Als Mary-Sue erwachte, war es kalt. Sie lag auf einem harten Bretterboden. Als
sie die Augen öffnete und sich aufsetzte stellte sie fest, dass sie zwar nicht nackt
war - aber dass sie lediglich ein weißes T-Shirt und eine verwaschene Jogging-
Hose trug.
Hinter ihr erklang eine Stimme. "Soso - Du bist also wach!"
Mary-Sue sprang auf und fuhr herum. Doch es war niemand zu sehen. "Wer ist
da?"
"Du kannst mich nicht sehen. Ich bin Realität."
"Aber wer bist du?"
"Das sagt ich bereits: Realität. Ich sorge dafür, dass die *Regeln* eingehalten
werden."
"Die Regeln?"
Realität seufzte. "Ich wusste, dass du das sagen würdest - denn wenn du die
*Regeln* kennen würdest, hättest du dir ein paar schmerzhafte Erfahrungen
erspart."
"Das verstehe ich nicht!"
"Das dachte ich mir. Die *Regeln* sind dazu da, dass die Welt nicht aus den
Fugen gerät. Eine Regel ist zum Beispiel die: Menschen ändern sich nicht. Oder
wenn - dann nur sehr, sehr langsam.
Ich weiß - das ist eine schwierige Regel. Gerade neulich habe ich ein ernstes
Wörtchen mit Joanne Kathleen darüber verloren. Aber auch wenn es ein
schwieriges Konzept ist - was DU getan hast, ist unverzeihlich!"
"Aber - was habe ich denn getan?"
"Du hast Menschen verbogen. Hast sie dir gefügig gemacht. Damit sie so sind,
wie du sie haben willst."
"Ich weiß gar nicht, was du meinst!"
"Also gut - du bist offensichtlich nicht sehr klug, also erkläre ich es dir ganz
langsam."
Etwas protestierte in Mary-Sue. Eine leise Stimme, die sagte: "Natürlich bin ich
klug - ich bin Jahrgangsbeste..." Doch die leise Stimme verstummte sehr schnell
als ein eisiger wind an Mary-Sue vorbeifegte.
"Du hast dich im Harry-Potter-Universum eingenistet. Das an sich ist schon ein
Problem - aber *DU* hast dich so stümperhaft eingefügt, dass beinah alles außer
Kontrolle geraten wäre.
Du hast Harry dazu gebracht sich in dich zu verlieben.
Du hast Hermione zu einem weinerlichen Dummchen gemacht.
Du hast auf beinah alle Schüler eingewirkt, so dass sie dich mochten.
Dasselbe hast du mit den Lehrern gemacht.
Und beinah hättest du es sogar geschafft, dass Severus Snape, ein ehrbarer und
vertrauenswürdiger Lehrer von Hogwarts das Gesetz bricht und sich mit einer
Schülerin einlässt.
All diese Dinge sind *falsch*.
Keiner dieser Menschen würde sich so verhalten.
Du hast sie über Wochen und Monate gezwungen sich vollkommen
*UNREALISTISCH* zu verhalten.
Du hast sie verändert. Du hast sie verbogen. Du hast sie vergewaltigt. Du hast
sie für deine egoistischen Zwecke ausgenutzt.
Siehst du das ein?"
"Ähm... ja?" Mary-Sue war sich nicht sicher, ob sie das Ganze wirklich verstand.
"Du hast eine Blase erzeugt, in der es keine Realität mehr gab. Hogwarts, Harry
und seine Freunde, Snape - sie alle waren überhaupt nicht mehr sie selber.
Sie waren deine Marionetten und mussten Dinge tun, die ihrer wahren Natur -
ihrem wahren Charakter widersprachen.
Das mag niemand gern. Kein Mensch lässt gerne seine Handlungen von anderen
bestimmen. Deswegen waren sie so schadenfroh. Sie haben erkannt, was du
getan hast. Nachdem deine Kraft geschwunden war, haben sie dich gesehen, wie
du wirklich bist. Und ihr Zorn hat dich getroffen."
"Was meinst du - sie haben mich gesehen, wie ich wirklich bin? Ich meine, ich..."
Direkt vor Mary-Sue erschien ein Spiegel, der vor ihr in der Luft schwebte. Als
Mary-Sue hineinsah, erschrak sie. Beinah hätte sie aufgeschrien, doch der Schrei
blieb ihr in der Kehle stecken.
Im Spiegel sah sie ein Mädchen. Es hatte keine langen, roten Haare - sondern
lediglich kinnlange, Haare eines unbestimmten Dunkelblonds. Sie sahen ein
wenig fettig aus.
Ihr Gesicht war auch anders. Es war nicht schmal und aristokratisch - es war
gewöhnlich. Ein wenig rundlich. Und ein paar Pickel gab es da auch.
Ihre Augen schienen grau zu sein - oder war es doch blau? Jedenfalls waren sie
nicht grün - und sie hatten auch keinen gelben Rand um die Pupille.
Mary-Sue schlug beide Hände vor den Mund, als sie an sich heruntersah. Sie war
nicht schlank und elegant. Sie hatte recht stämmige Beine. Und ein paar
Fettpölsterchen auf den Hüften. Und auf den Rippen. Und ihre Oberarme waren
auch ein bisschen zu kräftig.
Sie sah furchtbar aus - furchtbar *normal*.
"Wie du siehst, bist du nichts besonderes. Du bist nicht perfekt. Kein Mensch ist
perfekt. Und anderen Menschen vorzugaukeln man wäre es, ist falsch.
Andere Menschen zu manipulieren, so dass sie glauben, man sei perfekt ist
falsch. Es ist egoistisch. Du hast all diese Menschen in Hogwarts ausgenutzt. Du
hast sie missbraucht - für deine egoistischen Zwecke. Du hast sie dazu gebracht,
dass sie ein eitles kleines Monster angebetet haben.
Das ist dein Verbrechen.
Sie haben mehr *RESPEKT* verdient."
"Respekt?" Langsam kam Mary-Sue wieder zu sich. Sie hatte das Gefühl, wieder
*realer* zu werden. "Aber - es sind doch keine *echten* Menschen" Es sind doch
nur Figuren - in einem Buch... Sie sind doch nicht real..."
Mary-Sue schrie auf, als ein eisiger Windstoß sie durch die Luft und gegen eine
Wand schleuderte, die zuvor noch nicht da gewesen war.
"NICHT REAL?" Donnerte die Stimme von Realität über Mary-Sue hinweg.
"NICHT REAL? Natürlich sind sie real! Nur weil sie nicht aus Fleisch und Blut sind,
sind sie nicht rechtlos! Nur weil sie in einem Buch leben - einer Welt aus Worten
und Papier und nicht in einer Welt aus Stein und Luft und Erde heißt das nicht,
dass sie nicht REAL sind!
Sie SIND real. In IHRER Welt. Sie sind Menschen mit CHARAKTEREN. Sie ändern
sich nicht einfach so. Denk an die *REGELN*!"
"Aber..." Mary-Sue rieb sich den schmerzenden Rücken.
"KEIN ABER! Menschen in Büchern sind Menschen mit festen Eigenschaften.
Solange sie in ihrer Welt leben, sind sie REAL. Sie haben RECHTE.
U N D S I E V E R D I E N E N *RESPEKT*! Du kannst nicht einfach mit
ihnen machen, was du willst! Verstanden?"
Realität sah kopfschüttelnd auf das Häufchen Elend vor sich auf dem Boden. Das
war also der klägliche Rest von diesem Mary-Sue Monster. Würde sie die
*Regeln* jemals verstehen?