Die Rabenkönigin

„Jetzt hören Sie doch auf, Baker, das könne Sie nicht machen!"
Sally schlug mit der Faust auf den Tisch und stützte sich daraufhin an der Tischplatte ab. Sie hatte sich soeben von ihrem Sessel erhoben, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, doch Baker, der sich von ihr abgewandt hatte, gab ihr keine Antwort.
„Benedict!", rief sie erneut und versuchte seinen Blick aufzufangen. Es wollte ihr nicht gelingen. Stattdessen bedeutete Baker den beiden Agenten, die an der Betonwand hinter Sally standen, mit erhobener Hand, dass alles in Ordnung war und sie nicht einzuschreiten brauchten. Anschließend deutete er auf einen der zwei Stühle, die zu beiden Seiten des Tisches aufgestellt worden waren.
„Bitte, setz dich."
Sally verharrte aufrecht. Eine beunruhigende Stille erfüllte den kargen Raum, der mit Ausnahme der drei Möbelstücke nichts weiter, als eine verschlossene Metalltür und graue Betonmauern aufwies. Als eine ganze Weile niemand ein Wort sagte, setzte sich Sally doch wieder hin.
Die Narben an ihrer Hüfte taten höllisch weh, doch die Ärzte hatten ihr versichert, dass sie keine größeren Schäden davontragen würde. Während der Fortbewegung auf zwei Beinen würde sie wohl zu einem Gehstock greifen müssen, doch glücklicherweise war sie in dieser Hinsicht weniger limitiert, als andere Menschen.
In ihrem Kopf spielte sich immer wieder dieselbe Szene ab, in der sie waghalsig auf die Janusmaschine zustürzte, während Freddy ebenfalls nach vorne hechtete und mit seinen Klauen nach ihr schlug. Beide hatten sie ihr Ziel erwischt, doch Sally hatte den Sieg davongetragen. Wenn man es überhaupt so nennen konnte.
Evan hatte den Tod gefunden, Philip war grausam hingerichtet worden und Lisa hatte ebenfalls ihr Leben ausgehaucht im verzweifelten Versuch, Anna von einer hinterhältigen Klinge aus der Dunkelheit zu bewahren. Und von Meg hatte Sally sowieso nichts mehr gehört.
Das Schlimmste war jedoch, dass sich Freddy immer noch auf freiem Fuß befand, irgendwo da draußen sicher verborgen hinter dem Schleier des Nebels. Nachdem Sally die Janusmaschine umgeworfen hatte, war der schwarze Brunnen zusammengebrochen und hatte all jene mit sich gerissen, die den Nebel nicht verlassen konnten. Freddy war geschwächt. Er war verwundet. Doch er war immer noch am Leben und somit einer der Gründe war, weshalb sie jetzt hier saß.
„Gut", murmelte Baker und rieb sich verschlafen die Augen. Ihm war anzusehen, dass er in den Tagen seit den Angriffen auf Paris kau Schlaf gefunden hatte. Er hatte wohl alle Hände voll zu tun, den entstandenen Schaden auszuwerten und soweit Sally ihrer Vermutung folgen durfte, suchte man wohl nach einem Sündenbock, den man für die Katastrophe verantwortlich machen konnte.
Sicher war sie sich natürlich nicht. Man sagte ihr ja kaum etwas, seitdem man sie, Max und Anna noch in der Militärbasis festgenommen hatte und sie hatte keine Ahnung, was außerhalb der Zelle, in die man sie verfrachtet hatte, vor sich gegangen war. Zumindest bis jetzt.
„Wir haben euch geholfen", flüsterte Sally und beugte sich über den Tisch nach vorne, nachdem Baker ebenfalls Platz genommen hatte: „Wir haben unsere Leben für euch riskiert. Philip ist tot. Lisa ist tot. Und jetzt wollt ihr uns unser Leben lang wegsperren?"
Die Frage verhallte unbeantwortet im Halbdunkel der Verhörkammer. Schließlich räusperte sich Baker unangenehm und setzte sich etwas gerader hin.
„Glaub mir, es gefällt mir auch nicht. Ich…"
„Es gefällt dir nicht?", rief Sally empört: „Verdammt, Baker, Sie sind ja nicht derjenige, der niemals wieder die Sonne sehen wird."
„Bitte setz dich."
Sally merkte, dass sie sich schon wieder erhoben hatte und vor Wut zitternd ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl fallen.
„Hör mir bitte zu", sagte Baker: „Paris liegt in Schutt und Asche. Notre Dame wurde dem Erdboden gleichgemacht und eine Menge unschuldiger Menschen sind gestorben."
„Daran sind wir doch nicht schuld!"
„Ich weiß", rief Baker: „Aber darum geht es hier nicht. Hier geht es darum, dass etwas getan werden muss. Wir sprechen hier von der größten terroristischen Operation der Menschheitsgeschichte und davon, dass die Regierenden dieser Welt Maßnahmen sehen wollen. Als ich meinen Vorgesetzten damals versichert habe, dass ihr keine Gefahr darstellt, habe ich damit meine gesamte Karriere aufs Spiel gesetzt. Ich habe euch vertraut und eine lange Zeit ist es auch gut gegangen. Aber nach dieser Nacht… Wir haben keine Verteidigung gegen den Nebel, Sally, und alles was sich darin befindet. Wir können keine Schwachstellen riskieren, verstehst du mich? Ich rede hier von globaler Sicherheit."
Sally sagte nichts. Ihr glühendes Auge ruhte auf Benedict Baker, der in Frustrationen einmal tief durchatmete.
„Es tut mir leid, Sally, aber es geht nicht anders. Ihr vier seid aktive Tore zwischen dem Nebel und unserer Welt. Portale, Brücken, Verbindungen, nenne es wie du willst. Fakt ist, dass jeder, der mit euch in Kontakt kommt, von Freddy besessen werden kann. Und wer kann uns garantieren, dass es nicht noch andere Gefahren dort draußen gibt? Zum Wohle dieser Welt können wir euch nicht gehen lassen."
„Wir könnten uns zurückziehen", sagte Sally: „Irgendwohin, wo uns niemanden findet. In einem Gebirge, oder… oder in einem tiefen Wald. Wir könnten…"
Nein, Sally", unterbrach sie Baker: „Ihr könnt nicht. Kein Land wird euch nehmen und niemand wird euch gehen lassen. Die Regierungen wollen Sicherheit. Wir wollen Sicherheit. Ich kann mich nämlich selbst nicht ausnehmen, wenn ich von jenen spreche, die keine Risiken mehr eingehen wollen und das ist so ziemlich jeder."
„Und was soll aus uns werden?", fragte Sally. Ihre Finger zitterten, als sie sich an die Tischplatte klammerte: „Sollen wir einfach verrotten?"
„Natürlich nicht", entgegnete Baker schnell: „Ihr kommt in ein spezielles Lager, wo ihr unter euch bleibt. Ihr werdet zwar von der Außenwelt abgeschnitten sein, aber es wird euch an nichts fehlen. Wir können euch nur nicht erlauben, mit irgendjemanden in Kontakt zu treten. Unter keinen Umständen."
Sally schüttelte den Kopf. Sie konnte immer noch kaum glauben, was sie da hörte, doch sie konnte die Wahrheit auch nicht abstreiten. Freddy war über Philip in Sixs Kopf gelangt und dieselbe Gefahr bestand bei jedem, der direkt vom Nebel verändert worden war. Sie alle stellten eine Brücke für Freddy dar. Ein offenes Tor.
„Ich zähle hier auf deine Mitarbeit, Sally", sagte Baker und schlug einen strengen Ton an: „Wir beide wissen, dass du dich mit Leichtigkeit befreien kannst und wir können dir deine Kraft nicht nehmen. Aber ich bitte dich, bleib wo du bist. Wenn du fliehst, ergeht der Tötungsbefehl schneller als du dich umdrehen kannst."
Nun war es Sally, die Bakers Blick auswich, doch der rundliche Mann ließ nicht locker.
„Und denk an Anna und an Max. Das weißt du wahrscheinlich selbst besser als ich, aber du bist wie eine Mutter für die beiden. Du würdest sie im Stich lassen."
Sally vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie hatte keine Antwort mehr, nichts, was sie ihm hätte entgegensetzen können und mit dem sie seine Argumente entkräftigen konnte. Es gab keinen Ausweg. Die Welt wollte sie vergessen und so würde es auch geschehen.
„Du hast von vier gesprochen", murmelte sie schließlich: „Wer ist der vierte?"
„Das Mädchen", antwortete Baker: „Maxine Caulfield. Wir wissen nicht, ob sie dieselbe Gefahr darstellt wie ihr, aber wie schon gesagt: keine Risiken."
„Ihr wollt ein junges Mädchen von ihrer Familie trennen und für den Rest ihres Lebens einsperren?"
Bakers Miene blieb hart und unergründlich, doch seine Antwort lautete definitiv „ja", auch wenn er sie nicht in Worte fasste. Sally hatte genug gehört. Gebrochen richtete sie ihren Blick auf die Tischplatte und versuchte sich so gut es ging mit ihrem bitteren Schicksal abzufinden.
Für Baker schien das Gespräch damit beendet zu sein und wortlos ging er um Sally herum. Er wünschte er weder viel Glück, noch sagte er ihr auf Wiedersehen, als er durch die eiserne Tür trat, die ihm einer der Wächter geöffnet hatte. Sally hatte jedoch noch eine Frage.
„Wie geht es Meg? Ist sie am Leben?"
Alles was sie hörte, war das Krachen einer zufallenden Stahltür."

„Berichte… ungewiss… Behörden versuchen… klares Bild von der Lage zu bekommen. Allerdings hält sich die französische Regierung weiterhin bedeckt, was die Hintergründe und Einzelheiten der terroristisch motivierten Attacke auf Paris angeht. Absolut sicher ist bis jetzt nur, dass die als White Masks bekannte internationale Terrororganisation hinter den Angriffen steckt und dass sie nicht nur Frankreich, sondern die gesamte Welt völlig unerwartet trafen. Unsere Gedanken und Gebete gelten den Opfern und Hinterblieben der Atta…"
Ein Fernseher wurde abgeschaltet. Irgendjemand ging von einer Seite des Raums auf die andere und legte einen Gegenstand, womöglich die Fernbedienung auf einen Tisch. Dann ertönte eine Stimme.
„Wir haben genug gesehen."
Es war Claudette.
„Du hast wohl recht", antwortete Dwight seufzend. Seine Stimme hing schwer in der Luft und Bitterkeit triefte aus seinen Worten. „Und sie haben immer noch nichts über uns bekanntgegeben."
„Natürlich nicht", antwortete Claudette: „sie werden den Nebel geheim halten, die ganze Sache vertuschen und alles unter den Teppich kehren."
„Glaubst du wir werden jemals wieder von ihnen hören? Von Sally und den anderen meine ich."
Claudette antwortete nicht.
„Ich habe Hunger", sagte Dwight nach kurzer Zeit: „Ich geh runter ins Café und holt mir etwas. Kommst du mit?"
Claudette sagte nichts. Sie musste wohl den Kopf geschüttelt haben, denn kurz darauf entfernte sich ein einziges Paar Füße und verstummte schlagartig, als eine Tür ins Schloss fiel. Stille kehrte ein.
Zuerst spürte sie ihre Finger. Dann schoss plötzlich ein stechender Schmerz ihre Wirbelsäule herauf und begann gegen ihren Hinterkopf zu hämmern. Tränen bildeten sich in ihren Augen, als ein strahlend helles Licht zwischen ihren Lidern hereinflutetet und Meg wollte eine Hand heben, um sich vor dem Schein schützen. Doch sie brachte es kaum zu Stande. Stattdessen entfuhr ihr ein unkontrolliertes Stöhnen.
„Meg!"
Das war wieder Claudette. Im nächsten Augenblick spürte sie bereits eine Hand an ihrer Schulter, während sich eine zweite behutsam an ihr Gesicht legte. Ihr ganzer Körper war taub und Meg spürte die Berührung kaum. Doch sie war da und sie tat gut.
„Meg, hörst du mich?"
Sie drehte den Kopf und versuchte etwas zu erkennen. Eine dunkle Silhouette hob sich gegen die Helligkeit ab und ein voluminöser Haarschopf schob sich zwischen Megs Gesicht und eine Lampe an der Decke.
„Meg! Bitte, sag etwas!"
„Fuck"
„Gottseidank, es geht dir gut."
Meg sah, wie Claudette sich erleichtert nach vorne fallen ließ und sie mit ihrem Kopf an der Stirn berührte. Mit geschlossenen Augen atmete sie aus und versuchte ihre zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen. Erst nach einer kurzen Weile richtete sie sich wieder auf.
„Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen", sagte Claudette und griff nach Megs Hand. Wiederum fühlte sie die Berührung, doch es war unvollständig, wie durch einen dicken Wollhandschuh. „Wie… Wie fühlst du dich?"
Meg sagte nichts, sondern versuchte sich zu orientieren. Benommen blinzelnd ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte, dass sie in einem Bett lag. Ihr Körper war in ein weißes Federbett gepackt und neben ihr befanden sich eine Reihe medizinischer Geräte.
Auf der anderen Seite stand ebenfalls ein Bett, das jedoch leer war. In der hinteren, oberen Ecke des rechteckigen Raums hing ein Fernseher und darunter war ein kleines Tischchen, auf dem neben ein paar Zeitschriften eine Fernbedienung lag. Auf der rechten Seite sah Meg eine graue Tür. Vermutlich hatte Dwight diese gerade eben benutzt.
Gegenüber prangte ein großes Fenster in der Wand. Die Scheiben waren weit geöffnet und eine sanfte Briese verleitete die Vorhänge zu einem spielerischen Schweben. Hinter dem leicht schräg stehenden Eiffelturm näherte sich die Sonne langsam dem Horizont. Sie war immer noch in Paris.
„Meg?", fragte Claudette nervös und ihre Finger schlossen sich etwas enger um die Hand der Athletin. Sie befanden sich ganz offensichtlich in einem Krankenhaus.
„Mir ist kotzübel", murmelte Meg, wobei sie jedes einzelne Wort hervorkämpfen musste. Es war, als hätte ihr Gehirn auf Sparflamme geschaltet. Ihre Erinnerungen waren bruchstückhaft und gespickt mit schwarzen Stellen.
„Keine Sorge", sagte Claudette, deren Schultern sich erleichtert entspannt hatten: „Das ist alles ganz normal, nach so einer Narkose wie du sie bekommen hast."
„Nar… Narkose?"
Meg versuchte sich etwas gerade aufzusetzen, doch ihre Arme wollten ihr nicht recht gehorchen und ihre Beine noch weniger. Sie fühlte sich, als wäre jegliche Energie aus ihren Muskeln gesaugt worden.
„Was ist passiert?", fragte sie verblüfft: „Wie lange…"
„Vier Tage", antwortete Claudette: „Und keine Angst, es ist ganz normal, dass du dich nicht sofort an alles erinnern kannst. Keine Sorge."
Claudette schien kurz ihre Gedanken zu sammeln, bevor sie erzählte.
„Du hast Thermite gerettet. Deinen Vater. Ihr seid von uns getrennt worden, nachdem der Nebel die Basis von Rainbow eingeschlossen hat und du hast ihn allein herausgeführt."
Ein Bild blitzte vor Megs innerem Auge. Zuerst hielt sie es für ihren Vater, doch dann wurde es zu einem bleichen Mädchen mit wallenden, schwarzen Haaren.
„Jordan", murmelte Meg, als die Erinnerung langsam zurückkehrte. Adrenalin schoss durch ihre Venen. Was war geschehen?
„Ganz ruhig" mahnte Claudette und packte sie wieder an der Schulter: „Es geht ihm gut. Er ist in Sicherheit und vollkommen wohlauf, im Gegensatz zu dir."
„Wie…" Meg schluckte. „Wie sind wir entkommen? Das… das bleiche Mädchen hatte uns doch schon."
Claudette starrte sie kurz an. In ihrem Kopf schienen die Zahnräder ineinanderzugreifen, als sie versuchte, einen Sinn aus Megs Worten zu ziehen. Schließlich antwortete sie: „Irgendjemand hat die Janusmaschine in der Basis zerstört und der Nebel hat sich ganz einfach aufgelöst. Wer auch immer euch angegriffen hat, wurde zurück ins Reich des Entitus verbannt."
Meg hörte die Worte, doch sie hatte immer noch Schwierigkeiten damit, ihren eigenen Gedanken zu folgen.
„Thermite… Jordan… Dein Vater hat mir gesagt, dass ihr verfolgt wurdet. Dieses bleiche Mädchen, von dem du gesprochen hast… Hat sie euch angegriffen?"
Meg versuchte sich zu erinnern.
„Sie hatte ein Schwert und… und sie ist uns hinterhergejagt. Sie hatte uns doch schon erwischt. Wir haben es nicht mehr geschafft."
„Doch, habt ihr", wiedersprach Claudette: „Offensichtlich seid ihr einem von Freddys Killern entkommen. Einem, den wir nicht kennen. Und er… sie… sie hat dich noch erwischt, gerade als ihr aus dem Nebel herausseid."
Meg kniff die Augen zusammen, als langsam die Lichter in ihrem Schädel wieder angingen. Sie wusste wieder, wie sie ihren Vater den Korridor entlanggezogen hatte. Dann hatte sie ihn nach vorne gestoßen, direkt auf die Grenze des Nebels zu, wodurch sie selbst einiges an Geschwindigkeit eingebüßt hatte. Nur noch ein Schritt. Doch es war ein Schritt zu viel gewesen.
„Wo…", fragte Meg, kurz von einem leichten Husten unterbrochen: „Wo ist Sally?"
Claudette schaute sie wortlos an. Ihr Blick schoss kurz hinüber auf den Fernseher, der ausgeschaltet an der Wand hing, während sie nach den richtigen Worten suchte.
„Ich… Wir wissen es nicht. Six hat den Befehl gegeben alle Berührten ersten Grades zu verhaften. Sie haben Maxine Caulfield abtransportiert und wir haben weder Sally noch Anna, Philip, Max oder sonst wen gesehen. Wir wissen auch nicht, was mit ihnen geschehen ist. Sie wollten uns nichts sagen."
„Was ist mit Baker?"
„Baker?"
„Er weiß doch sicher etwas. Warum habt ihr ihn nicht gefragt?"
Wieder legte Claudette eine kurze Pause ein.
„Das ist alles nicht mehr so einfach", sagte sie nach einer kurzen Weile und rieb sich die Augen. Man konnte ihr ansehen, dass sie die letzten Tage kaum geschlafen hatte. „Ich glaube nicht, dass Baker noch viel zu sagen hat. Halb Paris liegt in Schutt und Asche und niemand ist sich wirklich sicher, was geschehen ist. Sie wissen nur, dass wir daran beteiligt waren."
„Scheiße"
„Ganz genau"
Meg legte sich nach hinten in ihr großes Kissen und schloss die Augen. In ihren Gliedern spürte sie immer noch die Nachwirkungen der Narkose, doch allmählich tauten ihre Sinne wieder auf. Ihr Kopf wurde immer klarer, ihre Gedanken brachen los und schließlich kristallisierte sich eine Tatsache heraus. Ein einziger Wunsch.
„Ich habe Hunger", knurrte Meg und stützte sich ächzend auf die Ellbogen: „Hast du etwas zu essen da?"
„Nein", murmelte Claudette: „Aber du solltest dich ohnehin nicht übernehmen. Wach erst mal auf, dann… dann kannst du so viel essen, wie du willst."
Etwas im Ton der Kanadierin gefiel Meg nicht. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie Claudettes Gesicht und versucht einen Hinweis darauf zu erhaschen, was los war. Verbarg sie etwas vor ihr?
„Alles in Ordnung?", fragte Meg und versuchte sich etwas weiter aufzustützen. Doch ihr Körper wollte ihr immer noch nicht recht gehorchen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr und nach einem kurzen Moment kam ihr plötzlich ein unheimlicher Verdacht. Ein kalter Schauer fuhr ihr den Rücken hinunter und erstickte jegliche Worte, die sie von sich geben wollte. Konnte es wirklich sein?
„Claudette…", murmelte Meg und ihre Stimme begann zu zittern. Der Blick der Athletin glitt hinunter auf die Bettdecke, unter der ihr Leib verborgen war.
„Meg, es… es tut mir so leid", stammelte die Kanadierin und Tränen bildeten sich in ihren Augen. Sie wollte weitersprechen, doch ihre Stimme brach und der Satz blieb ihr in der Kehle stecken. Dafür schluckte nun Meg ihren Schrecken hinunter.
„Claudette? Warum kann ich meine Beine nicht spüren?"
Die Kanadierin antwortete zunächst nicht und schüttelte nur den Kopf. Sie war ganz offensichtlich nicht in der Lage mit den Ereignissen zurechtzukommen, selbst wenn sie nur als Beobachterin daneben saß. Eine Träne rann ihr die Wange hinunter und ihre Augen waren gezeichnet von Mitleid und Schmerz.
„Es tut mir so leid, Meg", wiederholte sie: „Dein Verfolger… das bleiche Mädchen… sie hat dich an der Wirbelsäule getroffen und… und einen zentralen Nerv beschädigt. Die Ärzte haben alles versucht, aber… aber…"
Wieder brach Claudettes Stimme, während Meg sie ungläubig anstarrte. Dann wanderte ihr Blick an der Kanadierin vorbei hinüber zu einem einsamen Rollstuhl, der unscheinbar in der Ecke stand.

Sally lag in ihrem Bett. Sie hatte ein Bein über das andere geschlagen, sich nach hinten gelehnt und den Blick an die graue Decke geheftet. Neben ihr auf dem Nachtkästchen lag ein dickes Buch. „Das Lied von Eis und Feuer", prangte auf dem Deckel, darunter der Titel des ersten Teils: „Die Herren von Winterfell"
Der Autor war als George R. R. Martin angegeben und als Sally auf die letzte Seite geblättert hatte, hatte sie das Bild eines rundlichen, alten Mannes mit einem lustigen Bart und einer Matrosenmütze entdeckt. Genau, wie man sich einen schrulligen, alten Geschichtenerzähler vorstellte.
Sie hatte die ersten paar Seiten des Buches gelesen, doch schon bald erkannt, dass es ganz und gar nicht ihrem Geschmack folgte. Trotzdem nährte sie sich langsam dem Ende des Wälzers. Aufgrund des Mangels an Beschäftigung in ihrem Isolationslager hatte sie sich immer wieder dem verabscheuten Buch zugewandt, auch wenn es ihr nicht wirklich Freude bereitete.
Sally hob den Kopf. Mit ihrem orangen Auge konnte sie hinaussehen, aus ihrem kleinen Zimmer, in eine große Halle, mit sauberen Betonwänden und ausgestattet mit einigen Möbeln, wie Tischen, Stühlen und Bücherregalen. In der Ecke stand ein Fernseher, ein topmoderner Flachbildschirm und am Kopfende befand sich ein dickes, fest verschlossenes Metalltor. Das Dach war eine einzige, große Glaskuppel, die sich in etwa zehn Metern Höhe über den gesamten Saal spannte.
Den Verlauf der Sonne beobachten zu können, hatte ihr enorm dabei geholfen ein Zeitgefühl zu behalten. Es war Tag vierunddreißig ihrer Gefangenschaft und wenn sie sich nicht verrechnet hatte, dann war heute wohl Dienstag.
Sallys Blick blieb am Rücken eines unschuldigen Mädchens hängen, das draußen in der großen Halle an einem Tisch saß und den Kopf auf etwas gesenkt hatte, das sich außerhalb von Sallys Blickfeld befand.
Sie konnte verstehen, dass Baker sich dazu entschlossen hatte, Max, Anna und sie selbst einzusperren. Natürlich stimmte sie der Entscheidung keineswegs zu und es schmerzte sie von ganzem Herzen die beiden erneut ihrer Freiheit beraubt zu sehen, doch aus der Sicht der Regierungen, des FBI und selbst der Menschheit an sich stellten sie eine Bedrohung dar. Außerdem waren sie nach wie vor Monster, geschaffen, um zu töten.
Aber Maxine war anders. Sally wusste nicht, warum sie ebenfalls hierhergebracht worden war, da auf keine Weise auch nur der Ansatz einer Bedrohung in ihr festgestellt werden konnte. Sie hatte sich Freddy widersetzen können, wohl war, doch sie war niemals im Reich des Entitus gewesen, war niemals seinen grausamen Veränderungen unterzogen worden und hatte mit der ganzen Sache eigentlich überhaupt nichts zu tun. Einzig und allein ihre angebliche Fähigkeit die Zeit zurückzudrehen, die sie einmal besessen haben sollte, war Grund genug gewesen, ihrem jungen Leben einen plötzlichen Abbruch zu versetzen.
Sally seufzte. Sie wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte, doch angesichts der Dinge, die sie in ihrem Leben bereits gesehen hatte, wusste sie keinen Grund, warum Maxine nicht die Wahrheit gesagt haben sollte. Vielleicht konnte sie früher wirklich die Zeit zurückdrehen. Wenn dem so war, dann war es nichts weiter als eine sadistische Folter, dass sie diese Fähigkeit mittlerweile wieder verloren hatte. Sie hätte so vieles verhindern können…
Frustriert und aussichtslos ließ sich Sally in ihr Kissen fallen. Von Langeweile geplagt waren ihre Gedanken den wildesten Pfaden gefolgt und tagtäglich hatte sie in Erwägung gezogen, Spencers letzten Atemzug zu verwenden, um den kalten Betonmauern zu entfliehen und sich mitten in der Nacht davonzustehlen. Doch Baker hatte recht gehabt. Sie war eine Gefahr und sie konnte Anna und Max unmöglich im Stich lassen. Es würde ihr das Herz brechen.
Maxine saß derweil draußen in der großen Halle, die ihnen als Gemeinschaftsbereich diente und blätterte durch ein Fotoalbum, das man ihr mitgegeben hatte. Es war einer der wenigen Wünsche gewesen, die ihr gestattet worden waren und melancholisch ließ sie den Blick über eine Seite nach der anderen schweifen.
Dort oben war Chloe, wie sie sich zusammen mit ihrem Stiefvater über eine offene Motorhaube beugte. Maxine hatte die beiden heimlich fotografiert und es war sofort eines der Lieblingsbilder von Chloes Mutter geworden.
Der Streit zwischen ihrem neuen Ehemann und ihrer Tochter hatte lange Zeit einen Riss durch die Familie gezogen und erst nach dem Unwetter, das die halbe Stadt zerstört hatte, hatten die beiden ihr Kriegsbeil begraben. Das Bild symbolisierte ihren Friedensvertrag. Natürlich waren sie beide viel zu stolz, um jemals zuzugeben, dass sie sich mittlerweile recht gut ausstehen konnten.
Maxine richtete ihren Blick auf die rechte Seite, wo sie ein amüsantes Selfie entdeckte. In der Mitte war sie selbst mit stets dem gleichen Lächeln auf den Lippen. Hinter ihrer linken Schulter befand sich Chloe, die wie so oft eine unanständige Grimasse schnitt, während rechts von ihr die fromme Kate Marsh, eine von Maxines besten Freundinnen, verlegen grinste. Sie sah so zufrieden aus. Ganz anders als damals in den dunklen Zeiten, als Maxine sie vom Dach der Schule heruntergeholt hatte.
Die Fotos waren Erinnerungen, wie in Stein gemeißelt und unzerstörbar. Es war statische Zeit, festgehalten in Farbe und Polaroid und es war ihr Fenster zur Vergangenheit. Über diese Fotos konnte sie all die schönen Momente durchleben, die sie bereits hinter sich hatte und von denen es wohl von nun an keine mehr geben würde.
Früher hatten ihr die Bilder sogar wortwörtlich Zugang zu vergangenen Augenblicken verschafft. Sie hatte sich nur konzentrieren müssen und schon war sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit aufgewacht, jedoch immer noch ausgestattet mit all ihren Erinnerungen an ein Leben, das zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht geschehen war. Eine eigenartige Erfahrung jedes Mal.
Maxine blätterte wieder eine Seite weiter und nährte sich somit dem Ende des Buches. Es blieben nicht mehr viele Bilder. Ihr Blick schoss über das Papier nach unten und blieb an einem Foto hängen, an dessen Aufnahme sie sich noch so lebhaften erinnern konnte, wie bei kaum einem anderen Bild. Es war Chloe am Charles de Gaulle Flughafen, die Sonne im Gesicht und die Augen staunend auf den Eiffelturm geheftet.
Ein Gedanke schlich durch ihren Kopf. Es war schon lange her, dass sie es das letzte Mal versucht hatte. Vielleicht waren ihre Kräfte ja nur zeitweise verschwunden gewesen. Vielleicht hatte sie einige davon wiedererlangt, ohne dass sie es gemerkt hatte. Es wäre ein wunderbares Geschenk in ihrer bitteren Lage.
Langsam hob Max eine Hand und strich sich behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann berührte sie das Foto. Ihre Finger fuhren über die glatte Oberfläche und halfen ihr, sich voll und ganz auf die Abbildung zu konzentrieren. Sie versuchte sich Chloes Lachen vorzustellen, den Klang ihrer Stimme und den Geruch ihrer blauen Haare, das Klacken ihrer Stiefel auf dem harten Boden und das Knarzen ihrer schwarzen Lederjacke, wenn sie sich bewegte.
Die Geräusche waren jedes Mal das erste gewesen, was sie von der Vergangenheit wahrgenommen hatte. Vielleicht würde es ihr wieder gelingen. Vielleicht musste sie sich nur hart genug anstrengen, sich intensiv genug an das Geschehene erinnern, um wirklich dorthin gelangen zu können. Vielleicht war es immer noch möglich.
Beinahe fünf Minuten lang saß Maxine vor ihrem Fotoalbum und starrte auf das Bild. Sie konnte Chloes Gesicht nicht sehen. Dort war nur ihr Rücken und die in Freude gehobenen Arme. Maxine war ganz allein mit einer einsamen Träne und ihre Versuche, die alte Kraft heraufzubeschwören, waren vergeblich. Die einzigen Geräusche, die sie hörte, waren jene in ihren Gedanken.
Dann knallte es plötzlich. Sally schreckte hoch und setzte sich kerzengerade in ihr Bett. Sie war gerade dabei gewesen die Augen zu schließen, um sich mangels besserer Alternativen zu einem absolut unnötigen Nickerchen hinzulegen, als plötzlich ein dumpfes Pochen in ihr Zimmer gehallt war. Es war von draußen gekommen, aus dem Gemeinschaftsbereich, den sich die vier Insassen der Anstalt teilten. Und Sally wusste auch genau, was es war.
Seufzend schwang sie die Beine aus dem Bett. Mit der linken Hand griff sie nach dem Gehstock, den man ihr gegeben hatte, ein alter, schwarzer Stab mit einem weißen Knauf. Anschließend verließ sie ihr Zimmer, wobei sie auf dem rechten Bein etwas hinkte. Vier langgezogene, hässliche Narben zogen sich an ihrer Hüfte entlang, wo Freddy sie verwundet hatte und jedes Mal, wenn ihr Fuß den Boden berührte, pochte ein dumpfer Schmerz ihren Oberschenkel hinab.
Vor ihrer Tür wandte sich Sally nach links. Ihr Blick fuhr sofort zu dem großen Metalltor, das wie immer fest verschlossen in der Betonmauer saß. Eine kleine, kugelrunde Kamera saß direkt in der Mitte über den beiden Torflügeln. Die durchsichtige Linse direkt nach unten gerichtet beobachtete sie jeden, der sich dem Ausgang näherte und auch wenn Sally es nicht sicher wusste, so war sie sich ziemlich sicher, dass jeder ihrer Tage genauestens verfolgt wurde.
„Max", rief sie und humpelte an Maxine vorbei, hinüber zu dem Hinterwäldler. Wütend ließ er seine beiden Fäuste gegen das Metalltor krachen, trat hin und wieder mit dem Fuß gegen die Konstruktion und setzte anschließend verzweifelt seine Schulter ein. Die ganze Zeit über gab er ein herzzerreißendes Heulen von sich. Er wollte hier raus.
Es war nicht das erste Mal, dass Max die Nerven verlor und sich gegen das Tor warf. Bereits zwei Wochen nach ihrer Internierung hatte er seinen ersten Anfall gehabt und bei Anna war es auch nicht anders, wobei ihre Verzweiflung jedoch anders zu Tage trat.
Anstatt unerbittlich anzukämpfen, verkroch sie sich tagelang in ihrem Zimmer und wollte nicht mehr hervorkommen. Deprimiert und hoffnungslos verweigerte sie dann jede Mahlzeit und selbst stundenlange Versuche, in denen Sally ihr gut zugeredet hatte, waren erfolglos geblieben.
Sie hatte Max nun erreicht und mit behutsamer Bestimmtheit legte sie ihren freien Arm um seine Schulter. Dabei gab sie ein beruhigendes Zischen von sich und versuchte ihn von der Tür wegzuziehen. Zunächst schien es noch so, als würde er ihre Berührung nicht einmal bemerken, doch schon bald sackte Max in sich zusammen und kauerte sich wimmernd auf den Boden, den verunstalteten Rücken gegen das Tor gelehnt.
„Schon gut", flüsterte Sally und streichelte behutsam über seinen Kopf. Früher hatte er sich immer darüber gefreut. Jetzt gehörte das der Vergangenheit an.
Sally drehte den Kopf und schaute hinüber zu Anna, während sie weiterhin versuchte, Max zu trösten. Die Jägerin war nur als Schatten in ihrem dunklen Zimmer erkennbar. Sie hatte sich auf ihr Bett gehockt und die Arme um die Beine geschlungen. Ihre Augen blitzten in der Finsternis auf, doch sie machte keine Anstalten sich zu erheben oder auch nur zu bewegen.
Kopfschüttelnd wandte Sally sich wieder Max zu. Sie würde alles tun, um den beiden irgendwie zu helfen, sie irgendwie aufzumuntern, doch sie wusste nicht wie. Max und Anna waren freiheitsliebende, kindliche Gemüter. Die Wälder auf der Coldwind Farm waren so unfassbar schnell zu ihrer Heimat geworden und sie hatten sich so wohl gefühlt, wie in einem Paradies. Und nun war ihnen alles genommen worden. Nun waren sie wieder eingekerkert und versklavt. Wie damals im Nebel.

Sally lag in ihrem Bett und blickte an die Decke. In der Finsternis der Nacht war sie kaum zu erkennen, doch sie kannte bereits jeden Riss, jede Unebenheit und jedes noch so kleine Detail, dass sie sie so klar vor Augen hatte, als wäre es helllichter Tag.
Und es war leise. Während ihrer Zeit auf dem Land, zwischen den Geschehnissen im Nebel und denen in Paris, hatte sie sich an die andauernden Geräusche der Natur gewöhnt. Das Rauschen des Windes in den Bäumen, die zirpenden Grillen und die zwitschernden Vögel hatten sich beim Einschlafen von ihr verabschiedet und sie beim Aufwachen wieder begrüßt.
Nun gab es nichts mehr davon. Sally war allein und in ihrer Einsamkeit musste sie in den Schlaf finden, obwohl sie den ganzen Tag nichts getan hatte, was sie Energie gekostet hätte. Ihr Körper war nicht müde und ihr Geist war nur betäubt, doch nicht erschöpft.
Entnervt und frustriert drehte sie sich von einer Seite auf die andere. Ihre Gedanken flogen hinaus in die Nacht und begaben sich zu einer bestimmten Person, die ihr seit ihrer Inhaftierung keine Ruhe mehr gelassen hatte.
Sie wollte unbedingt wissen, wie es Meg ging. Man hatte ihr nichts gesagt und sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt am Leben war. Allerdings war sie sich sicher, dass sie es irgendwie mitbekommen hätte, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Sie würde es wissen.
Immerhin hatte Meg es selbst gesagt. Sie waren als Freunde auf die Coldwind Farm gezogen, doch in den zwei Jahren, die sie dort verbracht hatten, war ihr Sally zur Mutter geworden. Sally hatte eine Rolle in ihrem Leben erfüllt, den bis dahin Vanessa innegehabt hatte und die von nun an hoffentlich ihr Vater übernahm.
Meg brauchte eine Familie. Ihr ganzes Leben über war ihr stets das verweigert worden, was so vielen anderen als selbstverständlich erschien und Sally kannte kaum jemanden, der es mehr verdient hätte als sie. Nicht nur hatte sie ihr bisheriges Leben ohne Vater auskommen müssen, sondern sie war auch über die letzten drei Jahre unfassbaren Schrecken ausgesetzt gewesen und es war an der Zeit, dass sie einen Ort fand, an dem sie sich wohlfühlte.
Die Coldwind Farm war drauf und dran gewesen, zu einem solchen Ort zu werden, dachte Sally. Hätte Freddy nicht entschieden, die White Masks auf sie anzusetzen, dann würde das alte Haus jetzt wohl noch stehen und sie alle gegen die kühlen Finger der Nacht schützen. In wohligen Betten würden Meg, Max und Anna in ihren eigenen Zimmern schlafen und Sally, die kaum Schlaf benötigte, würde über sie wachen.
So wie es hätte sein sollen.
So wie es nicht mehr war.
Was wäre wohl gewesen, wenn Freddy einfach in den Verließen des Entitus verschwunden wäre? Sie hätten wohl niemals mehr von Baker gehört, hätten niemals mehr irgendetwas mit der Dunkelheit des Nebels zu tun haben müssen und wären niemals als Bedrohung für die Welt aufgefasst worden.
Und dabei war Freddy nicht nur an dem Schuld, was geschehen war, sondern auch an dem, was gerade geschah. Hätte Sally ihn auf der Basis angegriffen, ihm die Hände um die Kehle gelegt und ihn erwürgt, wie die Patienten im Crotus Prenn Asylum, dann gäbe es kaum Gründe mehr, sie und die anderen drei hier gefangen zu halten. Wenn Freddy nicht mehr wäre, wäre die Gefahr gebannt. Als toter Mann konnte er sie nicht mehr als Antennen seiner Macht benutzen, als Satelliten seiner Grausamkeit.
Leider versteckte er sich immer noch im Nebel.
Sally schaute an die Decke. Ihr Auge schimmerte orange in der Dunkelheit und ihr Atem flüsterte ruhig in die Stille. Regelmäßig und beständig gab er ihr einen Takt an, an den sie ihre Gedanken binden konnte und der ihr Half, ihren Verstand zu konzentrieren.
Dass Freddy am Leben war, war der Grund für ihre bedauernswerte Lage. Wäre er nicht mehr am Leben, so gäbe es für Baker keinen Grund mehr, sie hier festzuhalten. Sie wären frei. Frei zu gehen wohin sie wollten. Frei glücklich zu sein.
Freddy musste sterben.
Sally bezeichnete sich selbst nicht gern als Mörderin, doch sie machte sich nichts vor. Ihre Taten in der Vergangenheit hatten sie gebrandmarkt und auch in unlängst vergangenen Tagen war ihr der Tod auf Schritt und Tritt gefolgt. Er schien ihr anzuhaften, wie eine Krankheit. Wie ein Virus, den sie nicht loswurde.
Doch Sally war sich vollkommen sicher, dass sie für die Tode in Paris nicht verantwortlich zu machen war. Die White Masks hatten sie gezwungen. Der Clown hatte sie gezwungen. Und Freddy, der sich feige im Nebel versteckt, zwang sie nun auch. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Sie würde lediglich für die Konsequenzen sorgen.
Der Nebel war eine Zwischenwelt. Er existierte nicht in dieser Realität und auch in sonst keiner. Er war ein reines Gedankenkonstrukt, nichts weiter als ein Hirngespinst, das sich nach Belieben verformen und anpassen ließ. Man musste nur den Schritt wagen. Man musste nur weit genug gehen, um seinen eigenen Verstand anzuzweifeln und sich dem Chaos und der Sinnlosigkeit des Nebels hinzugeben, sodass man ihn sich letztendlich zunutze machen konnte.
Der Zauberrabe konnte nur von jenen entdeckt werden, die ihn bereits gesehen hatten. Und Sally hatte ihn entdeckt.
Beinahe schwerelos versank die Krankenschwester in einem schwarzen Dunst, der plötzlich aus ihrer Matratze gekommen zu sein schien.

Sally schaute sich um. Sie stand in einem kleinen Garten vor einem dunkelroten Schulhaus, das wohl für die Erziehung von Kleinkindern erbaut worden war. Fahles Mondlicht erhellte die Szenerie und die altbekannten Schatten hatten Besitz von der Umgebung ergriffen. Unheimlich und ungreifbar huschten sie hin und her.
Doch sie konnten Sally nicht mehr schrecken.
Trittsicher ging sie auf die Schule zu. Ihre Schritte waren langsam, schlendernd, doch bestimmt. Ein weißer Lattenzaun zog sich zu ihrer Rechten entlang und wenig später hatte sie bereits eine Tür erreicht, die sie in das Innere weiterführte. Ein amüsantes Patschten hallte durch die Gänge, als ihre nackten Füße auf den kalten Boden trafen.
Doch die Kälte konnte Sally nichts mehr anhaben.
Sie spürte ihn. Sie wusste nicht, was es war, ein Geruch, ein Geräusch, vielleicht ein visueller Hinweis, doch sie war sich absolut sicher, dass er in der Nähe war. Und er wusste auch, dass sie hier war. Er wusste, dass sie gekommen war, um ihn zu holen. Er wusste, dass sie ihn nicht verschonen würde. Er wusste, dass er der Schwächere war.
Der Nebel bestand aus Gedanken und aus Emotionen. Freddy hatte ihn sich zum Untertan gemacht, indem er seinen Zorn und seine Grausamkeit kanalisiert hatte, indem er Schmerzen zugefügt hatte und das daraus resultierende Leid in den Nebel hatte fließen lassen. Es hatte funktioniert.
Doch Sally hatte das Licht auf ihrer Seite. Ihre Waffe war nicht der Hass, es war die Liebe. Die Liebe zu Anna, die seit ihrer Geburt von einem Unglück in das nächste gestolpert war. Die Liebe zu Max, der für sein Aussehen sein ganzes Leben lang getreten worden war. Die Liebe zu Meg, die ihr Verziehen hatte, obwohl Sally ihre Leben zerstört hatte. Und die Hoffnung, dass sie ihnen allen helfen konnte.
„Freddy!"
Der Ruf verhallte unbeantwortet in den Gängen. Es war ihr egal. Sie brauchte keine Antwort, um ihn finden zu können und witternd drehte sie den Kopf zuerst nach rechts, bevor sie sich schließlich doch nach links wandte. Der Gestank des Dämons zeigte ihr den Weg. Sie brauchte ihm nur zu folgen und er würde sie direkt zu ihm führen.
Sallys Weg ging über eine schmale Treppe hinunter in einen dunklen Keller. Die schmutzigen Wände wurden von zwei Glühbirnen erhellt, die in einem viel zu weiten Abstand von der Decke hingen und mit ihrem Licht gegen die Dunkelheit des Nebels ankämpften. Rohre zogen sich an den Mauern entlang. Weißer Dampf zischte in unregelmäßigen Abständen aus ihren Ventilen und sammelte sich am Boden zu einer milchigen Suppe, die von Sallys nackten Füßen aufgewirbelt wurde.
Ihr Herz schlug unter ihrer Brust. Sie konnte es genau hören. Es war ruhig und entspannt, doch es brannte vor Entschlossenheit. Sie war hier, um dem Grauen ein Ende zu setzen und jede Faser in ihrem Körper sehnte sich nach Vergeltung für all die Gräuel, die ihr und ihrer Familie wiederfahren waren.
Eine silberne Klaue blitze auf, schnitt pfeifend durch die Luft und wurde gestoppt, bevor sie in ihr Ziel finden konnte. Sally hatte den Hieb mit Leichtigkeit abgeblockt. Ihre Hand hatte sich um Freddys Unterarm geschlossen und im nächsten Moment drückte sie ihn bereits dermaßen kraftvoll von sich weg, dass der verbrannte Mann ins Taumeln kam. Keuchend wurde er nach hinten geworfen und krachte mit dem Rücken gegen eine Wand.
„Sei verflucht", knurrte Freddy. Er hielt sich mit einer Hand an einem Rohr fest und musterte Sally aus einer leicht gebückten Haltung. Eine unsichtbare Last schien ihn nach unten zu ziehen, seine Kräfte schienen zu schwinden und auf Sally wirkte er kaum mehr wie der grausame Traumdämon, sondern viel mehr wie ein alter, verbitterter Greis.
Sie selbst hingegen stand aufrecht, ihr oranges Auge funkelte in der Dunkelheit und ihre Glieder wurden durchströmt von frischer Energie. Er hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Die Kräfte, die in diesem Reich am Werk waren, standen nicht mehr auf seiner Seite und die Macht über den Nebel war ihm längst entglitten.
Wild schreiend stürzte er nach vorne. Ein verzweifelter Versuch, sich gegen seine Jägerin zur Wehr zu setzen scheiterte kläglich, als Sally ihn mit Leichtigkeit an der Kehle packte und zurückwarf. Ein kratzendes Gurgeln entwich Freddys Maul. Hustend und nach Luft schnappend griff er sich an den Hals, während er sich mit der behandschuhten Hand an einer Wand abstützte.
Er war auf die Knie gefallen, doch bevor er sich aufrichten konnte, traf ihn Sallys Fuß mit voller Wucht gegen die Brust. Sein Hut fiel zu Boden. Ein Schmerzensschrei entwich seinen Lippen, brach jedoch ab, als Sally ihm sofort nachsetzte, ihn mit dem Knie zu Boden drückte und beide Hände um seinen Hals legte.
Sie konnte den Puls des Killers auf ihren Handflächen spüren. Sie fühlte seine Atemzüge in ihren Fingern und verfolgte aufmerksam und mit Tränen in den Augen, wie sie immer stoßartiger, immer verzweifelter und immer schwächer wurden.
Seine Hände langten nach ihrem Gesicht. Seine Klauen versuchten ihr in die Seite zu stechen, doch so sehr er sich auch anstrengte, es wollte ihm nicht gelingen. Er hatte versagt und er würde für die Untaten, die er begangen hatte, für all die Leben die er genommen und all das Leid, das er gesät hatte, bezahlen.
Mit dem Tod.
Keuchend erhob sich die Krankenschwester. Ihre Hände zitterten und ihr Blick verharrte kurz auf dem verbrannten Leichnam, bevor sie sich abwandte und versuchte ihren Atem zu beruhige. Es war vorbei. Sie hatte es geschafft. Das Schreckgespenst war besiegt und es war so einfach gewesen. So unfassbar einfach.
„Anna", murmelte Sally: „Ich komme."
Ein Krächzen hallte durch das Gemäuer und als Sally den Kopf drehte, erblickte sie einen Raben, der sie mit schiefgelegtem Köpfchen anstarrte. Er saß auf einem der Rohre knapp unter der Decke und seine Augen schienen sich förmlich in sie hineinzubohren.
Adrenalin flutete durch Sallys Köper. Ihr Herz begann plötzlich zu schlagen und sie fühlte sich, als würden tausend Hände nach ihr greifen, sie an ihren Schultern packen und auseinanderreisen. Schwarzer Nebel kroch auf sie zu und umhüllte sie. Sie konnte nichts mehr sehen, nichts mehr hören und nichts mehr denken. Eiskalte Kiefer verschlangen sie. Nagende Zähne zermahlten ihre Knochen.
Plötzlich wurde Sally hinausgezogen. Ihr Geist wurde aus ihrer sterblichen Hülle gezerrt und hochgeschleudert in die Unendlichkeit des Nebels, wo er sich zwischen Galaxien und Atomen wiederfand. Sally konnte nichts fühlen, denn sie hatte keinen Körper, der fühlen konnte. Sie existierte zwischen den Welten, außerhalb der Realität in der Dunkelheit, die nicht durchbrochen werden konnte. Sie schwebte im Schatten. Niemand konnte sie sehen. Doch sie selbst sah alles.
Da waren Welten. Tausende Welten, verschiedene Realitäten und überall war Leben, das vor sich hinvegetierte und von dem niemand wusste. Getrennt durch die Finsternis existierte jeder Ort in einer eigenen Dimension ohne Verbindung oder Brücke. Dazwischen war nur der Nebel.
Sally sah Metallriesen, die vom Himmel fielen und sich in Schlachten stürzten. Sie sah eine große Stadt auf einem steinernen Bogen über dem Meer. Sie sah einen weißhaarigen Krieger, der nach seiner Tochter suchte. Sie sah eine glänzende Metropole, in der Menschen mit Maschinen zusammenlebten. Sie sah eine schwarze Pyramide, die ihn den Himmel schwebte.
Sie sah tausende Welten, bevor der Nebel sie in sich aufnahm und sie in allumfassende Dunkelheit fiel.

Sally knallte auf den Boden. Ihr Kinn kracht gegen harten Beton und ihre Zähne schlugen schmerzhaften gegeneinander, sodass sie bereits glaubte, sie wären allesamt zerbrochen. Doch dem war nicht so. Der Schmerz war zurückgekehrt zusammen mit ihrem Körper, der jedoch genau so war, wie sie ihn verlassen hatte. Die Narben zwickten sie an der Hüfte und ihr Auge war immer noch allein in ihrem Gesicht.
Sie schaute auf ihre Hände. In der Dunkelheit war es schwer zu erkennen, doch Sally konnte schwören, noch den Hauch dunkler Nebelschwaden um ihre Finger tanzen zu sehen, bevor sie sich ins Nichts verflüchtigten.
Und das seltsamste an der ganzen Sache war, dass sie genau wusste, was geschehen war. Es war ihr alles so sonnenklar. Sie hatte Freddy getötet. Die gesamte Energie und Macht, die er über den Nebel gehabt hatte, war aus ihm geflohen, wie die Ratten von einem sinkenden Schiff und sie hatten sich den nächstbesten Gastgeber gesucht, den sie finden konnten. Der Nebel hatte sie verschlungen und sie hatte gesehen, was er wirklich war. Eine Grenze. Ein Dazwischen.
Sally wusste was geschehen war. Sie wusste jedoch nicht, was dies nun bedeute.
Außer, dass es nun absolut keinen Grund mehr gab, sie und die anderen noch länger hier festzuhalten und im Moment war das alles, was sie zu wissen brauchte. Ruckartig stand sie auf, verließ ihr Zimmer und trat hinaus in die große Halle. Fahles Mondlicht flutete durch das gläserne Dach herein, doch der Himmel hatte bereits begonnen aufzuhellen, es war also kurz vor Sonnenaufgang.
Zielstrebig eilte Sally auf das große Metalltor zu. Die Narben in ihrer Seite protestierten schmerzhaft, doch im Moment spürte sie es nicht. Die Türen zu den Räumen der anderen waren verschlossen, aber Sally bezweifelte, dass sie alle schliefen. So oder so würde sie sie nun ohnehin aufwecken.
„BAKER!", rief Sally und ihre Faust knallte gegen das eiserne Tor. Ihr Blick fuhr hinauf zu der Kamera und brannte durch die schwarze Linse, die ihr unbeeindruckt entgegenstarrte. Wer auch immer sich auf der anderen Seite befand durfte sie nicht ignorieren.
Rechts von dem Portal befand sich eine kleine Sprechanlage mit einem Lautsprecher und einem Mikrofon. Bisher war sie lediglich dazu verwendet worden, ihnen am ersten Tag ihrer Inhaftierung alle Anweisungen zu erteilen und ihnen zu erklären, wie ihr Leben von nun an ablaufen würde. Es war ein kurzes Gespräch gewesen und seither hatte das kleine Kästchen geschwiegen.
„Hey", rief Sally und langte mit ihrem Gehstock hinauf zu der Kamera: „Ich weiß, dass ihr mir zuschaut. Ich muss mit Baker sprechen. Jetzt!"
Alles was sie als Antwort erhielt, war gähnende Stille. Nervös konnte sie ihren eigenen Fuß gegen den Boden patschen hören, woraufhin sie sich zum Aufhören zwang. Ihr Kopf war immer noch benebelt von ihrem Abenteuer und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Sie spürte die Verbindung, die sich aufgebaut hatte. Der Nebel zog an ihrer Brust.
„Mrs Smithson"
Sally blickte überrascht auf, als eine rauschende Stimme aus dem Lautsprecher gekommen war.
„Bitte legen sie sich schlafen."
„Nein"
Sie schaute wieder kurz hinauf zu der Kamera, bevor sie sich breitbeinig vor die Gegensprechanlage stellte.
„Ich muss mit Baker sprechen. Sofort."
Der Kommandant schläft. Außerdem ist ihnen jeglicher Kontakt…"
„Er ist also hier?", fragte Sally: „Dann wecken sie ihn auf. Es ist wichtig, verdammt noch mal."
Eine kurze Pause folgte ihrer Aufforderung. Dann rauschte es erneut aus dem Lautsprecher.
„Ich leite ihre Anfrage weiter."
„Tun sie das."
Sally nickte selbstzufrieden. Sie hatte nicht gewusst, dass sich Baker auch nachtsüber in dem Gefängnis, der Basis, der Anlage oder wie auch immer man es nennen mochte, befand. Er war wohl versetzt worden, war an einem abgelegenen Ort in Deckung gegangen, während in Paris die Jagd nach einem Schuldigen begann.
Sally vermutete natürlich nur, doch sie war gleichzeitig froh, dass er als Ansprechperson übriggeblieben war. Baker hatte sich bereits früher als Freund erwiesen und sie hoffte, dass er es wieder tun würde.
Ein weiteres Mal erfasste Stille den Raum und Sally konnte den Schlag ihres eigenen Herzens hören. Spannung hatte ihren Körper ergriffen, denn sie wusste, dass sie ihn nun überzeugen musste. Sie hatte ihre Worte sorgfältig zu wählen, wenn sie Baker dazu überreden wollte, sie alle gehen zu lassen. Sie musste ihm beibringen, dass Freddy keine Gefahr mehr war.
Etwa eine Viertelstunde wartete Sally vor dem Tor. Die Arme vor der Brust verschränkt, hatte sie den Blick immer wieder über die verschlossenen Türen ihrer Zellengenossen gleiten lassen, doch sie hatte sich keinen Zentimeter von der Gegensprechanlage entfernt. Stur und unumstößlich verharrte sie, bis sie schließlich eine Antwort erhielt.
„Hallo Sally"
Er klang müde und gestresst, doch es war Baker. Sie hatte seine Stimme sofort erkannt.
„Guten Morgen, Benedict."
„Was gibt es?"
„Ich muss mit dir reden."
„Habe ich gehört. Also, was gibt es?"
„Von Angesicht zu Angesicht"
Baker schien für einen Moment zu überlegen, bevor er entgegnete: „Das geht nicht. Du kennst die Regeln, Sally."
„Die Regeln sind mir egal", gab Sally zurück: „Und wenn ich will, komme ich auch so durch diese Tür, das weißt du."
Die Sekunden zogen sich in die Länge und sie erhielt keine Antwort.
„Baker?"
„Ich weiß", murmelte der Kommandant und im nächsten Moment fuhr ein metallisches Klicken durch das große Metalltor. Riegel zogen sich zur Seite und Schlösser wurden gelöst. Dann schwangen die schweren Flügel auf. Ein kleiner Spalt entstand, durch den Sally sich sofort hindurchzwängte.
„Geh den Gang entlang", trug ihr Baker noch auf: „Bleib nicht stehen. Ich treffe dich in der Mitte."
„Hervorragend", knurrte Sally, wobei sie nur zu sich selbst sprach. Zuerst schob sie ihr linkes Bein durch die Öffnung, dann zog sie das rechte nach. Ein kurzes Stechen im Oberschenkel, doch es war allemal zu verkraften. Ihr Stock stützte sie.
Der Korridor hinter dem großen Tor war ihr bereits bekannt. Es war ein langgezogenes Betonkonstrukt mit Neonröhren und einigen Türen, die links und rechts wegführten. Sie waren allesamt verschlossen und Sally wusste nicht, was hinter ihnen lag, doch es war ihr egal. Sie wollte diesen Ort nicht kennenlernen. Sie wollte ihm entfliehen.
Sally begann bereits den Gang hinunter zu humpeln, als sie im Halbdunkel der Neonröhren mehrere, mit grauen Planen verdeckte Objekt an der Wand stehen sah. Sie wirkten irgendwie fehl am Platz, fast so als ob sie nur hier gelagert werden würden und die Neugierde packte Sallys Gedanken.
Wenn das FBI irgendwelche neuen Pläne schmiedete, möglicherweise irgendwelche Experimente ausheckte, dann wollte sie davon wissen. Schwungvoll griff sie nach der Plane und zog sie nach hinten weg. Der graue Stoff wirbelte durch die Luft. Ihr Blick galt jedoch den sechs rundlichen Maschinen, die ein wenig aussahen, wie senkrecht aufgestellte Flugzeugtriebwerke. Nur kleiner und etwas länglicher.
„Sally"
Sie wandte sich um. Am unteren Ende des Ganges war Bakers rundliche Silhouette erschienen und mit gewohnter Nervosität watschelte er auf sie zu. Er trug eine hellbraune Uniform, die ihm eine Nummer zu klein zu sein schien und die er ganz offensichtlich überhastet angezogen hatte. Sein Haar klebte an seiner Stirn und seine Augen schossen unsicher hin und her.
„Benedict" entgegnete Sally und nahm etwas Abstand von den seltsamen Objekten. Auf ihren Stock gestützt streckte sie ihm die Hand entgegen. „Schön dich zu sehen."
„Mach schnell, Sally", erwiderte Baker, als er etwa fünf Meter von ihr entfernt stehen blieb: „Worum geht´s?"
Sally ließ die Hand wieder sinken, zeigte ansonsten jedoch keine Reaktion. Er schien ihr nicht wirklich zuhören zu wollen, doch sie musste ihn zur Vernunft bringen.
„Ich wollte mit dir sprechen…"
„Ich weiß", rief Baker: „Um Himmels willen, komm zur Sache, Sally. Schon allein, dass ich dir hier gegenübertrete könnte schwere Konsequenzen nach sich ziehen."
„Für dich meinst du?"
„Für wen denn sonst?"
Sally schüttelte den Kopf. Natürlich würde ihr nichts geschehen. Ihr konnte ja auch nichts mehr geschehen, was ihr nicht bereits wiederfahren war und abgesehen davon war sie auch kaum für ihre Aktionen verantwortlich zu machen, da sie über so gut wie keine Freiheit mehr verfügte.
„Benedict", sagte Sally und machte einen Schritt auf ihn zu: „Es gibt keinen Grund mehr, uns noch länger hier festzuhalten. Freddy ist tot. Die Gefahr ist vorbei. Ihr könnt uns rauslassen."
„Was?"
„Ihr habt uns eingesperrt, weil ihr euch vor unbekannten Kräften gefürchtet habt, die uns als Tor in diese Welt benutzen könnten."
„Sally, was… was redest du denn da?"
„Solche Kräfte gibt es nicht mehr. Freddy ist tot und außer ihm gibt es niemanden, der eine Bedrohung darstellt. Der Nebel ist leer, Benedict. Ich habe es gesehen."
„Du hast es gesehen?"
Baker fuhr sich mit beiden Händen über die Stirn.
„Großer Gott, Sally, was hast du angestellt? Du… Du bist doch nicht etwa in den Nebel gelangt?"
Sally nickte nur.
„Aus diesem Raum dort hinten?"
Baker zeigte wütend mit der Hand an der Krankenschwester vorbei und durch das große Metalltor, das immer noch einen spaltbreit offenstand.
„Es spielt keine Rolle, wo ich mich befinde", antwortete Sally: „Ich kann von überall hinein. Ich weiß jetzt wie es geht."
Baker schaut nur zu Boden. Er hatte die Hände in die Seiten gestützt und schüttelte den Kopf, während er angestrengt versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.
„Es ist fünf Uhr morgens, verdammt", bellte er schließlich: „Was fällt dir ein mich um diese Uhrzeit aus dem Bett zerren zu lassen?"
Sally zog überrascht eine Augenbraue nach oben. Es war nicht die Reaktion, die sie von ihm erwartet hatte.
„Weißt du eigentlich, was ich alles aufs Spiel gesetzt habe, damit sie euch nicht einfach umbringen? Weiß du, wie viel diese Einrichtung hier kostet?"
„Woher denn?", gab Sally zurück: „Ich war etwas isoliert in letzter Zeit."
„Sehr witzig. Hör mir zu, dass ich euch hier einsperre ist ein Akt der Gnade. Ich habe draufgezahlt, Sally, aber ihr habt mir geholfen, also helfe ich jetzt euch. Eine Hand wäscht die andere."
Mit verschränkten Armen stand Sally ein paar Meter von Baker entfernt und ließ seine Tirade über sich ergehen, während sie fieberhaft überlegte, was sie nun sagen sollte.
„Aber ihr seid Monster, verdammt nochmal. Ihr müsst einsehen, dass ihr nicht in die Welt hinausgehört. Das da draußen ist kein Ort mehr für euch. Und wenn ihr nicht gewesen wärt, würden eine ganze Menge Menschen noch leben. Unschuldige Menschen. Kinder!"
Sally ließ es sich nicht anmerken, doch seine Worte trafen sie. Trotzdem war die Vergangenheit die Vergangenheit und an der konnte sie nichts mehr ändern. Sie würde es auch nicht versuchen. Stattdessen konzentrierte sie sich nun auf die Zukunft und die Gegenwart.
„Hast du Anna gesehen?", fragte sie mit bemühter Ruhe: „Hast du gesehen, wie es ihr geht?"
Baker antwortete nicht.
„Sie leidet, Benedict, gerade weil sie nicht mehr da draußen ist. Das hier ist kein Ort für sie und jeden Tag, den du sie hier festhältst, nenne ich keinen Akt der Gnade. Es ist pure Grausamkeit. Folter, für die es keinen Grund mehr gibt."
Baker antwortete immer noch nicht.
„Und ich hoffe von Maxine brauche ihr gar nicht erst anzufangen."
„Und was schlägst du vor, dass ich mache?", rief Baker: „Euch einfach alle rauspazieren lassen? Selbst wenn ich wollte könnte ich nicht. Es liegt nicht in meiner Hand."
„In wessen Hand liegt es denn?"
„Hör auf, Sally", sagte Baker nur, ohne auf ihre Frage einzugehen: „Geh zurück und versuch nie mehr, mich anzulügen."
„Du glaubst, das war eine Lüge?"
Sally legte den Kopf auf die Seite und schaute Baker entgeistert an. Dieser hielt ihrem Blick stand.
„Was denn sonst? Du kannst nicht einfach so in den Nebel, schon gar nicht von da drinnen. Ihr habt keine Janusmaschine und Lisa ist tot. Der Nebel ist verschlossen."
„Benedict…"
„Eure einzige Chance, auf ein kleines Quäntchen mehr Freiheit, sind diese Geräte hier."
Er deutete auf die seltsamen Objekte, die vorhin unter der Plane verborgen gewesen waren. Sally folgte seinen Blick und schwieg kurz, bevor sie langsam fragte: „Was sind das?"
„Das ist unsere Antwort auf den Einsatz der Janusmaschinen in Paris", antwortete Baker: „Wir können nicht mehr auf euch zurückgreifen und sollte es jemals wieder zu so einer Katastrophe kommen, in der die beiden Realitäten verschmelzen, brauchen wir etwas, das die Verbindung schließt. Wer nennen diese Dinger Inhibitoren. Sie blockieren den Nebel und alles, was entfernt damit zu tun hat. Einschließlich Freddys und eurer Kräfte. Und in Kürze werden sie überall in dieser Anstalt angebracht werden, sodass ihr euch etwas freier bewegen könnt."
Sally sagte nichts. Ihr Blick haftete auf den Inhibitoren, die unschuldig in der Ecke standen und wie kalter Regen prasselte die Erkenntnis auf ihren Verstand ein. Baker hatte nicht vor, sie jemals wieder hier herauszulassen. Es stand außer Frage und nichts was sie hier sagte, würde etwas daran ändern. Des Weiteren würden sie diese Geräte in Kürze jeglicher Kraft berauben, die sie besaß. Ihre letzte Hoffnung, die letzte Kontrolle, die sie über die Situation hatte. Das konnte sie nicht zulassen. Sie musste handeln.
„Sally…", murmelte Baker beschwichtigend und hob langsam die rechte Hand. Ein oranger Schein war durch den Korridor geflutet, als Sally die Finger ihrer linken Hand zur Faust geschlossen und Spencers letzten Atemzug heraufbeschworen hatte.
„Tu es nicht", befahl Baker: „Lass es."
Doch sie konnte nicht. Sie musste es tun. Ansonsten gab es für sie und die anderen keinen Ausweg mehr. Ansonsten wäre es hier zu Ende. Ein langgezogenes Kreischen ertönte und Sally spürte, wie sich ein Haken in ihre Brust bohrte und sie nach oben zog.
Baker rief etwas, doch sie konnte es nicht mehr verstehen. Dunkelheit umfing sie, als sie durch die Betonmauern brach, ohne sie zu berühren und ohne auch nur einen Kratzer in ihnen zu hinterlassen. Wie von Geisterhand getragen stieg sie immer weiter auf, bis sie schließlich die Hand sinken ließ und sich keuchend auf einem flachen Untergrund wiederfand.
Sally schaute sich um. Sie stand auf einem Flachdach. Es gab mehrere Antennen, ein paar Kamine und zu ihrer Rechten eine große Glaskuppel, die Sally sofort wiedererkannte. Um den Gebäudekomplex herum erstreckte sich ein schier endloser Wald. Sally konnte gerade so über die Baumwipfel hinausblicken und entdeckte zwei geschwungene Berge. Der Wind strich über ihre Haut und kitzelte sie an den Zehen, die knapp über dem Boden schwebten. In unendlicher Ferne schob sich die Sonne über den Horizont.
Sally zuckte zusammen, als plötzlich eine Alarmsirene ertönte. Sie hörte Stiefel unten vor dem Haus und irgendwo brüllte jemand aggressive Befehle, doch noch war sie außer Sicht. Nervös ließ sie den Blick zu allen Seiten schießen, doch sie konnte nichts erkennen, was wie Zivilisation aussah. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, aber es sah nach einem abgelegenen Ort in den nördlichen USA aus.
Mit einem Satz warf sie sich nach vorne und hob gleichzeitig ihre linke Hand. Erneut ließ sich Sally von Spencers letztem Atemzug tragen, doch dieses Mal zielte sie nicht nach oben, sondern auf die Bäume, die sich um den Betonblock drängten. Wie eine Skispringerin beschrieb sie einen hohen Bogen durch die Luft. Ihr Kleid flatterte im Wind.
Dann trafen ihre Füße auf kalten Waldboden, verborgen zwischen Büschen und Sträuchern. Sally war frei. Sie kannte die Wahrheit, doch damit war sie vollkommen allein. Niemand glaubte ihr. Niemand würde ihr helfen. Doch sie hatte jetzt eine mächtige, dunkle Macht auf ihrer Seite und sie musste die Dinge richtigstellen.
Und genau das würde sie auch tun.
So schnell sie ihre Beine trugen lief Sally davon und war schon bald zwischen den Bäumen verschwunden.

Und damit endet Oneiros. Die Geschichte ist allerdings noch lange nicht fertig und wird in Nerio fortgesetzt. Bevor ihr euch allerdings ans Weiterlesen macht, nehmt euch doch eine halbe Minute und lasst mir eine Rückmeldung da! Zum Beispiel indem ihr kurz auf die Fragen unten eingeht.

1. Allgemeine Meinung, wie hat euch die Geschichte gefallen? War sie spannend, ergreifend, romantisch, vielleicht sogar witzig?

2. Bei Oneiros handelt es sich ja um ein Crossover zwischen drei relativ unterschiedlichen Fandoms. Wie ist die Mischung gelungen? War sie glaubhaft und realistisch oder kam das Zusammentreffen der Charaktere etwas gekünstelt herüber?

3. Aufgrund der enormen Länge und Anzahl der Charaktere war es schwierig wirklich alle gleichermaßen einzubinden. Maxine beispielsweise war ja die meiste Zeit im Tiefschlaf versunken. Gibt es irgendwelche Figuren von denen ihr gerne mehr gesehen hättet? Sind irgendwelche Figuren zu lange behandelt worden?

4. Anknüpfend an die obige Frage: Freddy wurde als Antagonist lange Zeit nur angedeutet und trat eher als mystische Kraft hinter den White Masks, anstatt als konkreter Akteur in Erscheinung. Am Ende war er dann auch recht schnell wieder besiegt. Kam Freddy eurer Meinung nach zu kurz?

5. Wie kam euch der allgemeine Verlauf der Geschichte vor? Gab es langweilige Passagen, die kürzer hätten sein sollen? Beispielsweise die Zeit zwischen dem Angriff auf die Farm und dem Beginn des Spiels? Wie spannend war es, Claudette und ihre Mitstreiterinnen durch das Spiel zu verfolgen? Welche Station war die beste?

6. Mit der neuen Definition des Nebels als Zwischenwelt steht mir jetzt ja so ziemlich jede Fandom offen. Nerio wird zwar auf der realistischeren Seite bleiben, trotzdem würde ich gerne hören, ob es irgendwelche Figuren oder Fandoms gibt, die ihr gerne in die Story eingebunden sehen wolltet.

Danke fürs Lesen!