Linger

Kapitel 1

Als ich an diesem späten Abend im Krankenflügel aufwache, weiß ich, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Vage dümple ich durch meine Erinnerungen, dann gebe ich auf. Bis ich meine Sinne alle wieder beisammen habe, wird es noch etwas dauern. Mein Körper und mein Geist sind mit Medikamenten vollgepumpt, ich befinde mich ein einem Zustand der Schwebe. Angeblich soll das ja recht befreiend wirken, mir hilft es eher nicht.

Fest entschlossen, den Vorgang meiner Selbstfindung zu beschleunigen, greife ich nach meinem Morgenmantel, den jemand über einen Stuhl neben meinem Bett gehängt hat, schlüpfe hinein, ziehe mir die Puschen an und steige aus dem Bett. Ich halte es nicht aus, im Dunkeln gelassen zu werden.

Darauf bedacht, keinen unnötigen Lärm zu machen, schleiche ich mich davon. Madam Pomfreys Stimme ist in der Ferne zu hören. Sie sieht es nicht gern, wenn sich ihre Patienten hinterrücks verdrücken. Aber darauf kann ich nun wirklich keine Rücksicht nehmen.

Ungesehen erreiche ich die Tür und taste mich voran, wanke mit einer Hand an der Wand weiter, um nicht den Halt zu verlieren, den sie mir gibt. Ich nehme Abzweigungen und Wege, von denen ich weiß, dass sie nur von den wenigsten genutzt werden. Hogwarts ist mein Zuhause. Ich liebe die Schule und kenne fast jeden Winkel, da ich oftmals mit Harry und unter Zuhilfenahme der Karte des Rumtreibers geheime Gänge erkundet habe.

Auf meinem Weg taumle ich und zwinge mich zu einer Pause. Langsam setzt mein Hirn wieder ein. In Hogwarts hat es dieses Schuljahr viele schreckliche Zwischenfälle gegeben: ein mit einem Fluch belegtes Halsband tauchte plötzlich auf, eine Flasche vergifteter Met wurde geöffnet und zuletzt gab es ein Duell auf Leben und Tod, in das Harry und Draco verwickelt waren. Mehrere Flüche gingen daneben, ein paar von ihnen fanden ein Ziel. Unter anderem auch mich.

Seit ich die Augen geöffnet habe, wollte ich erfahren, was während meiner Abwesenheit geschehen ist. Jetzt habe ich es nicht mehr so eilig und wünsche mir, ich hätte alles nur geträumt. Verängstigt taste ich nach meiner Seite, auf der ein dicker Verband angebracht ist. Die Schmerzmittel verfehlen ihre Wirkung nicht.

Ich will mich gerade aufrichten, als ich am anderen Ende des Korridors einen charakteristischen schwarzen Schatten erblicke: Snape. Der hat mir zu meinem Glück noch gefehlt. Was will der hier? War er etwa auf der Suche nach mir?

Wie um meine Befürchtungen zu bestätigen, hält er schnurstracks auf mich zu. Ihn und seine furchteinflößende Erscheinung begleitet das leise Rascheln seines wallenden Umhangs, der ihm nicht ganz zu Unrecht den Ruf der Fledermaus eingebracht hat. Er schleicht auch spätnachts noch durch die Gänge und scheint immer genau zu ahnen, wenn es irgendwo was zu erschnüffeln gibt, das nach Ärger riecht. So wie jetzt. Vielleicht bin ich zu einem Magneten geworden, der das Unheil an sich zieht.

Seine schwarzen Augen bohren sich durchdringend in meine. Mir ist nicht wohl dabei, er hat mich oft gedemütigt und als Besserwisserin beschimpft. Außerdem bin ich unter meinem Morgenmantel nur leicht bekleidet, drängt sich mir ein panischer Gedanke auf. Ich fühle mich auf einen Schlag splitterfasernackt, was nur damit einhergehen kann, dass er ohne große Mühe meinen Geist durchleuchten könnte, um mir peinliche Details über mein Leben abseits des Klassenzimmers zu entlocken.

„Kommen Sie mit, Miss Granger. Es gibt etwas, das Sie sehen sollten."

Er sagt es wie nebenbei, ein gekonnter Ausdruck seiner unverwechselbaren Stimme, und ich folge ihm widerspruchslos. Nicht weil ich ihm blind vertraue oder verzweifelt darauf hoffe, dass er meine Fragen beantworten wird, sondern weil ich keine andere Wahl habe, wenn ich mir keinen Ärger mit ihm einhandeln will.

Wir gehen schweigend zurück in den Krankenflügel. Dort, abgeschirmt in einem Nebenraum, herrscht reges Treiben. Lehrer und Schüler stehen dicht gedrängt beieinander um ein Bett. Unbemerkt betreten wir das Zimmer, als Snape plötzlich nach meinem Arm greift und mir etwas zuraunt.

„Diggory wurde ermordet und Black ist ebenfalls tot. Sie eifern ihnen doch nicht etwa nach?"

Seine schmalen Lippen bewegen sich kaum, wenn er spricht. Ich mache mir keine Illusion, dass das, was er von sich gibt, ein Scherz sein könnte.

Mein Professor ist zum jetzigen Zeitpunkt siebenunddreißig Jahre alt und alles andere als eine Augenweide. Ich verabscheue ihn aber nicht deshalb, sondern weil er kalt und grausam ist. Er hat Dinge gesehen und erlebt, die ich mir nicht einmal vorstellen mag. Das hat seinen Grund: als ehemaliger Todesser weiß er natürlich, wovon er spricht, auch dann, wenn es mir missfallen mag. Er ist nicht zu durchschauen, trotzdem genießt er scheinbar uneingeschränkt Dumbledores Rückhalt. Ich weiß manchmal nicht, ob ich dem trauen kann, weshalb Harry und ich auch immer wieder aneinandergeraten. Aber ich sollte mir wohl nichts vormachen. Wir sind alle Narren, blind und hilflos ohne jemanden, der heimlich in Voldemorts Reihen schlüpft.

Snapes lange dünne Finger graben sich unsanft durch meine spärliche Kleidung hindurch in mein Fleisch.

„Gehen Sie mir bitte aus dem Weg, Professor", höre ich mich sagen. Es ist unklug sich gegen ihn aufzulehnen, aber meine Nerven liegen blank, solange ich nicht weiß, wer auf diesem Bett liegt.

Er murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann, und fletscht von einem zischenden Laut begleitet die gelben Zähne. Dann lässt er ruckartig von mir ab und gleitet an mir vorbei zu den anderen Lehrern hinüber. Fast tut es weh, ihn gehen zu lassen, aber eben nur fast. Ich hätte mich zu gern bei ihm für die Abdrücke seiner Finger auf meinem Arm revanchiert, die zweifellos dort zurückgeblieben sind, doch der Zeitpunkt kommt ungelegen. Es wäre ein Fehler, ihn noch mehr zu reizen, denn ob er noch so etwas wie eine Seele besitzt, die ihn davon abhält, mich hier und jetzt zu meucheln, ist fraglich.

Zerstreut stolpere ich nach vorn, ohne so recht zu wissen, was mir bevorsteht. Was zum Teufel habe ich überhaupt erwartet, als ich mich vor einigen Jahren entschloss, Harrys Freundschaft anzunehmen?

Vor mir auf dem Bett liegt aufgebahrt der leblose Körper eines Mädchens aus Hufflepuff, das Gesicht bleich, die Augen starr und leer an die Zimmerdecke gerichtet. In ihrer Brust klafft ein Loch. Für sie kam jede Hilfe zu spät, wohingegen ich riesiges Glück hatte, dass Snape so schnell zur Stelle war …

Ich weiß es wieder. Aus welchem Grund auch immer hat er sich zuerst um mich gekümmert, sonst läge ich jetzt dort. Ihre Schuluniform mit dem Wappen von Hogwarts darauf ist ganz zerknittert und mit Blut befleckt. Ich würde sie gern glätten, traue mich aber nicht, ihr zu nahe zu treten. Ich weiß ja nicht mal ihren Namen, da ich sie kaum kannte.

Meine Knie zittern. Es fällt mir schwer, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Was soll ich überhaupt empfinden? Ihr Tod ist so sinnlos, dass ich es nicht zu einem klaren Gedanken ausformulieren, geschweige denn, in Worte fassen kann.

Erst jetzt merke ich, dass Harry und Draco fehlen. Dafür macht sich Dumbledore ans Werk. Leise spricht er mit Madam Pomfrey und Professor Sprout, deren Augen ähnlich den meinen gerötet sind und feucht glänzen. Ein paar Hufflepuffs sind anwesend, in tiefe Trauer versunken. Ich sehe ihnen eine Weile wie paralysiert zu. Die Stimme meines Schulleiters im Hintergrund zu hören, überschattet mich mit grenzenloser Wut. Es kommt mir vor, als würde ich im Geiste Cedrics leblosen Körper nochmal ansehen, seiner Beerdigung ein zweites Mal beiwohnen müssen. Ist das der Grund für unsere Zusammenkunft? Was wird Dumbledore tun, um uns wieder zu einen?

Betroffen wende ich den Blick ab. Fragen über Fragen tummeln sich in meinem Kopf. Warum hat Snape sich für mich entschieden? Und warum hat er mich hier hergebracht? Um mich zu demütigen? Wer genau ist dieses Mädchen und wo sind ihre Angehörigen? Ich ahne, dass sie vielleicht von Muggeln abstammen könnte, genau wie ich – hat Dracos Fluch sie etwa mit Absicht getroffen?

Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Ich rede mir ein, dass es nicht seine Schuld ist, sondern Voldemorts, der uns alle entzweit. Draco war schon immer wie besessen von ihm und seinen Ansichten.

Mein Puls rast schneller, ich will nichts als weg von hier. Doch die Blicke der Lehrer gleiten vorsichtig in meine Richtung. Sie sehen mich an, mitleidig, um Worte verlegen, als würden sie mir damit zu bedeuten geben, dass ich die Nächste bin. Aber das bilde ich mir natürlich nur ein. Ohnehin sind mir ihre Reaktionen gleich. Nichts was sie sagen könnten, hätte einen Einfluss auf meine soeben getroffene Entscheidung. Ich werde Harry nicht fallenlassen. Er braucht mich mehr denn je.

Der Einzige im Raum, der mich nicht mit diesen schiefen Blicken belegt, ist Snape. Sein Gesicht bleibt ohne jegliche Emotion und auch als ich ihn ansehe, verzieht er keine Miene und hält mir eisern stand. Es ist ein Wunder, wie er es damit schafft, mich abzulenken. Was könnte ihn nur dazu gebracht haben, mich zu retten, obwohl er mich nie ausstehen konnte?

Dann öffnet sich sein Mund und er spricht, leise, gekonnt.

„Wir sollten den Kindern die Gelegenheit geben, von ihr Abschied zu nehmen. Derweil bedarf es einiger Überlegungen bezüglich des weiteren Vorgehens."

„Sicher, Severus. Gehen wir."

Fast kommt mir ein Schnauben aus: Snape schert sich einen Dreck um uns Kinder. Er will uns nur los haben und mit seinem Vorgesetzten reden, bevor der Zaubereiminister eintrifft.

Der Schulleiter hebt seinen Arm und legt ihn auf Snapes Schulter, der (bilde ich es mir nur wieder ein?) darunter leicht zusammenzuckt, als würde Dumbledore ihn obgleich seiner schmalen Figur mit unendlicher Last beladen. Es ist eine ungewohnte Situation, die beiden Professoren so zu sehen. Snape, Hauslehrer von Slytherin und Dracos größter Fan, ist hier, während Professor McGonagall bereits mit Harry und Draco die bevorstehenden Konsequenzen aushandelt. Bald wird es hier nur so vor Fremden wimmeln, die ihre Nasen in die Angelegenheiten von Hogwarts stecken, um die Hintergründe für den Zwischenfall zu erforschen. Gefolgt von Dracos Eltern, die so vermögend und einflussreich sind, dass sie sich aus jeder noch so ausweglosen Lage freikaufen können. Und was wird mit Harry geschehen?

Eine Weile sehe ich den Lehrern nach und Snapes Worte, besonders die Betonung darauf, dass wir noch Kinder wären, hängen ihnen nach. In mir macht sich ein Gefühl des Unbehagens breit. Haben die nicht bemerkt, dass wir längst aufgehört haben, Kinder zu sein? Wir befinden uns in einer Welt, die von Dunkelheit bedroht ist. Ein Wandel, der viel zu schnell vonstatten geht und es uns nicht erlaubt, stehenzubleiben oder zu lange im Schutz der Jugend zu verweilen.