Kapitel 2

Seitenstraßen würden sie nicht so weit bringen, wie sie kommen musste. Nachdem sie eine gute Meile parallel zur Hauptstraße gegangen war und die verlassenen Häuser um sie herum sich zu lichten begannen, hatte sie ohnehin keine Wahl als der Hauptstraße zu folgen, wenn sie nicht auf denkbar ungeeigneten Schuhen über verwilderte Felder gehen wollte.

Gina zog den Schultergurt der Tasche enger, sodass der Stoff näher an ihrem Rücken anlag, dann schritt sie weiter aus. Es war mittlerweile fast dunkel und sie folgte dem Weg, der sie vor ein paar Stunden in die Stadt gebracht hatte. Nein. Nicht vor ein paar Stunden. Es musste länger her sein. Die Schatten, die ihr Körper warf, die eisige Luft, und vor allem die vollkommene Ausgestorbenheit des Städtchens verrieten ihr, dass Monate, vielleicht sogar Jahre vergangen sein mussten. Sie konnte nur hoffen, dass sie wirklich auf jemand anderen stoßen würde. Der Gedanke, der sich langsam in ihrem Hinterkopf zu formen begann, dass sie vielleicht auch nach fünfhundert Meilen auf niemand anderen stoßen würde, war zu unerträglich um ihm weiter nachzuhängen. Außerdem war er vermutlich abwegig. Irgendjemand, oder irgendetwas hatte sie hierher gebracht, so viel stand fest. Also musste es jemanden geben, auch wenn sie vermutlich jahrelang nach dem Grund suchen musste. In diesem Moment konnte sie nur hoffen, dass die Schwester, nach der sie jahrelang gesucht hatte, nicht auch verschwunden war. Dass sie nicht zu den Opfern der Vorfälle dieser Stadt zählte.

Stunden vergingen. Die Dunkelheit umhüllte sie bereits seit geraumer Zeit und kein Auto kam ihr entgegen, keine Menschenseele ließ sich blicken. Ihre Füße schmerzten und die Temperatur war noch im einige Grad gefallen. Der volle Mond schien auf sie herab und nichts wünschte Gina sich bei dem Anblick sehnlicher als eine Pistole mit Silberkugeln. Dabei gab es hier sicherlich weit und breit keine Monster, das sie damit hätte zur Strecke bringen können. Kein Monster verursachte diese Art von Verwüstung... kein Monster außer Dämonen oder Menschen. Nichts gab es hier. Nichts und niemanden. In der Entfernung sah sie etwas Reflektierendes, doch es dauerte noch einige Minuten, ehe sie es wirklich erkannte. Eine Absperrung, die den entgegen kommenden Wagen eine Umleitung über eine andere Kreuzung zeigte. Crawford, Colorado war vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Warum, das konnte sie nicht sagen. Es würde auch nichts bringen hier herum zu stehen und darüber nachzudenken. Ihre Füße würden es ihr sicherlich nicht danken, aber hier stehen zu bleiben, allein und im Dunkeln, war sicherlich keine gute Idee. Früher oder später musste sie an einem Motel vorbei kommen.

Schnell wandte sie sich von dem Schild, das die Umleitung über einen kleinen Bergpass beschrieb, ab, und ging weiter die Straße entlang. Und dann, nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, in der sie den Durst zu spüren begann, den Hunger, ihre Zehen taub wurden, sah sie die Scheinwerfer eines Wagens auf sich zukommen. Gina warf einen Blick auf die schmale Armbanduhr, der sie vertrauen musste weil sie sonst keinerlei Anhaltspunkt zur Zeitmessung hatte. Es war ein Uhr nachts. Wie lange war sie unterwegs? Stunden. Sie hatte sich nur hin und wieder eine kurze Pause am Straßenrand gegönnt, doch seit es dunkel geworden war, hatte etwas sie immer weiter voran getrieben. Bei dieser Kälte einzuschlafen durfte sie nicht riskieren. Und sie wusste auch: der Fahrer des Wagens hatte sie längst gesehen. Das Rot des Mantels hatte sie schon lange verraten. Es machte also keinen Sinn sich in die Büsche zu schlagen. Sie musste weiter gehen und riskieren was immer in dem Wagen auf sie wartete. Wenn der Fahrer anhielt.

Immer näher kam der Wagen. Ein dunkelbrauner Jeep, in dessen Innerem Gina nichts und niemanden erkennen konnte. Sie blieb stehen. Der Wagen würde auf sie zukommen und vermutlich war er in dieser Nacht, auf dieser verlassenen Straße das einzige, das ihr entgegen kommen würde. Wieder schloss sich ihre Hand um den Griff der Klinge in der eingenähten Tasche ihres Mantels. So unauffällig es ging. Es sollte aussehen, als schütze sie ihren Körper vor der eisigen Kälte.

Der Jeep näherte sich ihr und wie erwartet hielt er an. Gina rechnete fast damit, dass das Fenster herunter gelassen wurde, hoffte, dass es passieren würde. Doch natürlich nicht. Unbewusst trat sie einen Schritt zurück, als die Tür sich öffnete und sie das Gesicht des Mannes vor sich sah. Helle Augen, ein dezenter Bart. Braunes Haar. Nichts unauffälliges, doch sie hatte lange gelernt nicht mehr auf das Aussehen ihres Gegenübers zu vertrauen.

„Hi", sagte er, als er ausstieg ohne den Blick von ihr zu lösen. „Panne?"

Gina räusperte sich. Ihre Stimme schien eingerostet, hatte sie sie doch seit Stunden nicht benutzt. „So in etwa", sagte sie leise.

Der Mann hob die Brauen, eine Hand auf die Tür seines Jeeps gelegt. „Wo steht denn Ihr Wagen, Miss, vielleicht kann ich Ihnen helfen?"

Gina schluckte trocken. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie von einen Augenblick auf den nächsten Jahre ihres Lebens hinter sich gelassen hatte? Dass sie einen Dämon vermutete, oder sonst etwas, das ihr einen Teil ihrer Zeit auf Erden gestohlen hatte? Sie schüttelte den Kopf. „Können Sie mich mit in die nächste Stadt nehmen?"

Der Blick des Mannes wurde kühl und Gina spürte, dass sie das bisschen Vertrauen, das er ihr vielleicht entgegen gebracht hätte, verloren hatte. „Die nächste Stadt ist seit zwei Jahren menschenleer." Er bewegte sich blitzschnell und Gina wusste, was als nächstes geschehen würde. Instinktiv wehrte sie den Schlag mit einem Ellbogen ab, zog den Dolch und sprang zur Seite, als ein Messer haarscharf an ihrem Gesicht vorbei flog. Im nächsten Moment spürte sie kalte Nässe auf ihrer Stirn und wusste genau mit wem sie es zu tun hatte. Ein Jäger. Weihwasser. Gina hielt inne und ließ zu, dass er sie mit seinem Körper gegen die Motorhaube presste, wehrte sich nicht gegen den Druck seines Ellbogen gegen ihre Kehle, als er ihren Oberkörper zurück bog und seine grauen Augen ihre zu durchbohren schienen. Schwer atmend war er über ihr und sie wehrte sich nicht, weil sie ahnte, dass sie mit ihm wenigstens eine Chance bekommen hatte.

„Du bist Jäger...", brachte sie hervor. Er hob eine Braue, sah auf den Dolch den sie hielt, dann zückte er ein kleines, teuflisch scharf aussehendes Messer, dass er ihr in die freie Hand drückte. Dann trat er einen Schritt zurück, zog eine Pistole aus dem Bund seiner Hose und Gina ahnte, dass sie mit Silberkugeln geladen war. „Die Machete im Seitenfach der Tür?", mutmaßte sie und er hob die Schultern.

Gina seufzte. Dieses Ritual immerhin kannte sie. Sie legte ihren Dolch auf die Haube des Wagens, hob die Hand und ritzte die Haut kurz an. Ein kleines Blutrinnsal begann sofort ins Innere ihres Ärmels zu laufen. Ihn schien es zu beruhigen. Fragend sah sie ihn an, dann reichte sie ihm das kleine Messer, Griff zuerst. Er nickte und steckte das Messer ein. Er hatte es zuvor ohne Probleme berühren können und tat es jetzt ebenso. Vor ihr hätte er ohnehin nichts zu beweisen.

„Also doch nicht ganz so harmlos...", murmelte er und nickte in Richtung des Dolches, den Gina wieder einsteckte. Sie hob die Schultern und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. Für den Moment war sie nur am windstillen Inneren des Wagens interessiert, auch wenn sie ahnte dass es keine gute Idee war zu dem Fremden ins Auto zu steigen. Offensichtlich sah er das ebenso. Er traute ihr nicht. Wie auch. Sie selbst traute sich nicht.

„Wie kommst du hierher? Die Straße hinunter ist nichts."

Gina schnaubte. „Wenn ich es wüsste, würde es an der Situation nichts ändern", gab sie zurück und es klang schnippischer als es gemeint war.

Er schüttelte den Kopf, zögerte noch einen Moment, dann streckte er ihr die Hand entgegen. „Daniel McNeely."

Gina zögerte ebenso lange wie er, ehe sie seine Hand nahm. Sein Griff war fest, seine Haut angenehm warm. „Gina Winter."

„Also, Miss Winter", begann der Mann ihr gegenüber als er ihre Hand losgelassen hatte. Gina hob eine Braue, ließ die förmliche Anrede aber unkommentiert. „Du kannst gerne mitfahren, dafür musst du aber ein paar Bedingungen erfüllen. Wenn es dir nicht passt, lasse ich dich hier stehen."

Gina schnaubte und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. Für einen Moment zog sie in Erwägung zu versuchen diesen Daniel McNeely außer Gefecht zu setzen, doch zum einen wäre es unfair gewesen, denn er hatte sie losgelassen, und zum anderen war sie ihm kräftemäßig sicherlich unterlegen und würde auf den Überraschungsmoment sicherlich nicht setzen können, da er sie mehr als nur aufmerksam musterte. „Welche?"

Daniel nickte. Offensichtlich konnte er ihrem Gedankengang folgen. „Ich arbeite mit ein paar anderen zusammen", erklärte er. „Da bringe ich dich hin. Sie werden dir Fragen stellen, aber wenn du nichts zu verbergen hast, wird das kein Problem sein. Ich kenne dich nicht, also kommst du auf den Rücksitz und ich verbinde dir die Hände."

Gina schluckte schwer und wusste, dass sie keine Wahl hatte. Hier, ohne Wagen, ohne Ausrüstung und ohne Geld würde sie nicht weiter kommen. Sie nickte. „Was ist hier passiert?", fragte sie vorsichtig, als Daniel auf sie zukam und sie streckte automatisch die Arme aus. Sie wusste was kommen würde, und auch dagegen sträubte sie sich nicht. Sie hatte genug Jäger getroffen um das Misstrauen zu verstehen, spürte sie es doch selbst. Daniels Hände, die über ihren Körper fuhren und sie abtasteten, waren nicht aufdringlich. Offensichtlich hatte er es schon öfter gemacht. Ein ehemaliger Cop?

„Keine Ahnung. Eine Explosion? So heißt es jedenfalls offiziell. Eine Epidemie? Keine Ahnung. Irgendetwas, das alle Einwohner vertrieben hat. Ist etwa zwei Jahre her. Etwas außerhalb steht ein verlassenes Haus, da haben wir unsere Basis und patrouillieren ab und zu noch herum. Dämonen sind auf jeden Fall keine Seltenheit." Er zog die Pfundnoten aus ihrer Jackentasche, nahm ihr das Messer ab, das sie in dem Café erbeutet hatte und steckte es, zusammen mit dem Dolch, in ihre Tasche. „Wo hast du den her?", fragte er.

„War bei mir", sagte sie knapp, die Arme wieder vor der Brust verschränkt und unsicher wie viel sie ihm verraten konnte, ohne dass er ihr eine Kugel durch den Kopf jagte. Andererseits: wie würde es vor den anderen Mitgliedern seiner Gruppe aussehen, wenn er sie schon jetzt als Verdächtige vorstellte. Die Umstände ihres Aufkreuzens auf diesem Highway waren ominös genug. „Ich habe keine Ahnung, was mit mir passiert ist", fügte sie hinzu. „Im einen Moment war ich in der Stadt, stieg aus dem Auto aus, im nächsten Moment war ich alleine und... na ja. Alles war anders." Sie hatte die Augen nicht eine Sekunde von Daniel abgewandt, hatte beobachtet, wie er ihre Tasche durchsuchte und nichts als ihre Kleidungsstücke fand. Jetzt hielt er inne und erwiderte ihren Blick. Ein Blick, von dem ihr angst und bange zu werden drohte. Er ging um sie herum und warf die Tasche in den Fußraum vor dem Beifahrersitz, ehe er zu ihr zurückkam, Kabelbinder in der Hand.

„Wann war das?", fragte er vorsichtig und bedeutete ihr die Hände vor ihrem Körper zusammen zu nehmen. Damit würde sie sich endgültig in seine Gewalt begeben und ihr graute davor. Dass sie allerdings keine Wahl hatte, hatte sie schon lange einsehen müssen. Also tat sie wie ihr geheißen.

Sie räusperte sich, als er nach ihren Handgelenken griff. „Im September."

Daniel hob den Blick und sah ihr wieder in die Augen. Gina spürte förmlich wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.

„2008", ergänzte sie.

Nichts, rein gar nichts regte sich im Gesicht ihres Gegenübers und das allein reichte schon aus um ihre Knie weich werden zu lassen. Die grauen Augen schienen ihr etwas sagen sie gleichzeitig ergründen zu wollen.

Ihre Stimme war heiser, als sie nachfragte. Wollte sie es wirklich wissen? Nein, sie wollte nicht. Aber sie musste. „Was?", krächzte sie.

Er hielt ihren Blick noch einen Moment fest, dann sah er auf ihre Hände hinab um den Kabelbinder festzuziehen. „Dann hast du wirklich viel verpasst, Miss Winter", sagte er nüchtern. „Wir sind derweil im Februar 2013 angekommen."