Dämonen und Engeln und dergleichen. Aber die Mauern waren alt und drohten einzustürzen. Ich musste raus. Jones hat mich dann gefunden."

„Jones", murmelte Anne: „Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, ist er auf einen Dämon gesprungen und hat ihm in den Kopf geschossen."

„Glaubt ihr, er und Ulthane haben´s geschafft?", fragte Nora, doch Markus schüttelte den Kopf: „Tut mir leid, aber… Jones war zwar ein harter Brocken, aber er war auch nur ein Mensch."

Keiner der drei konnte sehen wie Furys linker Mundwinkel kurz nach oben zuckte, als sie an den bärtigen Mann zurückdachte.

„Jones…", lachte sie und drehte sich um. Die Menschen schauten auf. Fury stemmte die Arme in die Seite und ging zu den drei hinüber. „Vielleicht hätte ich mich auch tarnen sollen, dann hättet ihr mich nicht für einen Dämon gehalten."

„Tarnen?" Markus und Anne wechselten einen überraschten Blick. „Was meinst du damit?"

„Was ich damit meine ist, dass euer guter Freund Jones ein paar Jährchen älter ist, als ihr in einschätzt."

Fury konnte sich des Grinsens auf ihren Lippen nicht erwehren und eine kleine Flamme züngelte ihre orange leuchtenden Haare nach oben. Nora spürte die Hitze auf ihrer Haut. Keiner der drei verstand so richtig, was Fury damit meinte.

„Jones ist älter als ihr alle", sagte sie: „Viel älter. Er wurde vor tausenden von Jahren geboren und ist ein Wesen von unvorstellbarer Kraft. Aber wenn er auch durch das Portal gekommen ist, dann könnt ihr euch selbst davon überzeugen, sobald wir ihn finden."

Markus schaute Fury ungläubig an und Noras Mund klappte langsam auf. Anne hatte die Augenbrauen nach oben gezogen. Es schien den Menschen schwer zu fallen auch nur ein Wort, das aus dem Mund der Reiterin gekommen war zu glauben.

„Jones ist kein Mensch?", fragte Nora.

„Nein. Vielleicht erzähle ich euch ein anderes Mal über ihn, aber im Moment sollte uns der Sturm da drüben viel mehr interessieren." Fury zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Ich bin mir mittlerweile sicher, dass er in unsere Richtung kommt. Anne, bist du bereit weiterzugehen?"

Markus wollte bereits etwas sagen, doch die schwangere Frau kam ihm zuvor.

„Ja", keuchte sie und versuchte aufzustehen. Markus sprang ihr sofort helfend zur Seite, während Fury mit beinahe gelangweilten Gesichtsausdruck zuschaute. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie vollends auf die Beine gekommen war. „Ich bin bereit."

„Wunderbar", verkündete Fury. Dann drehte sie sich um und begann ein wie immer zügiges Tempo vorzugeben.

„Folgt mir."

Und so setzten die vier ihren Abstieg von den Höhen des kalten Berges fort. Der Wald um sie herum wurde immer dichter. Hier und da sprossen nun sogar kleine Blümchen aus der Schneedecke, die mit jedem Schritt dünner und nasser wurde. Die Eiszapfen, die weiter oben noch von den Ästen gehangen hatten, waren längst verschwunden und hatten Flechten und trockenem Moos Platz gemacht. Nach etwa zwei Stunden wurde das Gelände sogar das erste Mal etwas flacher.

„Dafür, dass wir nicht mehr auf der Erde sind, sieht es aber verdammt erdenähnlich aus", murmelte Nora. Sie ging direkt hinter Fury und hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlossen. Ihre Wangen waren gerötet, doch sie hatte nicht mehr zu kalt.

„Der Schöpfer hat Eden versiegelt", antwortete die Reiterin ohne sich umzudrehen: „Das hat Ulthane euch sicher gesagt. Eure Welt wurde mit toten Planeten umgeben, damit ihr denkt, allein im Universum zu sein. Aber eigentlich ist das Universum gefüllt mit bewohnbaren Orten und es gibt kaum welche, die ein Betreten nicht erlauben würden. Immerhin war der Schöpfer ein Meister darin, Leben zu erzeugen."

Auf diese Aussage bekam Fury keine Antwort. Markus, der als letzter hinter Anne ging und die Nachhut bildete, grunzte etwas Unverständliches, aber die Reiterin beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. In ihren kurzen Leben würde Fury von den Menschen nicht verlangen all die Mysterien des Universums zu begreifen, wenn selbst die größten Engel während der Äonen nicht dazu imstande gewesen waren.

Plötzlich knackste etwas zu ihrer Rechten und Fury blieb schlagartig stehen. Nora wäre beinahe in sie hineingelaufen, doch nun erstarrte sie wie in Schock und schaute mit geweiteten Augen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

„Was war das?", fragte sie, wobei ihre Stimme ein wenig zitterte. Markus hatte sich derweil schützend vor Anne gestellt und Fury trat nun selbst ein wenig nach vorne, bereit jeder möglichen Gefahr als erste in die Augen zu sehen.

„Bleibt hinter mir"

Sie musste die Menschen natürlich nicht zweimal dazu auffordern. Nora, die sich zunächst noch dich an ihr gehalten hatte, machte sofort zwei Schritte zurück und stieß mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Es war beinahe komisch, dass ein einzelnes Geräusch solche Panik auszulösen vermochte. Aber die Menschen hatten gelernt, alles und jedem zu misstrauen und dass die Welt nicht immer so harmlos war, wie sie schien. Sie hatten es gelernt, mit ihrem eigenen Blut.

Fury hatte längst den metallenen Griff ihrer gezähnten Peitsche von ihrem Gürtel gezogen und stellte nun vorsichtig den rechten Fuß auf einen moosüberwachsenen Felsen. Einen Moment später zog sie den linken nach und stieg nach oben. Ihre Finger klammerten sich entschlossen, jedoch nicht pressend um ihre Waffe und ihre Augen schossen in aufmerksamer Wachsamkeit hinaus zwischen das Dickicht der Baumstämme. Langsam drehte Fury den Kopf.

Sie sah Bäume, an denen sich grünbraune Pilze nach oben hangelten, flechtenbehangene Zweige und verwaschene Felsen. Hier und da lag auch ein größerer Brocken im Hang. Manche waren beinahe so hoch wie ein Pferd und auch in ihrer Gestalt waren die Felsen komplett unterschiedlich. Furys Augen zuckten, als ihr Blick an einem Detail hängenblieb. Waren das… Runen?

Mit einem wilden Schrei zuckte Nora zusammen und schlug beinahe die Hände vor die Augen, als Fury plötzlich einen gewagten Rückwärtssalto vollführte, der sie von dem Felsen heruntertrug. Keinen Augenblick später donnerte bereits die steinerne Keule auf die Stelle nieder, an der sie gestanden hatte. Splitter flogen umher. Ein ohrenbetäubender Knall krachte durch den Wald und verhallte als Echo in der Ferne, während Fury sicher auf dem Boden landete, den Oberkörper kampfbereit nach vorne gebeugt.

„Was ist das?", rief Markus entgeistert, als eine graue Hand aus hartem Stein hinter dem Brocken auftauchte. Vier Finger krallten sich in den Felsen. Ein scharrendes Kratzen ertönte, gefolgt von einem dumpfen Brüllen, bevor sich schließlich der restliche Körper der Kreatur nach oben zog.

Ein unförmiger Kopf saß auf einem rundlichen Torso, vollkommen übersät mit eingeritzten Runen und spiralförmigen Zeichen. Zwei gelbliche, kleine Augen brannten auf der Reiterin und ein hässlicher Steinkiefer öffnete sich zu einem zweiten Brüllen. Dann zog die Kreatur ihre Keule nach, fiel nach vorne und landete direkt vor Fury auf dem Boden.

Mit einem entnervten Knurren machte sie einen Schritt nach hinten. Das Konstrukt, das vor ihr auf dem Boden lag, wies starke Beschädigungen auf und die Beine fehlten komplett. Daher benutzte es nun seinen linken Arm, um sich langsam nach vorne zu ziehen, während es mit der rechten die Keule zu schwingen versuchte. Fury entrann dem zweiten Angriff mit einem einfachen Schritt zur Seite.

„Was haben wir denn hier?", lachte die Kriegerin und ein abschätziges Grinsen schoss über ihre Lippen. Sie ließ die Peitsche wieder zurückschnappen und hängte den kompakten Griff an ihren Gürtel. Als das Konstrukt zum dritten Mal angriff, streckte Fury einfach die Arme aus, stemmte die Hände gegen die Keule und zog die Waffe mit einem Ruck aus den Händen der steinernen Kreatur. Anschließend warf sie sie mit Leichtigkeit zur Seite.

„Eine Erschafferwelt", murmelte Fury und stellte einen Fuß auf den Kopf des Konstrukts. Das Wesen brüllte zornig, doch es konnte sich kaum mehr bewegen. Und die Magie, die es einst gebunden hatte, war lange geschwächt. „Was sagt man dazu?"

„Das ist gut, oder?", meldete sich Markus hinter ihr: „Ulthane hat uns zu seinen Freunden geschickt. Natürlich. Das macht doch Sinn."

„Vorsicht", mahnte Fury und hielt Markus zurück, als er zu ihr nach vorne treten wollte. Auch Anne und Nora hatten sich langsam genähert, blieben jedoch augenblicklich wieder Stehen, als Fury die Hand ausstreckte.

„Seht euch den Mistkerl an", knurrte Fury und zeigte hinunter auf das Konstrukt: „Der ist sauwütend. Was auch immer die Erschaffer ihm befohlen haben, ein Teil davon muss irgendetwas mit Schädeleinschlagen zu tun gehabt haben. Wahrscheinlich wollten sie sich verteidigen."

„Ist das schlecht?"

Fury drehte den Kopf und schaute zu Markus. Ihre weißen Augen glitzerten gegen die Dunkelheit des Waldes hinter ihr, als sie sagte. „Es bedeutet auf jeden Fall, dass wir vorsichtig sein müssen, wenn wir nicht wollen, dass diese Kerle uns zu Brei schlagen."

„Aber eigentlich müssen wir den Erschaffern doch nur sagen, dass wir Freunde sind, oder? Dann sagen sie ihren Steinkollegen hier, sie sollen uns in Ruhe lassen."

Markus schaute Fury hoffnungsvoll an, doch die Reiterin musste seine Zuversicht ein weiteres Mal zerstören.

„Erstens müssten wir sie dazu erst einmal erreichen. Und so wie ich die Erschaffer kenne haben sie sich in irgendeiner überdimensionalen Steinfestung verbuddelt. Die stehen auf so was. Zweitens glaube ich gar nicht, dass noch irgendwelche Erschaffer hier sind."

Markus runzelte die Stirn.

„Aber der Kerl sieht doch genau so aus, wie das Zeug, das Ulthane gemacht hat."

„Schau ihn dir noch einmal an", erwiderte Fury: „Ich bin sicher, er hat seine Beine nicht freiwillig hergegeben und diesen Spuren an seinem Körper nach zu urteilen, hat man ihn ordentlich zusammengedroschen. Ich glaube ich sehe sogar Einschusslöcher dort an der Schulter. Am Ende laufen wir noch in ein Kriegsgebiet."

Anne seufzte hörbar hinter Fury.

„Gibt es eigentlich auch irgendeinen Ort im Universum, an dem nicht gekämpft wird?"

„Zurzeit?", antwortete Fury: „Eher nicht." Dann beugte sie sich plötzlich hinunter und streckte die Finger nach den gelben Augen der Kreatur aus. Das Konstrukt knurrte wütend auf. Ohne zu zögern rammte ihm Fury die Faust ins Gesicht und schmetterte dabei den Unterkiefer vom Kopf, der um die eigene Achse rotierend irgendwo in den Büschen verschwand. Als nächstes steckte sie die Finger in die gelben Augen und zog sie kurz darauf wieder hervor. Eine zähe, schwarze Flüssigkeit tropfte von ihrem Zeigefinger.

„Ist das Öl?", fragte Markus, doch Fury schüttelte den Kopf: „Nein. Aber es ist auch nicht Erschaffermagie, darauf würde ich meine Peitsche verwetten. Verdammt."

„Was ist los?"

„Diese Sache sieht scheißgefährlich aus", knurrte Fury und rammte anschließend ihren Fuß nach unten. Mit einem dumpfen Poltern landete der Kopf der Kreatur auf dem Boden. Die gelben Augen erloschen und auch der rechte Arm, der zuvor noch hilflos über den Boden gescharrt hatte, erstarb.

„Das sieht nicht gut aus. Wir müssen die anderen Menschen so schnell wie möglich finden, bevor sie noch diesen Konstrukten über dem Weg laufen."

Aus dem Augenwinkel konnte Markus erkennen, wie Annes Faust zusammenzuckte und kurz verkrampfte, als Fury die Gefahr für die anderen Überlebenden – eingeschlossen ihren Mann – erwähnte.

„Dann gehen wir also weiter?", fragte Markus. Fury drehte sich zu ihm um, ohne das Konstrukt eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Natürlich. Der einzige Weg, der uns jetzt noch offensteht, ist nach vorne."

Anschließend übernahm sie die Führung und marschierte wieder geradeaus durch den Wald. Ihre Beine brachen ohne jegliche Schwierigkeit durch das Unterholz. Nora beeilte sich ihr durch die dichten Büsche und Sträucher zu folgen, während Markus Anne sanft nach vorne schob und schließlich die Nachhut übernahm. Immer wieder schoss sein Blick über die Schulter nach hinten zwischen die Bäume.

„Bist du sicher, dass es noch mehr von denen gibt?", fragte Nora nach einer Weile. Ihre Stimme klang schwach und verletzlich im Vergleich zu Furys selbstsicherem Alt und ihr Blick schoss immer wieder nach unten auf die Steine und Wurzeln, die sich ihr in den Weg warfen.

„Absolut", knurrte Fury. Sie verlangsamte weder ihr Tempo, noch schaute sie nach hinten auf das besorgte Mädchen. „Diese Konstrukte sind stark, aber simpel und die Erschaffer haben keine Schwierigkeiten damit tausende von ihnen in kürzester Zeit aus dem Stein zu hauen. Überall, wo sie gesiedelt haben, haben sie solche Armeen aufgestellt. Es gibt mit Sicherheit noch mehr von denen."

Nora nickte stumm. Sie hatte eine Antwort erhalten und trotzdem fühlte sie sich, als hätte sie ihre Gedanken lieber für sich behalten sollen. Die Frage hatte ihrer Angst keine Linderung verschafft.

Fury führte die Menschen für mehrere Stunden durch den Wald. Sie passierten Geröll und Felsen, die vom Berg in das Tal gefallen waren, sprangen über klare, dahinplätschernde Bäche und erklommen immer wieder sanfte Anhöhen. Die Sonne schob sich weiter und weiter über den Himmel. Ihre orangen Strahlen fuhren bald in spitzem Winkel zwischen den Baumstämmen und Zweigen hindurch und blendeten Fury jedes Mal, wenn sie ihren Blick hob, um sich ihrer Richtung zu vergewissern.

Im Rücken der Gruppe ragte immer noch der Berg empor, auf dem sie gelandet waren, doch mittlerweile war er nur noch einer von vielen. Hin und wieder blieben sie stehen, um eine kurze Rast eizulegen. Vor allem Anne machte der Marsch zu schaffen. Doch der Wald schien schier endlos und Fury schaute sich bereits nach einer geschützten Stelle für ihr Nachtlager um, als sie plötzlich etwas hörte.

„Stopp", zischte die Reiterin und blieb ruckartig stehen. Die drei Menschen hinter ihr verstanden sofort und sprangen eilig in Deckung, Nora und Anne hinter einen Baum, Markus in die Nähe eines Felsens. Nur Fury blieb standhaft.

Sie beugte sich nach vorne und spähte durch das Dickicht des Waldes. Ihre Augen schimmerten wie weiße Sterne in der Dunkelheit. Der Ruf eines unbekannten Vogels hallte über die Abenddämmerung und am gezackten Horizont stieg bereits der erste der drei Monde empor.

„Was ist los?", fragte Nora und ihre Stimme zitterte in der Kälte.

„Ich habe Stimmen gehört", flüsterte Fury: „Und da vorne sind Fackeln."

Ohne ein weiteres Wort von sich zu geben, setzte sich die Reiterin in Bewegung und verschwand zwischen den Ästen einiger kleiner Bäume zu ihrer Rechten. Die Gewächse boten hervorragenden Sichtschutz. Fury schlich noch ein Stückchen weiter und versteckte sich dann hinter ein paar grauen Felsen, bevor sie schließlich nahe genug war, um sehen zu können, was sich vor ihr abspielte.

Sie schaute auf eine Lichtung. Dort wo sich die Bäume im Himmel verloren, ragte eine moosüberwachsene Mauer empor zwischen vereinzelten Trümmerteilen und Schutthaufen. Es wirkte wie natürlicher Zerfall. Pflanzen hatten sich im Laufe der Zeit einen Platz hoch auf der alten Erschafferruine erkämpft und ein paar mutige Setzlinge waren bereits durch den Stein gebrochen. Das kreisförmige Bauwerk warf gesplittert, die Brocken waren in die Wiese gefallen. So gut wie jede unversehrte Oberfläche zeigte immer noch die alten Insignien und Symbole der Erschaffer.

Was Fury jedoch weit mehr interessierte waren die Gestalten, die auf der Mauer hin und her gingen und dort zu ihrer Rechten einen schmalen Durchgang bewachten. Es waren fünf and er Zahl, drei oben auf der Mauer, zwei unten am Tor. Sie hatten Fackeln aufgebaut, sodass sie sich als klar erkennbare schwarze Silhouetten gegen den orange erleuchteten Wald abhoben. Strife hätte sie mit seinen Pistolen wohl binnen weniger Sekunden ausschalten können. Aber Strife, so dachte Fury, würde nichts dergleichen tun, wenn er jetzt hier wäre, denn die Kreaturen auf der Mauer waren eindeutig Menschen.

Fury stand auf. Ihre roten Haare, deren Flammen sie bereits vor langer Zeit gelöscht hatte, schimmerten blass im silbernen Mondlicht, doch die Augen der Menschen waren so unterentwickelt, dass sie sie nicht entdeckten. Also ging Fury ungesehen und ungehört zurück zu ihren Schützlingen.

„Und?", flüsterte Markus, nachdem sie neben ihm aus dem Gebüsch gebrochen war, sehr zum Schrecken der drei Menschen. Fury zupfte sich einen abgebrochenen Zweig von der Schulter. Dann schaute sie zu Markus und machte eine einladende Geste.

„Kommt. Wir haben Glück. Da vorne sind die anderen Menschen. Zumindest ein paar von ihnen."

Noras Gesichtsausdruck hellte sich schlagartig auf und auch Anne und Markus konnte man deutlich ansehen, dass ihnen ein Stein vom Herzen gefallen war. Eilig standen sie auf und traten hinter den Bäumen hervor, in Erwartung, dass Fury sie nach vorne führen würde.

„Wie viele sind es?", fragte Markus, als er zu ihr aufschloss.

„Ich habe fünf gesehen", antwortete Fury: „Schau, dort. Aber ich bin mir sicher, dass noch mehr hinter der Mauer sind."

Im Vergleich zu Fury bewegten sich die drei Menschen ungeschickt, nahezu töricht durch den Wald und so dauerte es nicht lange, bis eine der Wachen das knackende Geräusch eines zerbrechenden Zweigs vernahm. Fury konnte ihn fluchen hören.

„Felix?", knurrte eine der Wachen: „Was ist los?"

„Ich glaube, ich habe etwas gehört."

„Wo?"

„Da"

Fury entdeckte den Arm des Mannes, den dieser direkt vor einer Fackel ausgestreckt hatte, bevor sie Sekunden später in den Lichtkegel des Feuers trat.

„Halt!"

„Wir sind´s", rief Fury und hob die Arme zum Zeichen, dass sie ihnen nichts Böses wollte. Sie vermochte kaum den höhnischen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen. Wenn sie wollte, könnte sie diese Menschen dahinschlachten und es gab absolut nichts, womit sie sich gegen sie verteidigen könnten. Fury, sowie eine Vielzahl anderer Wesen im Universum, brauchte den Zorn der Menschen nicht zu fürchten. Sie waren kaum mehr als Insekten, zumindest auf den ersten Blick.

„Fury?"

„Bitte, erschießt mich nicht", höhnte Fury und ließ ihre Arme wieder fallen. Ohne stehenzubleiben bewegte sie sich auf die beiden Wachen am Tor zu. Ihre Stiefel wanderten über die sanfte Wiese und wenig später war sie direkt vor den zwei Männern angekommen. Mit ehrfürchtigen Blicken starrten sie sie an. Schließlich traten sie zur Seite.

„Geht doch", knurrte Fury. Ohne einen Blick über die Schulter zu werfen marschierte sie durch das Tor. Markus, Anne und Nora würden schon zurechtkommen, jetzt wo sie sich wieder unter ihresgleichen befanden und somit musste Fury nicht länger den Babysitter spielen. Stattdessen würde sie sich nun der nächstgrößeren Aufgabe zuwenden.

Die Mauer der Erschaffer war dick. Beinahe zwei Meter stark umkreiste sie ein kleines Gebiet, von dem Fury vermutete, dass es einst als Außenposten gedient hatte. Kleine Büsche und Sträucher säumten einen dunklen Innenhof. Fackeln warfen tanzende Lichter an die Wände und tauchten die nervösen Gesichter von etwa zwanzig Personen in einen orangen Schein. Glühende Augen schauten die Reiterin ängstlich an.

Fury konnte Murmeln hören, als sie mit in die Hüfte gestemmten Armen den Blick über die kleine Gruppe gleiten ließ. Hinter ihr begrüßte Markus eine der Wachen am Tor. Nora und Anne schlichen derweil an ihm vorbei und mischten sich unter die anderen Menschen, von denen sie freudig begrüßt wurden. Fury hingegen blieb in stoischer Haltung stehen.

Zwanzig hier im Hof, fünf auf der Mauer und jetzt noch drei dazu. Das machte knappe dreißig Menschen, vorausgesetzt sie würde noch welche finden. Der Wald war gefährlich. Aggressive Erschafferkonstrukte durchstreiften das Dickicht und Fury war sich sicher, dass es noch weitere Bedrohungen gab. Morgen würde sie loszuziehen und versuchen, noch weitere Menschen aufzuspüren. Allein waren sie kaum im Stande zu überleben und diese dreißig hier vor ihr waren die letzten Vertreter einer Rasse, die einst in die Milliarden gegangen war. Nun standen sie kurz vor ihrer Vernichtung. Fury war ihre letzte Wächterin.