Naths Sicht…

Ich stieg mit Mühe aus dem Geländewagen aus und brauchte einige Sekunden, um wieder Gefühl in meine Beine zu kriegen, nachdem wir mehrere Stunden gefahren waren. „Mensch, in dem Auto sitzt man ja wie in einer Sardinenbüxe", stammelte ich schwer atmend. „Das kommt dir nur so vor, weil du lange Fahrten nicht mehr gewöhnt bist, Papa", sagte meine Tochter liebevoll und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Wollen wir dann?", fragte sie sanft lächelnd und hielt mir ihren Arm hin. Ich nickte noch immer schwer atmend und nahm ihre gut gemeinte Hilfe an. Es war einige Zeit her, seitdem ich das letzte Mal hier im Wald gewesen war. Wie lange genau, wusste ich nicht mehr. Ich war alt geworden. Meine einst blonden Haare waren jetzt weiß und meine Augen wurden glasig. Beim Gehen stützte mich meine Tochter. „Erzähl mir von Mama und von diesem Wald, Papa", bat Ida mich. Ich schluckte schwer. „Wir waren damals auf Klassenfahrt hier und sind dann zusammen gekommen", erzählte ich. „Deine Mutter war unglaublich. Sie trat von einem Fettnäpfchen ins nächste und wir haben uns mehr als nur einmal in den Haaren gehabt…". Ida tätschelte mir liebevoll den Arm. „Aber zum Schluss ist alles gut ausgegangen, stimmts?". Jetzt lächelte auch ich. „Ja, weil wir tolle Freunde und das Schicksal auf unserer Seite hatten". Wir gingen eine Weile schweigend und als wir schließlich an der Lichtung von damals ankamen, ließ Ida mich alleine und ging eine Weile spazieren. Ich kramte meinen Rucksack vom Rücken und holte die Urne raus. „Wir sind da, altes Mädchen. So wie du es dir gewünscht hast", flüsterte ich und drehte den Deckel offen. Von meiner Maike war nichts außer einem Häufchen Asche übrig. Ich schluckte schwer. „Na, wer wird denn gleich sentimental?", fragte mich plötzlich jemand. Neben mir stand Castiel. Aber nicht alt und grau, sondern jung und mit seinem schiefen Grinsen auf den Lippen. „Du siehst gut aus, alter Mistkerl!", stellte ich fest. Er musterte sich einmal von oben bis unten. „Ja, ich schätze, der Tod hat auch seine guten Seiten!". Er beugte sich ein Stück zur Seite und schaute kurz in die Urne. „Ihre Zeit ist also auch gekommen?". Ich nickte. Plötzlich merkte ich weitere Hände auf meinen Schultern. Es waren Rosa, Kentin und Lysander. Auch sie alle waren nicht alt, sondern sahen aus wie früher. „Jetzt bin wohl nur noch ich übrig!", stellte ich traurig fest. Rosa legte mir eine Hand auf die Wange. „Jeder muss einmal gehen. Sei froh, dass du noch Zeit hast!". Ich lächelte schwach. „Was macht ihr alle hier?". „Wir wollen uns von Maike verabschieden oder eher gesagt, sie willkommen heißen", lachte Castiel. Ich nickte allen dankbar zu und streute ihre Asche unter den Strauch mit den Elfenblumen. „Noch immer Elfenblumen?", fragte Kentin. „Immer, es waren immer Elfenblumen!", flüsterte ich. „Wir werden so lange für dich auf sie aufpassen!", versprach Lysander. Ich blinzelte eine Träne weg, als sich plötzlich Schritte näherten. „Papa, bist du fertig?". Es war Ida. „Ja, ich bin fertig, mein Schatz!". Kentin lehnte lässig gegen einen Baumstamm. „Wow, sie sieht genauso aus wie Maike, wenn nicht sogar noch besser!". „Stimmt! Wenn ich noch am Leben wäre…", grinste Castiel und lehnte sich dazu. Ich war ihm einen bösen Blick zu. „Mit wem hast du dich eigentlich unterhalten?", wurde ich von Ida unterbrochen. Ich schaute die anderen an und dann zu meiner Tochter. „Mit Freunden mein Kind, mit Freunden!". Sie warf mir einen skeptischen Blick zu, beließ es aber dabei. „Oh wie schön, du hast ihre Asche unter die Elfenblumen gestreut. Da wird sie sich aber mächtig freuen!". Die anderen Vier nickten zustimmend. „Wollen wir gehen?", fragte ich dann meine Tochter. Sie lächelte und hielt mir wieder ihren Arm hin. Als wir die Lichtung verließen, winkten mir alle Vier zu. „Wir sehen uns irgendwann wieder, Nath", rief Rosa zum Abschied und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Als ich mich ein letztes Mal umdrehte, waren sie weg. „Wir werden uns alle irgendwann wiedersehen!", flüsterte ich und verfestigte den Griff um den Arm meiner Tochter.